Ein Teenie wird Premier

William Pitt der Jüngere wird immer noch als genialer Staatsmann verehrt. Der ehemalige britische konservative Parteivorsitzende William Hague hat ihn in einer grandiosen Biografie gewürdigt

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Porträt des entschlossen dreinblickenden jungen Premiers an der Wand, in den Regalen viele gebundene, über hundertfünfzig Jahre alte "Punch"- Jahrgänge, über dem Kamin eine eingerahmte, überdimensionierte Kopie eines Briefes von William Pitt (1759-1806), in dem er sich zur Duellforderung des beleidigten Abgeordneten George Tierney äußert und die Details des Duells vom Sonntag (was viele Beobachter besonders empörte: Ein Duell des Premiers am Tag des Herrn!) dem 27. Mai 1798 festlegt. Hier im schmucken schneeweißen Gebäude mit den klassizistischen Säulen am Jesus Lane im Zentrum von Cambridge befindet sich der 1815 in Erinnerung an den großen Premier gegründete studentische Pitt Club. Eine der turbulentesten und spannendsten Epochen der britischen Geschichte, die Pitt "The Younger" mit viel Geschick und Energie lenkte und meisterte, ist hier so greifbar wie sonst nirgendwo.

Beim Rundgang mit dem 25jährigen englischen Autor Ivo Stourton, der während des Studiums am Corpus Christi College hier Mitglied war, wird deutlich, welchen Respekt man auch heute noch diesem längst verstorbenen Super-Politiker entgegenbringt. Pitt wurde mit 24 Jahren Premierminister, er setzte sich für die Abschaffung des Sklavenhandels ein und war als erfolgreicher Finanzstratege und Sanierer eines chronisch defizitären Haushalts erfolgreich. Er wollte die brisante Irland-Frage regeln, den Krieg mit den amerikanischen Kolonien beenden, Katholiken mehr Rechte einräumen, Korruptionsexzesse der gierigen Politkaste bekämpfen - und er hatte die französischen Expansionsgelüste nach der Revolution von 1789 sowie die kriegerischen Konflikte mit Napoleon zu bewältigen. Als unverbesserlicher Workaholic war er oft genug Premier, Finanz- und Kriegsminister in Personalunion: Pitt war ein altruistischer Generalist, der sich um alles kümmerte, allerdings auch kaum etwas delegieren konnte. Mit einem bewundernden Blick auf das Pitt-Porträt meint Stourton: "What a great man he was!" Offenbar besitzt neben dem heroischen William Pitt nur noch Winston Churchill einen vergleichbaren Nimbus.

In seinem gerade erschienenen Campus-Roman "The Nightclimbers" ("Die Nachtgänger", Droemer Verlag) hat der Eton- und Cambridge-Absolvent Ivo Stourton den elitären Pitt Club mit seinen achtzig "seriously rich" Mitgliedern als zentralen Schauplatz einer hedonistischen Studenten-Clique in Cambridge in den Mittelpunkt gestellt. Hier trifft sich das vergnügungssüchtige Quartett um Francis, den unehelichen Sohn eines vermögenden Lords, beim Champagner mit prominenten Zeitgenossen, man veranstaltet hier im Club Boxwettkämpfe für begeisterte Zocker, diniert fürstlich, verwettet kleine Vermögen und beendet das parasitär-hedonistischen Dolce Vita erst nach dem tragischen Selbstmord des orientierungslos durchs Leben driftenden Francis.

Wie Evelyn Waugh in seinem in Oxford spielenden Campus-Roman "Wiedersehen mit Brideshead" hat auch Stourton den Hedonismus einer müßiggängerischen Oberschicht genossen und thematisiert. Für den Publizisten Cyril Connolly (1903-74) war dieses Bemühen einer elitären Oxbridge-Kaste, die Adoleszenz-Phase möglichst lange auszukosten, übrigens ein entscheidendes Leitmotiv, das sich im Werk etlicher britischer Autoren niederschlug. Da William Pitt schon mit vierzehn Jahren sein Studium in Cambridge (am Pembroke College, wo eine Statue an den großen Old Boy erinnert) begann (mit siebzehn hatte er es abgeschlossen), hier starke Impulse empfing und sich während seiner gesamten politischen Laufbahn mit ehemaligen Studienfreunden umgab, die er als Berater, Minister oder hohe Beamte verpflichtet hatte, scheint auch für ihn das Connolly-Verdikt über lange und intensiv genossene Adoleszenz-Phasen zu gelten. Der sonst extrem ernste und pflichtbewusste Pitt soll im Kreis seiner ehemaligen Kommilitonen geradezu infantile Verhaltensweisen entwickelt haben: Er wollte am liebsten hoch zu Pferde über die Felder jagen, Schießübungen absolvieren, gesellige Trinkgelage genießen und sogar auf allen Vieren herumtollen.

