"...und da ist er manchmal ganz anders"

Uwe Neumann veröffentlicht eine 1200seitige Anthologie über den Schriftsteller Uwe Johnson

Von Céline LetaweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Céline Letawe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich sind die "Johnson-Jahre" erschienen. Das unter der Ägide von Siegfried Unseld ins Leben gerufene Projekt war bereits für das Jahr 2004 angekündigt worden, zum 70. Geburtstag und 20. Todestag des mecklenburgischen Schriftstellers Uwe Johnson. Einen kleinen Vorgeschmack hatte man schon im "Johnson-Jahrbuch" bekommen können, wo der in Kapstadt lebende Germanist Uwe Neumann 1997 und 1999 unter dem Titel "Andere über mich" erste Äußerungen von Schriftstellern und Politikern über Johnson zusammengetragen hatte. Auszüge aus der geplanten Anthologie hatte Neumann dann auch im September 2005 zum Abschluss der Londoner Tagung "Uwe Johnson. So noch nicht gezeigt" vorgetragen - zur großen Freude des Publikums, das seitdem gespannt auf die Publikation wartete.

Seit Jahren sammelt Neumann Material über Johnson: Äußerungen von Schriftstellern, Verlegern, Rezensenten, Philosophen, Politikern und anderen. Damit aber nicht genug: Er hat auch mit vielen Schriftstellern Briefe gewechselt und sie um einen eigens für seine Anthologie verfassten Beitrag gebeten; über hundert Antworten auf diese Anfrage findet der Leser in dem den Band abschließenden Teil "Uwe Johnson heute" (unter anderen auch Absagen, so etwa von Maxim Biller, der nach eigenem Bekunden bei der Lektüre der "Jahrestage" über vierzig Seiten nicht hinausgekommen sei und sich rechtfertigt: "Ich respektiere die Qualen, die Uwe Johnson beim Schreiben der ,Jahrestage' hatte. Aber man muss auch meine Qualen beim Lesen der ,Jahrestage' respektieren"). Insgesamt enthalten die "Johnson-Jahre" über 1200 Beiträge von fast 600 Beiträgern. Und bei so vielen Beiträgern waren die urheberrechtlichen Fragen erwartungsgemäß eine schwierige Angelegenheit, was mit dazu geführt hat, dass die Veröffentlichung immer wieder verschoben werden musste.

Aber das Warten hat sich gelohnt. Die vielen Beiträge über Johnson, die von 1956 (Johnsons literarischen Anfängen) bis 2002 (dem Tod des Verlegers Siegfried Unseld) reichen und chronologisch nach Jahren geordnet sind, sowie die Reaktionen auf Neumanns Anfrage ermöglichen dem Leser eine äußerst differenzierte Perspektive auf den mecklenburgischen Schriftsteller und sein Werk.

Denn gleich in den ersten Beiträgen wird klar: An Johnson scheiden sich die Geister. Nach einigen eindeutig ablehnenden Reaktionen auf das Manuskript von "Ingrid Babendererde" ("Autor braucht eine Gehirnwäsche. Als Talentprobe nicht von besonderem Belang") kommt ein äußerst enthusiastisches Gutachten ("Von allen eingesandten Manuskripten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, ist dieses mit Abstand das beste"). Während der Schriftsteller in einigen Beiträgen als "Meister", ja sogar als "Genie" gelobt wird, betrachten ihn andere als "Großlangweiler", "Taugenichts" oder "anarcho-trotzkistisch-avangardistisch-pluralistisch-existenzialistischen [...] Wirrkopf". Der neue Band zeigt deutlich, dass die Reaktionen auf Johnson und sein Werk immer wieder von Faszination bis Ablehnung reichen.

