Für eine grenzüberschreitende Literaturwissenschaft

Stationen deutsch-französischer Literaturbeziehungen aus dem Blickwinkel neuester Forschungen

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es entspricht der Dialogizität von Literatur, dass ihre Stoffe, Themen und Motive über nationalstaatliche Grenzen hinweg wahrgenommen und kommuniziert werden. Gerade zwischen Deutschland und Frankreich herrscht seit dem Mittelalter ein reger literarischer Austausch, der zeigt, wie Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle lange vor der Geburt der europäischen Wirtschaftsidee geistiges Europäertum pflegten.

Der im Folgenden vorgestellte Band versammelt Vorträge von Nachwuchswissenschaftlern, die im Rahmen eines Symposiums, das 2006 in Heidelberg stattfand, dieses Wechselverhältnis beleuchteten.

Die Einführung stammt von Roman Luckscheiter, der beklagt, "dass das kulturelle Nebeneinander keinerlei Differenzdenken mehr generiert". Als Geleitwort zum Tagungsband fungiert der Essay des in Genf lehrenden Germanisten Bernhard Böschenstein, der verborgenen Verbindungslinien zwischen Rousseau und Hölderlin, George und Mallarmé, Rimbaud und Trakl nachspürt, die schließlich in Celans hermetische Lyrik münden. Verena Bartel weist den Einfluss von Marguerite Porètes Mystik auf Meister Eckharts "Liber benedictus" nach. Johannes Frey hingegen fragt nach dem Verhältnis von Erzählerbericht und Figurenrede in Chrétien de Troyes' "Yvain" und Hartmann von Aues "Iwein", während sich Misia Sophia Doms Georg Philipp Harsdörffers deutscher Übersetzung von Jean-Pierre Camus' Erzählungen widmet. Der nahezu vergessenen Dramatikerin Luise Gottsched wendet sich Bernd Blaschke zu und weist nach, wie die Suche nach ästhetischer Identität im Stück "Die Hausfranzösin" gallophobe Züge annimmt. Elsa Jaubert nimmt "Stutzer und Koketten", zwei Typen der französischen Komödie, ins Visier und expliziert ihre "produktive und kreative Assimilation". Für "Racines Geltungsverlust in der Romantik" zeichnet laut Alexander Nebrig vor allem A. W. Schlegel verantwortlich. Björn Kühnicke dokumentiert die Renaissance von Jean Racines "Athalie" in der Opernfassung von Johann Nepomuk von Poißl und Gottfried Wohlbrück ab 1817 im deutschen Musiktheater. Der Poetik der Träne in den Stücken von Corneille, Schiller und Racine gilt Claude Haas' Untersuchung. Arianna di Bella fokussiert ihrerseits den Einfluss von Madame d'Aulnoys "Contes de Fées" und "Contes nouveaux ou les Fées à la mode" auf Wielands Kunstmärchen. Jean Pauls Rolle als Rezipient von Madame de Staëls "De l'Allemagne" legt Katrin Becker anhand seiner Rezension dar. Über Landschaft und Gärten in den "Wahlverwandtschaften" und "Bouvard et Pécuchet" reflektiert Hildegard Haberl. Lea Marquart wiederum berichtet über die "Faust"-Rezeption in der französischen Dramatik des 19. Jahrhunderts. Thomas Homscheid eröffnet anhand von Döblins französischem Exil und Benns Frankophilie divergente Perspektiven auf die Kulturnation jenseits des Rheins. Marcel Krings interpretiert aufgrund von topografischen und etymologischen Substraten Celans Paris-Gedicht "La Contrescarpe". Christian van Treeck berichtet von Michel Houellebecq und seiner Rezeption in Bodo Kirchhoffs "Schundroman". Annette Kliewer nimmt in ihrem Aufsatz interregionale Literaturbeziehungen am Beispiel des Elsass in den Blick, um einmal mehr einen "Abschied von der Nationalphilologie" zu fordern. Was Ernst Robert Curtius und Max Kommerell nicht nur fachlich einander näher brachte, erfahren wir zu guter Letzt von Christian Weber.

Stagniert sowohl diesseits als auch jenseits des Rheins das Interesse, Kultur und Sprache des Nachbarlandes zu studieren, so bleibt nach der Lektüre dieses Sammelbandes zumindest ein kleiner Trost: Die von der Doxa entweder ignorierte oder in Frage gestellte Literaturwissenschaft ist schwierigsten Arbeitsbedingungen zum Trotz lebendig geblieben und beweist die ungebrochene Tradition literarischen Transfers zwischen Deutschland und Frankreich. Was man Publikationen wie dieser freilich wünschen würde, wäre ihre Einbettung in einen Diskurs, der den engen Kreis von Fachleuten sprengt.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.


Titelbild

Marcel Krings / Roman Luckscheiter (Hg.): Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2007.
287 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826036156

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