Klarheit und Schönheit als Aufgabe

Gerlind Reinshagen begleitet ihre jüdische Figur Gertrud Kolmar auf dem Weg durch die Verzweiflung

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerlind Reinshagen ist eine der großen Damen der deutschsprachigen Literatur, und das seit vielen Jahren. Als Theaterautorin der siebziger Jahre ist sie bekannt, vielleicht berühmt geworden. Seit langem Jahren aber schreibt sie vor allem Romane, Dialoge, Monologe und kürzere, teilweise dezidiert lyrische Prosatexte. In "Göttergeschichte" (2000) hat sie die Dämonen und Götter der Populärkultur miteinander streiten lassen, im letzten Rroman "Vom Feuer" (2006) - ihrem vielleicht schönsten Prosatext - wandte sie sich der Nachkriegsgeschichte zu. Nun begleitet Gerlind Reinshagen Gertrud Kolmar auf ihrem Gang zur Siegessäule. Der schmale Text, zwischen Prosa und Langgedicht changierend, begleitet die Kunstfigur Gertrud Kolmar auf ihrem Weg zum Selbstmord. Sie will Schluss machen mit den Beleidigungen und Demütigungen, Schluss machen mit einer Welt und einer Stadt, von denen sie geglaubt hatte, sie seien ihr zugetan und die sich nun, in den Kriegsjahren, in den NS-Jahren, von ihrer bösesten Seite zeigen. Die jüdische Berlinerin Kolmar sagt sich von ihrer Stadt los. Und sie sagt sich beinahe mehr von diesem Steinmeer los als von den Menschen, die es bevölkern.

Reinshagen lässt ihre Heldin teils berichten, teils nur ihre Gedanken an sich vorüberziehen. Wir wissen immer, wo auf ihrem Weg sie sich gerade befindet, und es gehen ihr Gedanken durch den Kopf, wie sie eben nur auf einem solchen letzten Gang auftauchen können. "Im letzten Zimmer, zuhaus", "Im letzten Zimmer, immer noch", "In den Straßen der Stadt", "Im Tiergarten", "Im Innern der Siegssäule ists dunkel", "Im Treppenhaus, unten, fast am Ausgang", "Auf der oberen Plattform. Zu Viktorias Füßen", "Im Treppenhaus der Siegessäule. Fast am Ausgang": die Kapitel des Textes zeigen seine Bewegung, den Ort der Person an, die ihre Gedanken schweifen lässt, bevor sie sich umzubringen gedenkt. Es ist das Tempo der Fußgängerin, das den Text prägt. Das gemächliche Tempo, die langsame Bewegungen, mit denen sie sich dem Tod nähert: Reinshagen lässt ihrer Kunstfigur Zeit, sich ihren Entschluss reiflich zu überlegen. Und sie überlegt es sich ja in der Tat. Die historische Kolmar wurde 1943 ins KZ verschleppt und starb dort. Die Kolmar Reinshagens aber sieht zwar das Ende schon vor sich und ist entschlossen, auch die letzte Distanz dazu aufzugeben, aber sie tut diesen letzten Schritt nicht. Und das, obwohl sie weiß, was auf sie zukommt, obwohl sie erlebt hat, wie ihre Welt sich immer mehr von ihr zurückgezogen hat, obwohl sie weiß, dass es wohl kein Entrinnen mehr geben wird - obwohl ihr das alles klar ist, bleibt es beim Vorhaben. Sie tritt den Rückweg an, in die Stadt, in ihr Zimmer, in dem sie ihre Zeit damit verbringt zu schreiben.

Und das ist auch das eigentlich schlagende Argument, das am Ende dazu führt, dass die imaginäre Kolmar Reinshagens wieder mit der historischen verschmelzen kann. Nicht die Liebe zum Leben oder die Angst vor dem Tod, sondern ihre Fähigkeit zu schreiben, ist der Grund. Noch hat sie eine Geschichte im Kopf, die erzählt werden muss. Noch hat sie eine Aufgabe, die andere nicht erfüllen können und die sie bis zum Ende in Atem halten wird. Es ist also das Schreiben, das den Tod aufschiebt, nichts anderes. Und solange sie noch schreiben kann, solange wird sie sich nicht töten, unabhängig davon, welches Leid aus dieser Entscheidung für sie entstehen mag.

Dass sich Gerlind Reinshagen für Gertrud Kolmar interessiert, ist schon vor längerem offensichtlich geworden, spätestens mit dem Nachwort, das Reinshagen für die Neuausgabe des Zyklus' "Welten" von Kolmar in der Edition Suhrkamp im Jahre 1999 besorgt hat. Gelassenheit und Freiheit, die aus diesen, 1937 entstandenen Texten strömen, haben Reinshagen schon damals fasziniert. In "Die Frau und die Stadt" ist das kaum anders, und diese Gelassenheit ist erstaunlich.

Denn niemand kann einen Zweifel daran haben, dass der Entschluss, sich nicht selbst umzubringen, nur eine aufschiebende Wirkung hat, bis nämlich andere kommen werden, um sie zu töten. Aber gerade mit diesem Moment erhält die fiktionale Figur jene Freiheit, die eben nicht nur Kunstfiguren haben können nämlich alle Optionen zur Verfügung zu haben - insbesondere die, eine Aufgabe zu erfüllen zu haben. Dass sich Reinshagen mit Kolmar eine jüdische Autorin für ihre Reflexionen über Leben, Schreiben und Lieben wählt, die von ihren Landsleuten ermordet worden ist, ist wohl vor allem als Referenz an die große Autorin zu verstehen, deren Stil und Ton sie bewundert hat: Klarheit und Schönheit, wie sie die kahlen Winterbäume in den Himmel schreiben.


Titelbild

Gerlind Reinshagen: Die Frau und die Stadt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
58 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419311

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