Erwartungsgemäß sind in Neumanns Anthologie vor allem die Beiträge von Schriftstellern interessant, entweder weil sie einen persönlicheren Blick auf Johnson bieten oder weil sie eine kreative Auseinandersetzung mit dem Autor und seinem Werk darstellen. Diese Beiträge können dank des Personenregisters am Ende des Bandes leicht herausgefunden werden, so dass der Leser gezielt "stöbern" kann (um ein Wort des Herausgebers zu verwenden, der seine Anthologie mit Recht "ein Buch zum Nachschlagen und Stöbern" nennt). Es sind darunter viele Zeitgenossen Johnsons, wie Hannah Arendt, Max Frisch, Günter Grass oder Siegfried Unseld, aus deren Briefwechseln mit Johnson mehrere Passagen in die Anthologie aufgenommen worden sind. So zum Beispiel Unselds erstes Telegramm nach Johnsons Ankunft in der Bundesrepublik ("BEGRUESSE SIE HERZLICH. STEHE IHNEN JEDERZEIT ZUR VERFÜGUNG [...]") oder Frischs erster Brief, der den (schlechten) Anfang einer der bedeutendsten Freundschaften in Johnsons Leben darstellt:

"Verehrter Uwe Johnson,

die Begegnung mit Ihnen in Berlin, die Art, wie Sie sich verhalten haben, hat mich betroffen, beschäftigt, da ich sie nicht verstehe. [...] Sie waren öfter mein Gast in Rom; was ist zwischen uns vorgefallen? Der besoffene Abend in Frankfurt?, oder etwas Unverzeihliches? Haben Sie mir etwas zu sagen? Dann sagen Sie es. Eine Begegnung, wie diese in Berlin, noch einmal hinzunehmen, verlange ich nicht von mir.

Herzlich Ihr Frisch"

Diese spannenden Auszüge aus bereits veröffentlichten Briefwechseln dürften dem Leser Lust auf mehr machen, so dass die "Johnson-Jahre" sicherlich auch als Ansporn für weitere Lektüren fungieren werden. Neumanns Band enthält auch schöne unveröffentlichte Briefe, so zum Beispiel Martin Walsers Äußerungen über den ersten Band der "Jahrestage". Die letzten Worte von Johnsons Antwort sind vielsagend und wurden erfreulicherweise auch in der Anthologie mitgedruckt: "Ein wenig hat mich verwundert, dass du annimmst, ich hätte beim Schreiben einen Genuss gehabt. [...] Es ist aber anders, es ist Arbeit; Freude vermöchte ich nur zu melden, wenn Einer es so liest wie du es getan hast. Thank you most kindly, sir."

Bei der Lektüre entdeckt man wie gesagt auch noch andere literarische Auseinandersetzungen mit Johnson und seinem Werk: Gedichte (unter anderem die vielen Gedichte von Jürgen Becker), Parodien (wie etwa die "Beschreibung eines Schriftstellers" von Klaus Sauer oder die anonymen "Mutmaßungen über Nikolaus"), aber auch Romane, in denen Johnson als literarische Figur verewigt worden ist - als Detlevsen in Hermann Lenz' "Herbstlicht" und "Freunde", als Benedek in Ingeborg Bachmanns "Todesarten"-Projekt, als Dr. Liszt in Walsers "Brief an Lord Liszt" und als Rainer Mersjohann in "Brandung", oder als Karsten Tröger in Werner Fulds Schlüsselroman "Abstieg vom Zauberberg".

Die spannendsten Beiträge sind ohne Zweifel die vielen witzigen Anekdoten, die im Band erzählt werden. Unbedingt lesen sollte man zum Beispiel den Beitrag "Eine Ecke von Berlin", in dem der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson berichtet, wie ein von ihm verfasster deutscher Text von Hans Magnus Enzensberger, Johnson und Frisch nacheinander verbessert wurde, wobei jeder ahnungslos die Korrekturen des vorherigen Korrektoren korrigierte. Oder die Passage über die Wette, die Johnson beim Bau der Berliner Mauer mit Klaus Roehler abgeschlossen hatte: "Klaus Roehler erreichte [1976] ein Brief von Uwe Johnson, in dem dieser anfragte, wohin er einen Farbfernseher liefern sollte und welche Marke gewünscht würde. Da die Lieferung eines Farbfernsehers unter Schriftstellern ein ungewöhnlicher Akt ist, fragte Roehler an, was um Himmelswillen Johnson dazu brächte, ihm ein Gerät aufzunötigen. Postwendend schickte Johnson eine Kopie eines Wettscheins, den beide im späten August 1961 unterzeichnet hatten, Johnson wettete, in fünfzehn Jahren wäre die Berliner Mauer gefallen, Roehler wettete, daß die Mauer noch stehen bliebe. Johnson hatte den Zettel sorgsam aufgehoben. Warum die Wette um einen Farbfernseher ging, konnten beide Herren nach fünfzehn Jahren nicht mehr aufklären, aber so stand es auf dem Papier, der Farbfernseher war 1961 noch nicht auf dem Markt."