Das Pitt-Enigma, die Höhen und Tiefen der politischen Karriere von "Honest Billy" haben William Hague, den ehemaligen Thatcher-Protegé und späteren Chef der britischen Konservativen, schon als Jugendlichen fasziniert. Denn nachdem Margaret Thatcher den 16jährigen eloquenten, vielversprechenden Hague 1977 auf dem Parteitag der britischen Konservativen nach einer beeindruckenden Rede mit den Worten "Wir stehen hier vielleicht vor einem modernen William Pitt" vorgestellt hatte, konnte er mit dem Kompliment wenig anfangen, weil er nicht wusste, wer dieser ominöse Pitt gewesen sein sollte.

Prompt begann Hague mit seinen Recherchen, die dann nach seinem Rücktritt als Parteichef in dieser Biografie resultierten. Er war 1997 zwar der jüngste Parteivorsitzende der Konservativen geworden, doch nach der desaströsen Wahlniederlage gegen Tony Blair trat er von seinem Amt zurück. Hague hatte im Wahlkampf mehrere katastrophale Fehler begangen, die einem Pitt wohl nie unterlaufen wären, wie spöttische Kritiker später konstatierten. So war seine Europa-Skepsis viel zu radikal ausgefallen, die nationalistisch gefärbten Ressentiments gegenüber Ausländern und Asylanten hatten sogar ultrakonservative Wähler verschreckt und seine anbiedernden Publicity-Stunts mit Achterbahnfahrten, bei denen er ein Baseballkäppi mit dem Aufdruck "Hague" trug, wirkten allzu peinlich und kindisch.

Der niemals aus der Rolle fallende, eher schüchterne Pitt hätte sich trotz seiner spektakulären rhetorischen Talente niemals zu derartigen albernen Show-Einlagen hinreißen lassen. Und der pragmatisch denkende Pitt war bei seiner Europa-Aversion weniger von ideologischen Vorbehalten beeinflusst als vielmehr von den unabänderlichen Sachzwängen: Für ihn hatten Sparmaßnahmen und das Ausmerzen der vom Hof Georg III. und seiner Günstlinge praktizierten gigantischen Verschwendungssucht oberste Priorität. Obendrein war dem altruistisch eingefärbten Pitt die Geldgier der britischen Verbündeten, die er im Kampf gegen Frankreich finanziell unterstützt hatte, zutiefst zuwider. Weder die Preußen noch die Österreicher schienen für die investierten britischen Unsummen besondere militärische Anstrengungen im Kampf gegen Napoleons Expansionsbestrebungen und sein militärisches Abenteurertum zu unternehmen.

Im begnadeten Rhetoriker Pitt erkennt der Oxford-Absolvent Hague auch seine eigenen Ambitionen und Talente. Wie Pitt wollte er schon früh in die Politik, außerdem ist er ein exzellenter Redner, der schon als Präsident der Oxford Union für seine souveräne Schlagfertigkeit bekannt war. In seiner Biografie wirft er einen Blick hinter die Maske des autokratischen, mitunter recht selbstherrlichen Pitt, um herauszufinden, wer dieser geniale, populäre, aber auch umstrittene, im Alter von sechsundvierzig Jahren an Gicht, Magengeschwüren und Alkoholismus verstorbene Staatsmann wirklich war. Er serviert uns zwar keinen absolut neuen oder bisher unbekannten Pitt, aber seine mit großer Sympathie geschriebene Biografie bettet ein komplexes Psychogramm in ein umfassendes historisches Panorama, das sich eigentlich fortwährend im Umbruch befand. Ohne Zweifel war der Terror der Französischen Revolutionäre und die Exekution Louis XVI. für Pitt eine Art fundamentalistisches Erweckungserlebnis, das ihn dann zur harten Gangart gegenüber einheimischen Republikanern, Meuterern, Aufständischen und radikalen Umtrieben bewog. Für ihn hatte die Revolution beinah apokalyptische Dimensionen: "Der kürzeste Weg zum Frieden ist die Wiederherstellung der Monarchie- die Französische Revolution ist die schlimmste Herausforderung, mit das Schicksal die Menschheit je konfrontiert hat".

