Gedankengänge, Sackgassen

Marcus Brauns beklemmende Eifersuchtsstudie "Nadiana"

Von Ralf HertelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Hertel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rosenbaum, Stroheim, Nadja. Drei Namen, Koordinaten einer verhängnisvollen Dreiecksbeziehung. Auf engstem Raum sitzen sie sich gegenüber. Rosenbaum, der Ich-Erzähler, seine Freundin Nadja, mit der er in Paris war. Und Stroheim, der andere, die Bedrohung. Das Zugabteil ist eng, beinahe berühren sich die Knie, kaum kann einer dem Blick des anderen ausweichen. Ein älteres Paar blättert in französischen Zeitschriften, und die Stille ist beinahe greifbar. Wer wird ein erstes Wort wagen? "In diesem Abteil zu sitzen ist eine Verurteilung, so lang wie der Zug", denkt Rosenbaum. Es ist, als suche die Beklemmung nach einem Ventil. Rosenbaums Blase drückt. Er schiebt sich möglichst gleichgültig an Stroheim vorbei auf den Gang. Wird Nadja Stroheim berühren, während er ihr den Rücken zukehrt? Er sucht nicht die erste freie Toilette auf, als wollte er sein Schicksal herbeizwingen. Die Rückkehr: Er öffnet die Abteiltüre, kein Zeichen von Vertraulichkeit. Nadja sieht aus dem Fenster. Stroheim sagt "mit einer Stimme, die kein anderes Adjektiv als gewöhnlich verdient: Das Schlimmste an Berlin sind die Winter."

Wirklich? Sagt Stroheim das wirklich? Existiert er überhaupt, findet diese klaustrophobische Zugreise von Paris nach Berlin tatsächlich statt? Zweifel sind angebracht, dass wir das, was uns der Erzähler berichtet, für bare Münze nehmen dürfen. Schon das erste Wort von Marcus Brauns Roman macht stutzig, ist Programm: "Vermutlich treffen wir Stroheim auf der Rückfahrt." Vermutlich jedoch findet die Begegnung gar nicht statt. Sie ist genauso wenig real wie all das Folgende: Nadjas heimliche Liebe zu Stroheim, dessen Banküberfall, ihre gemeinsame Flucht, Rosenbaums Warten auf ihre Rückkehr, kurz - so wenig real wie die ganze Geschichte. Ist alles nur des Erzählers Fantasie? Einiges deutet darauf hin. Nadja taucht nie auf, solange Rosenbaum auch auf sie warten mag. Existiert sie überhaupt? Und schließlich der Name des Nebenbuhlers: Stroheim. Stroheim, das klingt wie Strohmann. Stroheim ist der Strohmann für Rosenbaums Gedanken und Phantasien. Er ist eine Puppe, deren sich der Erzähler bedient, um sein kleines Spiel der Eifersucht aufzuführen. Er ist nicht real. Vermutlich.

Man weiß vieles nicht so genau in Marcus Brauns "Nadiana". Wie schon in seinem surreal anmutenden Erstlingswerk "Delhi" erschafft der junge Autor eine Welt der Unwirklichkeit, der eigenartigen Zufälle, des nur Eingebildeten. Oft kann man Rosenbaums alliterierenden Gedankensprüngen nicht folgen: "Ich verlasse unseren Wagen, die Schleuse ist voll Fahrtgeräusch und Kälte. Stroheim lächelt, Nadja kämmt ihre nassen Haare (mmssaa). Ich frage Nadja, Stroheim, zwei Franzosen, mich selbst auf dem Weg zur Toilette, Stroheim in der Kneipe, Nadja zu Hause, mich möglicherweise bei Nadja, Stroheim am Tresen: Können Gefühle jenseits von Worten falsch sein?" Man muss nicht unbedingt darauf kommen, dass "mmssaa" einfach die Doppelkonsonanten des vorherigen Satzes wieder aufnimmt, man kann über solche Stellen auch hinweglesen. Und bei den vielen Spielereien und Anspielungen wird man es früher oder später auch tun. Damit jedoch steigt das Lesetempo: Man überfliegt die Zeilen auf der Suche nach etwas, das wirklich passiert, nach einem narrativen Halt. Man überfliegt sie mit einer Ungeduld ähnlich der des Eifersüchtigen, der auf die Heimkehr der Geliebten wartet, sich mit Zeitungslektüre ablenken will und es doch nicht kann. Man ist gefangen in diesen wirren Gedankengängen, in diesen Gedankensackgassen, wie Rosenbaum in seiner Eifersucht. Hier ist alles verquer, unausgegoren, zu viel, zu dick aufgetragen, so dass man es nicht einmal mehr wahrnimmt, wenn sich ein Satz über sechs Seiten und 155 Druckzeilen hinzieht. Eine Allegorie der Eifersucht - so müsste sie wohl sprechen. Und manchmal sagt sie dabei verblüffende, schöne Sätze: "Sie sehen aus wie aus dem Griechischen übersetzt." Oder: "Wer hat all die Angstapparate in meinem Leben aufgestellt?"

Man kann Brauns Stil manieriert nennen. Die Sätze sind oft überfrachtet mit doppelten Bedeutungen und Anspielungen. Die Bibel wird zitiert, wir begegnen Petrarcas weißer Hindin, einem Kater namens Nurejev, Schnitzlers "Reigen", Plato, den "Wahlverwandtschaften", Walt Whitman, Novalis' Blauer Blume, dem "Tod in Venedig", und Stroheim zersingt bei seinem Überfall das Glas einer Überwachungskamera wie weiland Oskar Matzerath. Und immer wieder Nabokov-Anspielungen: "Ada" wird erwähnt, unzählige Katzen streunen durch die Zeilen, vom Schachspiel ist die Rede. Man muss dieses Collagenspiel nicht mögen, aber man muss es Braun lassen, dass er erneut den Mut besessen hat, einen überaus experimentellen Roman zu schreiben. Obwohl auf 173 Seiten nichts geschieht, wird das Buch nicht langweilig. Man liest sich fest und übersieht bald, dass alles nur Imagination ist. Die wirren Vorstellungen des Erzählers werden zu einer zweiten Wirklichkeit, man ist in ihr gefangen - nicht anders als der Eifersüchtige in seinem Wahn.

Titelbild

Marcus Braun: Nadiana.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
176 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3827003563

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