Vom Bürgerkrieg bis Barcelona

Spotlights auf die katalanische Literatur

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mercè Rodoreda gilt vielen als die herausragende katalanische Nachkriegsschriftstellerin. Die 1908 in Barcelona geborene Schriftstellerin war bereits in den 1930er-Jahren als Autorin bekannt geworden. Der spanische Bürgerkrieg zwang sie ins Exil nach Frankreich und in die Schweiz. 1962 erschien dann ihr Roman "Auf der Plaça del Diamant", eine beeindruckende Darstellung der existenziellen Erfahrung des Bürgerkriegs. In den 1970er-Jahren kehrte die Schriftstellerin nach Katalonien zurück. Sie starb 1983.

Der Roman "Quanta, quanta guerra..." erschien 1980 als letztes Werk der Schriftstellerin. Er liegt nun in der von Angelika Maass besorgten deutschen Übersetzung vor. "Weil Krieg ist" ist kein herkömmlicher Roman mit fortlaufender Handlung. Er besteht aus 43 nahezu in sich geschlossenen Kapiteln, von denen jedes einen Entwicklungsschritt des im Mittelpunkt stehenden Helden beschreibt.

Im Zentrum steht der junge Adrià Guinart. Der 15-Jährige lebt zusammen mit seiner Mutter, die sich mühsam mit einem Nelkengeschäft den Lebensunterhalt verdient. Sein Heim empfindet er als "häusliches Gefängnis" und so folgt er schließlich bereitwillig einem Nachbarsjungen, der "seit dem Kriegsausbruch immer nur vom Krieg sprach" und ihn fragte: "Warum kommst du nicht mit?" Adrià Guinart zieht in den Krieg. Sogleich ergreift ihn die volle Wucht des Krieges. Aus einem unbestimmten Abenteuer ist ein fremdbestimmtes Schicksal geworden. Die Dynamik des Krieges treibt den Einzelgänger, der seine militärische Einheit längst verloren hat, vor sich her. Um ihn herum zerstört der Krieg Menschen und Dörfer. Doch zunehmend nimmt der Junge das Sterben, die Zerstörung und den Tod nur noch wie ferne Bilder wahr. Als könne ihm der Schrecken nichts anhaben, taumelt er weiter voran und begegnet dabei immer wieder Menschen, die ihn aufnehmen. Sie sind selbst alle kriegsgeschädigt, doch sie behaupten in all ihrer verrückten Skurilität und Absonderlichkeit einen Rest von Menschlichkeit und Anstand. Immer wieder sind sie es, die den Jungen retten. Schließlich kehrt er wieder nach Hause zurück. Nun wirkt das "häusliche Gefängnis" wieder wie eine Verheißung. "Ich würde heimkehren und das Nelkenfeld bestellen, zum Wasser, das durch die Bewässerungsrinne floß, zum Lärm der Züge in der Nacht, zum Rosenstock mit den gelben Rosen, der bis zur Dachterrasse klettert. Ich kehrte als ein anderer zurück."

Adriàs "Flucht" in den Krieg, von dem er nichts weiß, variiert das Motiv vom Aufbruch als einem Akt der Selbstfindung. Tatsächlich ist der von vagem Abenteuermut initiierte Aufbruch des naiven jungen Helden der Anfang vom Ende einer Zeit unbekümmerter Jugend und zugleich der erste Schritt zum Erwachsenwerden. Rodoredas Buch erinnert in dieser Anlage an die literarischen Vorbilder der Aufklärung, in deren deutscher Variante, dem "Bildungsroman", der Entwicklungsprozess eines jugendlichen Helden zur idealen Reife geschildert wird. Dies geschieht dadurch, dass der Held während seiner "Wanderjahre" der Welt in immer neuer Konstellation begegnet. Im Erlebnis und in der Auseinandersetzung mit der Realität erfährt er Wachstum und Reife. Diese lässt ihn schließlich die Welt anerkennen, so dass er auch seinen Platz in ihr findet.

Das aufgeklärte Ideal des Bildungsromans erfährt in Rodoredas Roman indes eine Erweiterung. Denn die Welt, in den sie den jungen Adrià entlässt, ist eine aus den Fugen geratene, in der die "Schrecken des Krieges" herrschen. Rodoreda schildert diese immer wieder in traumhaften, surrealistischen Sequenzen. Zuweilen vermischen sich die Imaginationen des Helden auch mit den realen Bildern des Kriegs. Das rückt den Krieg in eine bildhafte Ferne. Er bildet die Kulisse für die inneren Entwicklungserlebnisse des jungen Helden. In dieser kunstvoll hergestellten Konstellation entkommt schließlich Adrià der Überwältigung durch den Krieg. Diese Befreiung bedeutet zugleich den Triumph der Menschlichkeit über die Schrecken des Kriegs.