Vater Pitt (William der Ältere, Earl of Chatham, 1708-78) konnte als Premierminister und Schatzkanzler noch große Triumphe feiern, als er während des Siebenjährigen Krieges entschlossen und mit großem organisatorischem Geschick den Aufbau einer schlagkräftigen Miliz forcierte, französische Invasionspläne vereitelte und sich den Launen und Richtlinien des auf Hannover fixierten Königs Georg II. erfolgreich widersetzte. Doch Pitt der Jüngere musste - ebenfalls als Premier und Schatzkanzler - mit fragilen Mehrheiten operieren und heikle politische Balance-Akte vollführen, um trotz leerem Staatssäckel Kriege zu finanzieren, Reformen in Angriff zu nehmen und die Konflikte in Nordamerika und in der Karibik unter Kontrolle zu bekommen.

Hinzu kam der langanhaltende Schock der Französischen Revolution und die geistige Umnachtung Georg III., die zum Zwist mit vielen Karrieristen und Parteifreunden führte, die sich auf die Seite der Regentschaftsbefürworter schlugen und Georgs Sohn, den Prince of Wales - einen notorischen Säufer, Zocker, Schürzenjäger und Geldverschwender - inthronisieren wollten. Für den peniblen, uneigennützigen Pitt, der sein Amt nie als Mittel zur Selbstbereicherung verstand und selbst lebenslang hoch verschuldet war, war der parasitäre Prinz die Inkarnation eines Lebensstils, den er zutiefst verabscheute. Daher hielt Pitt dem König die Treue, auch als dessen Heilung immer unwahrscheinlicher erschien. So kämpfte Pitt meistens an mehreren Fronten gleichzeitig: Mit den anti-monarchischen Whigs war er schon früh zerstritten, Abstimmungsniederlagen im Unterhaus ignorierte er mit stoischer Arroganz und regierte unverdrossen weiter. Mit wechselnden Bündnispartnern musste er sich gegen französische Invasionsabsichten durchsetzen, vor allem aber das aberwitzige Staatsdefizit mit neuartigen Steuermethoden in den Griff bekommen. So führte er neben einer Fensterglas-Steuer noch eine Gewürz- und Perückenpudersteuer ein, außerdem erwies er sich als Erfinder einer Einkommenssteuer auf diesem Sektor als erfolgreicher Pionier.

Als Krisenmanager war Pitt also enorm erfolgreich. War Pitt jedoch so eitel, dass er aus verletztem Stolz einige der großen Niederlagen, wie seinen Rücktritt, selbst verursachte? Georg III. hatte im engen Kreis extrem enragiert auf Pitts Reformvorschäge zugunsten der Katholiken reagiert und sich absolut kompromisslos gezeigt. Hague würdigt Pitts ebenso kompromisslose Haltung als prinzipienfest, für die jedoch die Zeit noch nicht reif gewesen sei. Aber insgeheim hatte Pitt, wie Hague suggeriert, inständig auf einen neuen Ruf zur Regierungsbildung gewartet. Während seiner zweiten Amtszeit von 1804-1806 hatte Pitt diese vorgeschlagenen Reformen jedoch nicht weiter verfolgt. Seine letzten Jahre als Premier waren ohnehin vom Alkoholismus und depressiven Schüben überlagert, so dass Pitt kaum jemals vor der Mittagszeit ansprechbar war und wichtige Entscheidungen vom ehemaligen Studienfreund und Ratgeber Henry Dundas (später Lord Melville) getroffen wurden.