Es wären unzählige Beispiele zu nennen. Aber nicht alle Anekdoten sind erheiternd. An den Alkoholkonsum, der zu Johnsons frühem Tod im Jahre 1984 geführt hat, wird immer wieder erinnert. Mehrmals wird auch erzählt, wie der Schriftsteller seine Gäste aus seiner Wohnung "rausgeschmissen" habe. Es fällt auf, dass viele Angst vor Johnson hatten, sei es Walter Kempowski, der dies in einem Brief an Johnson thematisiert ("ich habe immer etwas ,Schiß' vor Ihnen"), Günter Kunert, der erinnernd feststellt: "Alle hatten Angst vor ihm. Auch ich", oder Hans Christoph Buch, der in seinem Tagebuch einen Alptraum erzählt, in dem Johnson die Hauptrolle spielt: "Nachts von Uwe Johnson geträumt, der auf einem Fest ein am Boden liegendes Buch (meins?) mit Fußtritten bearbeitet und die anwesenden Schriftsteller mit unflätigen Flüchen bombardiert. Johannes Sch., der den Streit zu schlichten versucht, wird von Johnson derartig angegriffen, daß er unter Tränen den Raum verläßt. Das nächste Opfer bin ich: Johnson wirft mir vor, daß mein Manuskript nur getippt, aber nicht geschrieben ist [...]."

Zu den außergewöhnlichsten Beiträgen gehören zwei graphologische Gutachten, die man offenbar nicht sehr ernst nehmen kann (sie stammen von "nicht wissenschaftlich ausgebildeten" Deutern), die aber trotzdem amüsant sind, und der Fotostrip "Dichter in Berlin", der 1965 in der literarisch-satirischen Zeitschrift "Pardon" erschienen ist und erzählt, wie Johnson bei der Suche nach einem Adjektiv Hilfe von den Kollegen und Kolleginnen in Berlin-Friedenau bekommt. Allgemein bietet Neumanns Anthologie unter anderem Einblick in das literarische Leben auf dieser in der DDR liegenden westdeutschen Insel, die bei Schriftstellern sehr beliebt war und wo Johnson bis 1974 lebte.

Die manchmal sehr langen Rezensionen dagegen laufen Gefahr, diejenigen Leser zu langweilen, die mit Blick auf die auf den Buchdeckel gedruckten Namen (mit Recht) Äußerungen von prominenten Persönlichkeiten, insbesondere Schriftstellern, erwarten. Für Johnson-Forscher können sie von Interesse sein, auch wenn es sich dabei meistens um schon Bekanntes handelt. Zu bedauern ist schließlich, dass der Status des jeweiligen Beitrages nicht immer von vornherein klar ist. Man muss nämlich oft in dem abschließenden Werkregister nachschlagen, ob es sich bei einem bestimmten Text zum Beispiel um einen Auszug aus einem Tagebuch oder aus einem fiktionalen Werk handelt, was die Lektüre erheblich erschwert. Dass der Herausgeber sich für ein abschließendes Werkregister entschieden hat und nicht zusätzlich vor bzw. nach jedem Beitrag die bibliographischen Informationen hinzufügen wollte, ist wahrscheinlich auf Platzmangel zurückzuführen.

Mit den "Johnson-Jahren" ist Neumann aber etwas Schwieriges gelungen: Er hat einen Band über Johnson geschaffen, der durch den multiperspektivistischen Blick und die sich manchmal widersprechenden Äußerungen dem rätselhaften Schriftsteller gerecht werden kann. Der Satz, den Klaus-Henning Schroeder Johnsons Rostocker Vermieterin Alice Hensan in den Mund legt, ist dafür bezeichnend: "So ist Herr Johnson, aber Sie werden ihn gewiß noch näher kennenlernen, und da ist er manchmal ganz anders".


Titelbild

Uwe Neumann (Hg.): Johnson-Jahre. Zeugnisse aus sechs Jahrzenhten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
1270 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3518415980

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