In jeder Hinsicht anders geartet ist der Roman "Tor. Das verfluchte Dorf" von Carles Porta. Es ist ein "Tatsachenroman", in dem der Autor über seine Recherchen als TV-Journalist aus dem kleinen katalanischen Pyrenäendorf Tor berichtet. Dieses nahe der Grenze zu Andorra liegende, nur 13 Häuser zählende Dorf birgt eine Geschichte, deren Ursprünge im Jahr 1896 liegen. Damals gründeten die Einwohner des Dorfes die "Gesellschaft der Miteigentümer des Berges von Tor". Mit diesem Akt wollten die Dorfbewohner verhindern, dass die wald- und weidereiche Berggegend rund um den Ort in die Hand der Gemeinde und damit in die Hoheit des Staates gelangte. Mitglied in der Gesellschaft konnte aber nur sein, wer das ganze Jahr über in Tor wohnte. Bis in die 1960er-Jahre des 20. Jahrhunderts rührte niemand an dieser Vereinbarung. Teile des Dorfes waren verfallen, kaum jemand wohnte noch das ganze Jahr über in Tor. Die Lage veranlasste einige Dorfbewohner, den Vertrag eigenwillig zu interpretieren. Es winkten lukrative Vermarktungsprofite. Die Offensive einiger Vertragsparner spaltete das Dorf. Es kam zu Todesfällen. Sie sind der Anlass für die Recherche des Fernsehteams.

Leider bringt die Recherche keine weiterführenden Ergebnisse. So bleibt man als Leser ein wenig ratlos zurück: immer erwartet man eine überraschende, letztlich spannungssteigernde Entwicklung, doch sie bleibt aus. Am Ende ist zwar der TV-Film fertig, doch weder sind die Todesfälle aufgeklärt, noch sind die Motive für die Spaltung des Dorfes aufgeklärt. Die schlichte Erzählung der Geschehnisse während der Recherche berührt nur andeutungsweise, wovon hier noch hätte erzählt werden können: von der bitteren Armut der Dorfbewohner, dem Eigensinn der Bergbevölkerung, ihrer Widerständigkeit während der Zeiten des Bürgerkriegs und der francistischen Zeit, ihrem Misstrauen gegen Obrigkeiten, von den Schmugglertraditionen oder dem Verlust von Identität durch den Ausverkauf einer Landschaft an die touristischen Bedürfnisse profitgieriger Investoren. Wahrscheinlich, so deutet der Erzähler an, hätte er diese Fragen auch gerne aufgegriffen, doch das Format eines halbstündigen TV-Films setzt enge Grenzen. Schade, dass der Schriftsteller am Ende doch nur der Fernsehjournalist bleibt.

Irgendwann führen alle Wege in Katalonien nach Barcelona. Die Metropole ist der Mittelpunkt der katalanischen Identität. Sie ist zugleich auch ihr Stolz. In ihr vereint sich mediterrane Lebenslust mit katalanischem Eigensinn zu einer einzigartigen Mischung, "einem der lebhaftesten, von innenpolitischen Konflikten gebeutelten Meltingpots Europas, dem alles nachgesagt wird: Provinzialismus, Nationalismus, Arroganz sowie Weltoffenheit, Kosmopolitismus und grenzenlose Toleranz."

So fasst Hannah Grzimek das Wesen der Stadt zusammen und erklärt damit auch die Auswahl der sieben Texte in dem von ihr herausgegebenen Band "Crossing Barcelona. Literarische Streifzüge durch die Hauptstadt Kataloniens". Die Autoren Flavia Company, Juan Trejo, Jorge Corrión, Javier Calvo, Lolita Brosch, Josan Hatero sowie Robert Jan-Cantavella repräsentieren die junge Literaturszene Barcelonas: "Ich wollte wissen, wie sie ihre Stadt sehen." Doch der von der Herausgeberin benannte Anspruch führt ein wenig in die Irre. Zwar haben die ausgewählten Autoren sich eingelassen auf den gemeinsamen Treffpunkt in Barcelona, von dem aus sie ihre Geschichten beginnen, doch führen diese alsbald über die Stadt hinaus. Tatsächlich versammelt der Band Geschichten von katalanischen jungen Autoren aus Barcelona, die aber bis auf die Entstehung in der Stadt mit ihr nichts zu tun haben. Vor dem Hintergrund solcherart enttäuschter Erwartungen verlieren die Texte schnell ihren Reiz. Übrig bleiben literarisch ambitionierte Text junger Autoren aus Barcelona. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Titelbild

Hanna Grzimek (Hg.): Crossing Barcelona. Literarische Streifzüge durch die Hauptstadt Kataloniens.
Übersetzt aus dem Spanischen von Hanna Grzimek und Sabine Giersberg.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
285 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783630621128

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Titelbild

Carles Porta: Tor. Das verfluchte Dorf. Tatsachenroman.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Charlotte Frei.
Berlin Verlag, Berlin 2007.
365 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007575

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Titelbild

Merce Rodoreda: Weil Krieg ist. Roman.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Angelika Maass.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
175 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419274

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