Christa Wolf bleibt sich treu - ist das gut oder schlecht?

"Hierzulande andernorts"

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zu Christa Wolfs 70. Geburtstag am 18. März 1999 gibt es ein neues Buch. Keinen Roman, sondern eine Sammlung von (zum größten Teil bereits in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichter) Kurzprosa. Wenn man nach dem Untertitel geht, dann handelt es sich um eine Fortsetzung von "Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994". Das signalisiert bereits Kontinuität, die jene enttäuschen wird, die von Christa Wolf immer noch eine großangelegte Abrechnung mit der DDR erwarten. Hingegen werden die zahlreichen Fans der Autorin auch in diesem Band das finden, was sie als besondere Vorzüge betrachten: Reflexion über sich und andere, soziales Engagement, dazu eine Sprache, die eine unmittelbare Sogwirkung entfaltet und den Leser erst mit dem letzten Satz wieder freigibt.

Blicken wir kurz zurück, um uns über die mögliche Bedeutung dieses an sich recht unscheinbaren Bändchens klar zu werden. Die Jubilarin galt als bedeutendste Autorin der DDR. Ihre Bücher wurden im Westen wegen ihres kritischen Potentials gefeiert. Die sozialistische Regierung des anderen deutschen Staates erteilte ihren Büchern manchmal nur zähneknirschend die Druckerlaubnis, verlieh ihr aber auch zahlreiche Preise. Mit "Der geteilte Himmel" wurde Christa Wolf 1963 schlagartig berühmt. "Nachdenken über Christa T." von 1968 wurde zum Roman einer ganzen Generation, für viele ist es noch heute Christa Wolfs bestes Buch. Beginnend mit Christa T. entwickelte die Autorin das Konzept der "subjektiven Authentizität", ein sperriges Wort, hinter dem sich der Versuch verbirgt, persönliche Erlebnisse und gesellschaftliche Entwicklung in der literarischen Darstellung zu verbinden, zu objektivieren und einem größeren Publikum näherzubringen. Es folgten weitere Prosatexte, unter anderem die Erzählung "Kassandra" von 1983, wohl Wolfs bekanntestes Werk. Vor der "Wende" von 1989 wurde sie als Nobelpreis-Kandidatin gehandelt.

Dann kam der Absturz. Die Publikation der schmalen Erzählung "Was bleibt" Anfang 1990 führte dazu, daß Christa Wolf im westdeutschen Feuilleton, stellvertretend für alle linken Intellektuellen, für die ostdeutsche Misere haftbar gemacht wurde. Sie habe das menschenverachtende Regime durch ihre Arbeit nicht bekämpft, sondern gestützt, lautete der Vorwurf. Ihre Bücher der 90er Jahre wurden von Starkritikern wie Marcel Reich-Ranicki oder Fritz J. Raddatz vor allem daraufhin geprüft, ob nun endlich das aus Kritikersicht längst fällige Bekenntnis eigener Fehler in der Einstellung gegenüber der DDR erfolgte.

Da Christa Wolf ihre jahrzehntelange sozialistische Überzeugung nicht über Bord werfen wollte, lediglich die Umsetzung der sozialistischen Ideale in der DDR für mangelhaft erklärte und es außerdem noch wagte, die bundesdeutsche Wirklichkeit zu kritisieren, strafte sie das Feuilleton weiter ab. Ihr letzter großer Roman "Medea. Stimmen" von 1996 wurde ihr als fehlende Bereitschaft ausgelegt, die neuen Realitäten anzuerkennen. Parallel dazu gab und gibt es aber auch Verteidiger, die auf Christa Wolfs kritisches Engagement in der DDR, auf ihre Hilfe für Dissidenten oder ihre Probleme mit der Zensur verweisen und die ihre politische Grundeinstellung, das Streben nach größtmöglicher sozialer Gerechtigkeit, als notwendiges Gegengewicht zur fortschreitenden Kapitalisierung westlicher Gesellschaften betrachten.