Im Lauf seiner vierjährigen Recherchen studierte Hague auch Pitts umfangreiche Briefwechsel - vor allem mit seiner Mutter - die im Buch ausgiebig zitiert werden und für großen Lesegenuss sorgen. Denn sie geben Pitts Ansichten, Ängste und psychische Befindlichkeit absolut ungefiltert wider und demonstrieren, wie intensiv sich Hague in Pitts Denkweise hineinversetzt. Der Junggeselle Pitt, der offenbar, wie Hague andeutet, unterdrückte homosexuelle Neigungen hatte und die angebliche Liaison mit Lady Eleanor Eden wegen "unüberbrückbarer Gegensätze" dementierte, schrieb nicht nur regelmäßig an seine ehemaligen Studienfreunde und politischen Vertrauten, sondern berichtete auch seiner geliebten Mutter Hester über private Vorkommnisse und bemerkenswerte politische Entwicklungen - ohne Verzögerung und meistens sehr ausführlich.

Da Hague in Pitts politischer Karriere auch eigene Erfahrungen wiedererkennt, spürt man bei der Lektüre auf jeder Seite, welchen Genuss ihm das Schreiben bereitet haben muss. Und man kann gut nachvollziehen, wenn er konstatiert: "Das einzige, was ich bei der Arbeit an diesem Buch bedauerte, war dass ich irgendwann doch mal zum Ende kommen musste".

Seit der ersten großen, vierbändigen Pitt-Biografie von Philip Henry Stanhope (London, 1861) sind inzwischen sechs weitere (Archibald Rosebery 1891, John Ehrman 1969, Derek Jarrett 1974, Robin Reilly 1978, Michael Duffy 2000 und zuletzt die von William Hague) erschienen. Das opus magnum von William Hague besticht neben den Erörterungen der historischen Ereignisse mit glänzenden Exkursen eines Insiders, der einen Blick hinter die Kulissen der parlamentarischen Maschinerie wirft. Für Hague ist Pitt offenbar immer noch der geniale Bruder im Geiste, den er als souveräne Leitfigur in stürmischen Umbruch-Phasen zwar streckenweise idealisiert, insgesamt jedoch als genialen Pragmatiker und Krisenmanager mit weitsichtiger Bodenhaftung und etlichen Fehlern würdigt. Im Nachwort verweist der gescheiterte ehemalige konservative Parteichef (er ist zur Zeit konservativer Schatten-Außenminister) noch einmal auf Pitt als großes Idol, das ihn in seiner Karriere beflügeln sollte: "Mit fester Hand nagelte ich Pitts Porträt an die Wand des Schattenkabinetts. Von seinen verblüffenden jugendlichen Erfolgen inspiriert, hoffte ich - leider vergebens, wie sich herausstellte - dass ich und meine Kollegen von ihm inspiriert würden und den Sieg davon tragen würden". Extrem erfolgreich ist Hague heute auf einem anderen Sektor: Nämlich als Zeitungs-Kolumnist und vielgefragter Redner. Die Nachfrage nach seinen beliebten After-Dinner-Speeches ist nämlich so enorm, dass er in den letzten Jahren mit einer Million Pfund ( ca. 1,5 Mio Euro) Jahreseinkommen der höchstbezahlte britische Politiker wurde.

Hague ist der ideale Biograf, weil er leichtfüßig und brillant zwischen historischer Chronik, psychologischen Impressionen und politischer Analyse fluktuiert. Er kann sich in die profanen Niederungen finanzpolitischer Steuermaßnahmen begeben und einleuchtend darstellen, mit welchen einfachen, durchschlagenden Mitteln William Pitt den für Steuereinnahmen so verheerenden Tee-Schmuggel eindämmte oder wie effektiv die damals revolutionäre Einführung einer Einkommenssteuer war. Hague zeigt aber auch, welchen Stellenwert die Konflikte in Amerika während des Unabhängigkeitskrieges sowie die polemischen, langanhaltenden Diskussionen um die Abschaffung des Sklavenhandels hatten und mit welcher Konsequenz der konservativ gefärbte Pitt neben royalistischen auch progressiv-liberale Positionen vertrat. Die aktuellen Debatten über Zukunftsperspektiven und historische Vermächtnisse werden bei britischen Konservativen und Liberalen übrigens immer noch von Rückblicken und Diskussionen über William Pitt und seine Errungenschaften geprägt: War er reaktionär, liberal oder nur pragmatisch? Um 1830 kulminierte die Pitt-Verehrung noch in einem Personenkult, der den anti-revolutionären Verteidiger der Monarchie verehrte. Doch die Whig-Fraktion zeigte sich gegenüber Pitt von einer unerbittlichen Häme und Rachsucht - sie konnten ihm seinen rücksichtslosen Umgang mit den prominentesten Whigs Lord North und James Fox und die daraus resultierende lang anhaltende politische Isolation einfach nicht verzeihen.

