Der Entfesselungskünstler

Heinz Schlaffer erklärt die andauernde Faszination von Friedrich Nietzsches furiosem Stil

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat noch Angst vor Friedrich Nietzsche? Heinz Schlaffer jedenfalls nicht. "Warum fasziniert Nietzsches furioser Stil selbst den Leser noch, der gegen Nietzsches verstiegene und kompromittierte Ideen immun geworden ist?", fragt der Stuttgarter Germanist. Und macht sich an eine akribische Analyse jener Sprache, die einst so revolutionär und infektiös war, dass sie eine ganze Epoche prägte. Anhand einer kurzen, eher peripheren Textstelle aus "Der Fall Wagner" arbeitet Schlaffer scharfsichtig - oder besser gesagt - hellhörig Merkmale und Besonderheiten von Nietzsches Schreibweise heraus. Inklusive der von ihnen evozierten, meist gar nicht bewusst werdenden Wirkungen auf den Leser.

Seinem Freund Erwin Rohde verkündete Nietzsche einmal, mit dem "Zarathustra" "die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben [...]. Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale." In seiner umstrittenen "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" (2002) hatte Schlaffer diesen Tanz und seine Folgen für die Literatur der Moderne noch mit Nichtachtung gestraft. Jetzt heißt es: Nietzsche "lieferte die Ideen, Schlagworte und Stilgebärden, die zwei, drei Generationen in die euphorische Bereitschaft zur Katastrophe versetzten". Ernst Jünger hätte darin wohl einen neuen Versuch gesehen, den Seismografen fürs Erdbeben verantwortlich zu machen.

Mit seinen Schriften, so Schlaffer weiter, habe Nietzsche die Grenze zur Tat überschreiten wollen, was seine Nachfolger verwirklichten: "Nietzsche begründete die Epoche des entfesselten Worts in der deutschen Prosa und - eine Folge dieser Entfesselung - in der deutschen Geschichte." Wie sehr Nietzsches Sprach- und Denkstil nach 1900 imitiert wurden, welche Karriere seine Motive wie die Sehnsucht nach der "Tat" oder einem "Führer" machten, belegt Schlaffer anhand von Textstellen einschlägig Verdächtiger wie Gottfried Benn, Alfred Rosenberg oder Vertretern des George-Kreises. Seit 1945 sei Nietzsches fatale Wirkung zu Ende. Seither lasse sich von seinen Werken, außer einem Häuflein französischer Dekonstruktivisten, niemand mehr irritieren, behauptet Schlaffer, die Vielfalt der Nietzsche-Renaissance der letzten Jahrzehnte ignorierend.

In seiner Stilanalyse läuft der Philologe, der sich selbst eines sympathisch sachlichen, eleganten Stils bedient, zur Hochform auf. Dabei erweist er sich als ein solch "langsamer Leser", wie ihn sich zumindest der mittlere Nietzsche gewünscht hat: In der "Morgenröthe" wollte er "tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offengelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen" gelesen werden. Mit Nietzsche, so Schlaffer, wurde erstmals Zweckprosa mit den Mitteln der Poesie und Musik aufgeladen. Die Form stellt sich vor den Inhalt, um nicht den Verstand, sondern das Gefühl, ja sogar den Körper des Lesers zu erreichen. Bereits die exzessiv eingesetzte Interpunktion arbeitet den Text zum Notenblatt um, ahmt Mündlichkeit nach, erzeugt den Eindruck eines gegenwärtigen Sprechers aus dem Jenseits, eines Mystagogen, ausgestattet mit einem uneinholbaren Wissensvorsprung und mit Führungsqualitäten, denen sich der Leser, dem der Text die Rolle des Schülers und Neophyten zuweist, anvertrauen darf. "Rhythmus, Klang, Bildlichkeit, von Hause aus Mittel der poetischen Sprache, lösen in der zweckgerichteten Prosa vorher unbekannte Reaktionen aus: Erstaunen, Faszination, intensive und identifikatorische Lektüre, Wiederholung und Einprägung durch auswendig gelernte Zitate, euphorische Weitergabe an andere."

Nietzsche ging es primär um Wirkung. Seine Schriften sollten in Fleisch und Blut seiner Leser übergehen, körperlich-physische Ekstasen auslösen. Ob seine Fassade erregender Formen eher banale Inhalte verkleidet, wie Schlaffer meint, sei dahingestellt. Auch gehört "Der Fall Wagner" zum späten, deutlich vom einsetzenden Größenwahn geprägten Werk Nietzsches. Wenig überzeugend ist Schlaffers Versuch, in Nietzsche einen Verteidiger der von der "Zahlenwelt" bedrohten "Wortwelt" zu sehen. Schlaffer beschreibt diesen problematischen Gegensatz - Fantasie und Literatur versus Naturwissenschaft, Ökonomie, Demokratie - als einen seit der Romantik fortlebenden deutschen Topos -, um ihn dann selbst fortzuschreiben: Für Schlaffer ist das Ende des Kommunismus gleichbedeutend mit dem "endgültigen Sieg der Zahl über das Wort", was der Germanist offenbar mit ambivalenten Gefühlen zur Kenntnis nimmt. Ohne Nietzsches Leistung jedenfalls hätte sich die Wortwelt "nicht so lange, so großartig und mit so katastrophalen Folgen gegen die Zahlenwelt behaupten können." Seltsam: Nietzsche mag Handel und Demokratie verachtet haben, aber auch Naturwissenschaften und Mathematik? Das wäre neu.


Titelbild

Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446209466

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