"Hierzulande Andernorts" entspricht den freundlich wie den feindlich gestimmten Erwartungen an die Autorin. Der Band enthält Erzählungen, autobiographische Kurztexte und Würdigungen mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten. Wie immer bei Christa Wolf gehen Fiktion und Autobiographie ineinander über. Das gilt für die andernorts, in Amerika, spielenden Erzählungen "Begegnungen Third Street" oder "Wüstenfahrt" ebenso wie für die Geschichte einer Operation "Im Stein". Weshalb der Klappentext diese als zentralen Text des Bandes heraushebt, ist nicht recht verständlich. Dieser "großartige Monolog" ist zwar durchaus gelungen und auch formal interessant, aber der Versuch, die physische und psychische Verfassung der Erzählerin bei einer Hüftoperation in Sprache zu verwandeln, steht doch wohl qualitativ nicht über der witzig-nachdenklichen "Wüstenfahrt", den Laudationes und Nachrufen (für Heinrich Böll, Lew Kopelew, Günter Grass, Günter Gaus...) und den anderen engagierten Texten zur Zeit.

An vielen Stellen ist die Auseinandersetzung der Erzählerin mit ihrer DDR-Vergangenheit erkennbar, ausgelöst durch Erlebnisse der Gegenwart. Überlegungen wie "Unser ganzes Leben kann doch nicht falsch gewesen sein" enthalten zwar das Eingeständnis des Scheiterns, doch deuten Begegnungen mit Bettlern und Bedürftigen oder Gespräche mit amerikanischen Intellektuellen auf die Schattenseiten auch marktwirtschaftlicher Gesellschaftsordnungen.

Eine Kritik der politischen Systeme will Christa Wolf nicht schreiben, wichtiger sind ihr anthropologische Voraussetzungen für die Herausbildung moderner Gesellschaftsformen. Solche Voraussetzungen reflektiert sie in "Von Kassandra zu Medea" und im letzten der zwanzig Texte, "Dünn ist die Decke der Zivilisation". Deutlicher noch als bisher expliziert die Autorin ihre Auffassung, daß das Grundübel modernen Daseins die patriarchalischen Strukturen sind. Ihr 'goldenes Zeitalter' findet sie in einem vor-biblischen, auch vor-klassischen Matriarchat, in dem die Frauen, wenn nicht über, so doch gleichberechtigt neben den Männern standen.

Vor allem der letzte Beitrag, der Schlußakkord, hat es in sich. Der Gebets-Text von Joseph Haydns "Missa in Tempore Belli" wird zitiert und kontrastiert mit Überlegungen, inwiefern die Vorstellung der unbefleckten Empfängnis Marias ein Symptom für die Ausgrenzung und Unterdrückung des weiblichen Anteils am Leben in der Gemeinschaft ist. Ebenso radikal, wenn auch konsensfähiger sind Christa Wolfs Überlegungen zu einem neuen Rechtsradikalismus und Antisemitismus in "Der geschändete Stein" und anderen Texten.

"Hierzulande Andernorts" ist ein Buch der Kontinuität, aber nicht des Stillstands. Christa Wolf zeigt hier deutlich, daß sie in der westlichen Gesellschaft, trotz aller Vorbehalte, angekommen ist. Auch ihre Sprache hat sie behutsam weiterentwickelt; sie experimentiert mit Einschüben in Kursivschrift, die einen Perspektivenwechsel signalisieren, oder mit Assoziationsketten ("Im Stein"). Und es finden sich viele wunderschöne Sätze bei dieser Autorin, die sonst mehr durch den Gesamttext als durch Sentenzen wirkt. "Durch die Liebe blüht Utopie noch einmal auf", heißt es einmal. Wem das zu pathetisch ist, der mag eher von Wolfs Fähigkeit zur Selbstanalyse angezogen werden: "Oft ist ja, was wir eindringlich beteuern, eine Abwehr gegen etwas, was uns beunruhigt, wovor wir Angst haben, was wir draußenhalten müssen." Ihr soziales Engagement dokumentieren Sätze wie: "Der Atem der Hoffnung zieht, manchmal beinahe erstickt, durch die Jahrhunderte." Hier ist sie wieder, die kämpferische Christa Wolf.

Titelbild

Christa Wolf: Hierzulande Andernorts.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999.
240 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 363086998X

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