Bittere Familiengeschichten

Ein rasant erzählter Thriller von Andrew Gross

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was geschieht, wenn das FBI (also irgendein böser Polizist) eines Tages in das Büro eines Geschäftsmannes (sagen wir eines Goldhändlers) kommt und dieses ehrenwerte Mitglied der amerikanischen Geschäftswelt beschuldigt, in führender Position daran beteiligt gewesen zu sein, das Geld der kolumbianischen Drogenmafia gewaschen zu haben?

Der Mann fällt - die Unschuld in Person - aus allen Wolken. Immerhin gilt Benjamin Raab seit Jahrzehnten als ehrlicher und fairer Kaufmann in einem harten Geschäft, das aber ohne Vertrauen nicht funktioniert. Außerdem ist er ein leidenschaftlicher Familienmensch, der sich krumm macht, um seinen Lieben einen angemessenen Lebensstil zu ermöglichen. Das Beste ist ihm gerade gut genug. Sein ganzes Büro ist voll von Fotos der Familie, und jede freie Minute, von denen es nicht viele gibt, verbringt er mit ihr. Dass seine Versessenheit biografische Ursachen hat, ist offensichtlich, zumindest für seine Kinder, denn er hat seinen Vater früh verloren, der mit der Mutter aus Spanien zugewandert ist und sich mit harter Arbeit das erworben hat, was er heute als das Seine zählt (eine Geschichte wie aus Degenhardts "Wenn der Großvater erzählt"). Und seine Familie dankt es ihm. Die älteste Tochter - ein wenig kränkelnd - macht eine naturwissenschaftliche Karriere, die jüngere ist eine begabte Sportlerin, der Sohn - von dem man noch am wenigsten erfährt - zeigt nicht einmal die pubertätsüblichen Grausamkeiten junger Männer. Die Familie ist wohlhabend und wohlgelitten. Ein fester Bestandteil der guten Gesellschaft.

All das, der Wohlstand, die soziale Einbindung, der Status, das gesamte bisherige Leben wird binnen weniger Stunden so vollkommen zerstört, dass nichts mehr davon übrig zu bleiben scheint. Dieser rasante Zerfallsprozess macht nicht einmal vor der Familie halt, denn Frau und Kinder sind fassungslos ob der Ereignisse und Veränderungen, die über sie hinwegrollen. Und alle Schwüre des Vaters und Mannes, dass an den ganzen Anschuldigungen überhaupt nichts dran sei, können nichts daran ändern, dass die Familie ihm die Schuld gibt.

Kein Zweifel - über einen großen Teil der Romans -, dass das FBI hier jemanden zur Waffe gegen die Drogenmafia machen will, der sich nicht dagegen wehren kann. Denn: jeder hat immer irgendetwas falsch gemacht. Über die Jahre gibt es immer die eine oder andere leichtsinnige Entscheidung oder einen nicht ganz so koscheren Kontakt. Niemand, der so exponiert ist, wie Benjamin Raab, ist davor gefeit, in den Knast zu wandern. Schuld ist ein so dehnbarer Begriff.

Scheint es. Was also macht Raab? Er macht einen Deal mit dem FBI, sagt gegen seine früheren Geschäftspartner aus, kommt mit einer kurzen Strafe davon, seine Familie geht ins Zeugenschutzprogramm. Ein Jahr später ist zwar so etwas wie Normalität eingekehrt, aber der Schaden, den das FBI einmal angerichtet hat, ist nicht mehr gut zu machen.

Allerdings nimmt Andrew Gross' Thriller eine merkwürdige und überraschende Wendung. Denn der Kronzeuge verschwindet, kurz nachdem er aus der Haft entlassen wurde. Eine FBI-Beamtin wird gefoltert. Auf die älteste Tochter, die ihr normales Leben weiterleben will, wird ein Anschlag verübt. Als sie und ihre Mutter sich treffen, um endlich über die Wahrheit zu reden (welche Wahrheit?), wird die Mutter erschossen.

Die Anzeichen mehren sich, dass nichts von dem so ist, wie es früher schien, vor allem nicht, was das frühere Familienleben angeht. Ein Foto im Familienfundus ist der erste Hinweis, weitere folgen. Eine Familie wird demontiert, und das mithilfe eines völlig anderen Familienlebens, das einer völlig anderen, entgegengesetzten Moral gehorcht.

Gross' Plot funktioniert offensichtlich über einander ergänzende Modi: über die Zerstörung von allzu harmonischen Familienbildern, über die Polarität von Wertungen und über das Überschreiben eines Verhaltensmodells durch ein anderes. Dabei gehorchen beide derselben sozialen Grundfigur, der Familie. Allerdings spielt er dabei mit den verschiedenen Varianten, in denen Familie auftauchen kann, mit der attraktiven und harmonischen Wohlstandsfamilie, mit dem aggressiven und kriminellen sozialen Schutzverband, der zur Not auch seine eigenen Mitglieder opfert, um zu überleben, und mit dem Paar, das über Vertrauen und Treue gebildet und nur darüber zusammengehalten wird. Mit einiger Mühe findet sogar die moderne Patchwork-Familie ihren Ort in der Erzählstruktur. Was das angeht, ist Gross' Familienthriller äußerst konsequent bis in die feinen Verästelungen seiner Geschichte. Dabei wählt er eine Erzählweise, die die Atemlosigkeit, in der die Geschichte vorangetrieben wird, abbildet und, mehr noch, unterstützt. Das ist, sagen wir's so, bemerkenswert.


Titelbild

Andrew Gross: Blut und Lüge.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg.
Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
317 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783502100638

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