Den ehemaligen Parteimanager Hague interessieren Fragen, die auch Pitt schon umtrieben. Wie geht man mit wechselnden Mehrheitsverhältnissen um? Welche Privilegien, Titel, Geschenke, Bestechungsversuche konnten Abgeordnete zur Meinungsänderung bewegen? Wie kamen damals, als es noch kein allgemeines Wahlrecht gab, Regierungen zustande und welche Rolle spielte dabei der König? Welchen Stellenwert hatten die mit scharfen polemischen Attacken ausgefochtenen Haushalts- und Steuerdebatten und welchen Spielraum ermöglichten sie für außenpolitische Interventionen oder innenpolitische Reformen? Wie stark unterschieden sich die Whigs und die Konservativen in ihren politischen Anschauungen? All dies kann Hague luzide und mit eindrucksvollen Details erläutern. Er hat sogar die Größe der Weinflaschen aus der damaligen Epoche untersucht, um herauszufinden, ob Pitts durchschnittlicher Portweinkonsum wirklich so exzessiv war wie von den meisten Chronisten beschrieben. Von seinem Arzt war dem kränkelnden Pitt ja empfohlen worden, täglich eine Flasche Portwein zu trinken, da der Port, wie man damals meinte, alle gefährlichen Krankheitserreger abtöten würde. Doch Pitt hatte bald einen täglichen Konsum von drei Flaschen erreicht - auch dies, meint Hague, hätte nicht unbedingt zum Exitus führen müssen, denn die Flaschen waren damals kleiner, das Glas wesentlich dicker, so dass sich die täglich konsumierte Menge Wein nach unseren Maßstäben eigentlich doch auf "nur" eine Flasche beschränkte. Bestechend sind auch seine Anmerkungen zur verkehrstechnischen Infrastruktur, den Lebensverhältnissen und Steuereinnahmen sowie zur Kommunikation am Ende des 18. Jahrhunderts: Bei der Mobilisierung der Flotte, bei Instruktionen für die Militärs in Nordamerika während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs vergingen mitunter bis zu zwölf Monate, bis der britische Adressat informiert war. Da befanden sich dann britische Fregatten in einem martialischen Gefecht mit einem Gegner, obwohl bereits Monate zuvor ein Waffenstillstand oder Friedensvertrag vereinbart war. Heute, im Zeitalter globaler Instant-Breaking-News, ein faszinierendes Detail.

Der konservative Hague beschreibt diesen großen Briten als pragmatischen Technokraten, der mehrere Konfliktherde gleichzeitig unter Kontrolle bringen musste und während der napoleonischen Kriege mit verschiedenen Bündnispartnern die französischen Hegemoniebestrebungen in Schach hielt. Nicht immer hatte Pitt dabei eine glückliche Hand: Die halbherzig operierenden Österreicher und preußischen Verbündeten verpflichtete er zwar mit exorbitanten Summen zum militärischen Beistand gegen die Franzosen, doch oft genug kassierten die Verbündeten nur die Gelder, ohne ihren Verpflichtungen nachzukommen. Auch die jahrelang anhaltende Finanzmisere, der nach der Französischen Revolution durch jahrelange Kriegsfinanzierung chronisch defizitäre Staatshaushalt, kommt uns heute, da das US-Haushaltsdefizit nach der abenteuerlichen, mit fingierten Bedrohungsszenarien begründeten Invasion im Irak immer neue Rekordhöhen erreicht, merkwürdig aktuell vor.

Am genialen, frühreifen William Pitt war eigentlich alles ungewöhnlich. Das Gespür für politische Konstellationen und den Umgang mit der Macht hatte er schon früh von seinem Vater William geerbt. Pitt Senior hatte als Schatzkanzler und Premierminister das Königreich durch alle gefährlichen Klippen während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) gesteuert. Ähnlich wie später sein Sohn hegte er eine große Abneigung gegen die Präsenz britischer Truppen auf dem europäischen Kontinent. Es schien ihm unsinnig und zu kostspielig, Truppen auf dem Kontinent zu binden, denn die britische Flotte war auf allen Weltmeeren dominierend und konnte nach seiner Ansicht feindliche Invasionspläne effizienter verhindern.

Vater Pitt war zwar Eton-Zögling gewesen, doch vom ritualisierten Drill und den fantasielosen Lehrern so frustriert, dass er zum radikalen Public-School-Gegner mutierte und seinen hochintelligenten, frühreifen und kränkelnden Sohn lieber selbst in Kooperation mit einem privaten Tutor erzog als ihn in irgendeine Paukanstalt zu schicken. Pitt Junior wurde vom Vater in Mathematik, Latein, Griechisch und Rhetorik unterrichtet und erregte schon als Kind großes Aufsehen mit seinen Kenntnissen. Er schrieb als Siebenjähriger Briefe auf Lateinisch, er konnte schon früh griechische Klassiker rezitieren, verfasste als 13-Jähriger ein politisches Theaterstück über eine Regentschaftskrise und meisterte auch schwierigste akademische Anforderungen so lässig, dass sein Tutor und späterer Freund Edward Wilson verblüfft feststellte: "William schien niemals richtig zu lernen, sondern sich alles locker Angelesene nur wieder ins Gedächtnis zurückzurufen".

Zweifellos war der oft unter Halsschmerzen leidende Sohn stark auf den berühmten Vater fixiert: "Sollte ich mit dem Rauchen anfangen, würde William sofort eine Pfeife verlangen", lautete ein ironischer Kommentar des stolzen Patriarchen, für den sein Wunderkind von seinen vier Kindern der große Trost seines Lebens war.

William Hague tendiert glücklicherweise nicht dazu, nur die bewundernde Froschperspektive früherer Biografen zu reproduzieren oder in simpler chronologischer Sequenz die wichtigsten Stationen im Leben Pitts beschreiben. Ganz gezielt konzentriert er sich auf entscheidende Weichenstellungen und Aspekte, die Leben und Werk des großen Staatsmannes prägten und fragt etwa: Was prädestinierte Pitt dazu, tatsächlich eminente Positionen einzunehmen und herausragende Leistungen zu vollbringen, wie ihm dies schon in seiner Kindheit prophezeit worden war? Drei entscheidende Faktoren hat der Biograf eruiert: Den bedeutenden familiären Polit-Clan mit bekannten und angesehenen Parlamentariern als prägendes Moment. Zweitens die zwar strenge, aber extrem effiziente Erziehung durch Vater und Tutor. Ohne die erlernten rhetorischen Fähigkeiten und seine profunde, in Cambridge erworbene Bildung wäre Pitt kein erfolgreicher Parlamentarier geworden. Und zuletzt die Gewissheit, zur elitären Politkaste zu gehören und in eine verantwortungsvolle Position hineinzuwachsen, sie verlieh Pitt später das Selbstbewusstsein, starken Gegnern und selbst dem König Paroli zu bieten.

Mit vierzehn Jahren begann William Pitt der Jüngere sein Studium in Cambridge, nach seinem Abschluss kandidierte er schon früh für einen Sitz im Unterhaus. Seinen Sitz für Hayes eroberte Pitt übrigens, ohne diesen Wahlkreis besucht zu haben: Ein gutbetuchter Mäzen hatte ihn gesponsort und der begnadete Rhetoriker Pitt hatte seine Zuhörer sofort begeistert. Später sollte Pitt mit seinen Wahlrechtsreformen diese Missstände beseitigen. Von Anfang an machte er deutlich, dass er sich nicht mit irgendwelchen untergeordneten Posten zufrieden geben würde, sondern selbst an die Hebel der Macht strebte. Da Pitt schon als Kind von einem geradezu obsessiven Erkenntnisinteresse besessen war und als Student bis spät in die Nacht hinein las und schrieb, war sein gesundheitlicher Zustand jedoch schon in jungen Jahren sehr fragil geworden. Die hedonistischen Exzesse mit den Kommilitonen konnte er sich jedenfalls nur während der Ferien gönnen.

Nachdem Pitt mehrere Angebote des Königs zur Regierungsbildung wegen allzu labiler Mehrheitsverhältnisse abgelehnt hatte, wurde er als 24-Jähriger am 19. Dezember 1783 von König Georg III. an die Spitze der Regierung berufen. Das entsetzte, irritierte und belustigte viele Zeitgenossen: "Ein Schuljunge an der Spitze des Königreichs" lautete ein gängiges Bonmot der Skeptiker, die bezweifelten, dass dieser "infantile Herkules" überhaupt länger als einige Wochen im Amt überleben würde. Doch er widerlegte sie alle und wurde einer der erfolgreichsten und populärsten Premierminister. Begeisterte Bürger hatten wiederholt seine Kutsche gestürmt, Pitt herausgezerrt und ihn jubelnd auf den Schultern durch die Straßen getragen. Achtzehn Jahre und elf Monate übte er sein Amt als Regierungschef aus: "Acht Jahre länger als Margaret Thatcher und doppelt so lange wie Herbert Henry Asquith, Harold Wilson und Winston Churchill", lautet Hagues bewundernder Kommentar. Selbst der deutsche Rekordkanzler Helmut Kohl übte sein Amt ja nicht so lange aus wie ehedem "Honest Billy".

Kein Politiker hätte zur Zeit Pitts im Traum daran gedacht, als Idealist irgendein hehres Ziel für das Land oder für die Gesellschaft zu verwirklichen, erläutert Hague die damaligen Gepflogenheiten: Es war einfach selbstverständlich, sich als Politiker in einem höheren Amt aus Staatsäckeln und üppigen Pfründen selbst zu bedienen. Der ehrliche Billy Pitt, der Titeln, monströsen Privilegien und korrupten Machenschaften eine klare Absage erteilt hatte, bildete die große Ausnahme. Er rieb sich auf im Dienst für sein Land, seine Krankheiten waren in den letzten Jahren auch psychosomatische Reaktionen auf politisch-militärische Misserfolge. Die verheerende Niederlage von Austerlitz hatte ihm schließlich ebenso das Lebenslicht ausgeblasen wie das deprimierende Bewusstsein, den expansionslüsternen Napoleon nicht definitiv in seine Schranken gewiesen zu haben. "Oh my country", soll sein schmerzerfüllter letzter Seufzer im Dezember 1806 auf dem Sterbebett gelautet haben.

Das große Faszinosum Pitt hat William Hague ebenso präzise wie einfühlsam erfasst. Seine grandiose Biografie ist zwar mit großer Sympathie geschrieben, doch er registriert auch die Gegensätze und Widersprüche dieser Ausnahmeerscheinung. Der Technokrat Pitt war zwar ein brillanter Kalkulator und hervorragender Krisenmanager, aber er hatte nicht das geringste Interesse an Kunst, Literatur oder Musik. Er umgab sich mit seinem kleinen Kreis von ehemaligen Studienfreunden und Experten, doch er war trotz seiner rednerischen Talente im größeren Kreis eher gehemmt und unwirsch. Der Historiker Holland Rose rügte zwar Pitts Verhalten als ungehobelt und "priggy", also uncharmant und nahezu arrogant. Das mag ja zutreffen. Aber wie William Hague zeigt, ist eine herausragende Persönlichkeit wie William Pitt allemal elektrisierender und segensreicher gewesen als der auf vorauseilenden Gehorsam kaprizierte Pitt-Nachfolger Henry Addington (Viscount Sidmouth, 1757-1844), der permanent überfordert war und den Charme einer grauen, gutgelaunten Maus besaß. Dass das Interesse an William Pitt in den letzten Jahren so enorm zugenommen hat, liegt sicher auch daran, dass in unserem Zeitalter tumber Mittelmäßigkeit solche charismatischen Ausnahmeerscheinungen längst zur Spezies exotischer Raritäten gehören.


Titelbild

William Hague: William Pitt The Younger. A Biography.
HarperCollins Publishers, London 2007.
652 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9780007147205

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch