"Die Kritik ist tot"
Von Bauchrednern, Zirkulationsagenten und bürgerlichen Großkritikern: Über die deutschsprachige Literaturkritik der 1960er Jahre
Von Oliver Pfohlmann
I. Die 1960er: Von der Hausse...
Am Maßstab von Umfang und Publikumsinteresse gemessen, erlebte die Literaturkritik in den 1960er-Jahren eine neue Blütezeit. 1963 wurden in der "Zeit", der "Süddeutschen Zeitung", der "Welt" und der "Frankfurter Allgemeinen" doppelt so viele Bücher besprochen wie noch 1950: Waren es 1950 in der "FAZ" 392 Titel, so sind es 13 Jahre später 811, davon 244 belletristische Titel und 126 politische (vgl. Peter Glotz, Buchkritik in deutschen Zeitungen, Hamburg 1968).
Fand die Literaturkritik der "FAZ" zunächst nur auf der samstäglichen Literaturseite statt, so ab 1966 unter der Überschrift "Büchertagebuch" auch im täglichen Feuilleton. Mit dieser Neuerung, die der Kritik zu neuer Aktualität verhelfen sollte, reagierte die Zeitung auf die neue Literaturbeilage der "Welt", die "Welt der Literatur". Konzipiert als deutsches Pendant zum "Times Literary Supplement", erschien letztere seit 1964 alle zwei Wochen und bescherte der "Welt" vorübergehend die größte Besprechungskapazität unter den westdeutschen Tageszeitungen. Auch die Wochenzeitschrift "Der Spiegel" richtete 1964 einen festen Platz für die Kritik ein.
Mit immer umfangreicher werdenden Literaturbeilagen, die zur Frankfurter Buchmesse, an Ostern und vor Weihnachten erschienen, vergrößerte sich nach 1960 in den Feuilletons der überregionalen Presse zunehmend der Platz für die Kritik belletristischer Novitäten. Doch wurden in dieser Zeit auch in vielen der nur regional verbreiteten Zeitungen ("Stuttgarter Zeitung", "Schwäbische Zeitung" und andere) regelmäßige Buchseiten eingerichtet. 1967 gab die "FAZ" sogar eine von nun an Jahr für Jahr erscheinende Sammlung ausgewählter Rezensionen heraus, auch sie wurde ein großer Publikumserfolg: Unter dem Titel "Ein Büchertagebuch" wurden auf 300 Seiten die wichtigsten Besprechungen eines Jahres dokumentiert. Dieses Jahrbuch bescherte der "FAZ" bald schon den Ruf, die "buchfreundlichste Tageszeitung Deutschlands" zu sein.
Ein Titel, den auch die Hamburger Wochenzeitung "DIE ZEIT", bekannt für ihren Liberalismus, Meinungspluralismus und ihre demokratische Streitkultur, für sich hätte beanspruchen können. "DIE ZEIT" avancierte Anfang der 1960er-Jahre zum Medium und Sprachrohr der gegenwartsorientierten Literatur. Von den konservativen Kritikern wie Friedrich Sieburg oder Günther Blöcker als "Hausorgan" der "Gruppe 47" denunziert, wurde ihr Feuilleton unter Rudolf Walter Leonhardt zum wichtigsten Forum der bundesrepublikanischen Intellektuellen. In der "ZEIT" rezensierten Dieter E. Zimmer, Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens und Martin Gregor-Dellin, aber auch der 1963 von der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelte Literaturwissenschaftler Hans Mayer sowie der junge Theaterkritiker Hellmuth Karasek. Das liberale Austragen gegensätzlicher Positionen nicht nur im Politik-, sondern auch im Literaturteil - etwa im Fall von Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein", der sowohl von Mayer (DIE ZEIT, 18.9.1964) als auch von Reich-Ranicki (DIE ZEIT, 2.10.1964) rezensiert wurde - bescherte der Kritik einen neuen Spannungs- und Unterhaltungswert.
Marcel Reich-Ranicki war es auch, der den Literaturteil der "ZEIT" zunehmend prägte. Wie kein zweiter verkörperte er die neue publikumswirksame Literaturkritik der 1960er-Jahre: Seine Rezensionen, Autorenporträts, Theaterkritiken und Glossen zeichneten sich durch einen stets auf Verständlichkeit und Klarheit bedachten, lebendigen, gerne auch streitbar-polemischen Stil aus. Die Rolle des Kritikers war bei ihm die eines Anwalts: Reich-Ranickis Rezensionen waren engagierte Plädoyers; Verteidigungen von Autor und Buch oder, wo nötig, in der Rolle des Staatsanwalts Anklageschriften im Namen der Literatur. Anders als den konservativen Kritikern kann es Reich-Ranicki auf entschiedene Werturteile an. Geradezu zu einem Markenzeichen wurden seine vernichtenden Verrisse, die 1970 in einer eigenen, bis heute immer wieder aufgelegten Sammlung ("Lauter Verrisse") erschienen.
Die Bücher Reich-Ranickis, die nach 1965 in rascher Folge erschienen, meist themenspezifische Sammlungen seiner literaturkritischen Arbeiten, wurden durchweg Bestseller. So zum Beispiel "Literarisches Leben in Deutschland. Kommentare und Pamphlete" (1965), "Wer schreibt, provoziert. Kommentare und Pamphlete" (1966) oder "Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute" (1967). Aber nicht nur Reich-Ranicki, auch andere "Großkritiker" publizierten ihre Rezensionen oder literaturkritischen Essays in Buchform. Neben Rudolf Walter Leonhardt ("Leben ohne Literatur?", 1961; "Zeitnotizen", 1963), Hans Mayer ("Zur deutschen Literatur der Zeit", 1967) oder dem bedeutendsten Theaterkritiker der Republik, Friedrich Luft ("Stimme der Kritik", 1965), waren es auch konservative Kritiker wie Sieburg ("Verloren ist kein Wort", 1966), Curtius ("Büchertagebuch", 1960) oder Blöcker ("Kritisches Lesebuch", 1962, "Literatur als Teilhabe", 1966), die das gestiegene Interesse an Rezensionen bedienten.
Der in dieser Form neue Erfolg von Kritikern auf dem Buchmarkt war ein Symptom für das in den 1960er-Jahren enorm gestiegene Interesse an Literatur und Literaturkritik. In ihm spiegelte sich nicht nur das rasche Wachsen des literarischen Marktes wider. Sondern auch das Bedürfnis immer breiterer Kreise gerade des jungen Lesepublikums nach Diskussion und Reflexion gesellschaftlicher Probleme, das wachsende Unbehagen an der verkrusteten Adenauer-Republik, das sich vorerst noch ersatzweise auf dem Gebiet der Literatur und ihrer Kritik zu artikulieren suchte.
Doch interessierte sich das Publikum nicht nur zunehmend für kritische Orientierungen in der wachsenden Bücherflut, sondern auch für die Person des Kritikers selbst. 1964 bat das Hamburger "Sonntagsblatt" bekannte Rezensenten, sich in Selbstporträts dem Publikum vorzustellen. Noch im selben Jahr veröffentlichte ein Sonderheft der Zeitschrift "Magnum" eine "Galerie der Kritiker: Wie sie aussehen, was sie bekennen", mit Fotos und programmatischen Äußerungen unter anderem von Blöcker, Reich-Ranicki, Franz Schonauer, Willy Haas, Heinrich Vormweg und Curt Hohoff, zusammen mit einer vom jungen Heinz Ludwig Arnold verfassten kritischen Bestandsaufnahme über die Literaturkritik in der Bundesrepublik ("Der deutsche Kritiker").
Ein erstes Zeichen für das wachsende Bedürfnis nach Legitimation der Kritik und die Begründung von Wertmaßstäben war freilich die 1963 vom WDR initiierte Sendereihe "Selbstkritik der Kritik", in der sich Kritiker zu ihren Fehlurteilen bekannten und diese im Rückblick gerade rückten. Im Rahmen dieser Reihe korrigierte zum Beispiel Reich-Ranicki am 22.5.1963 seinen Verriss von Grass' Roman "Die Blechtrommel" - und legte ein mit Blick auf sein "Spätwerk" bemerkenswertes Bekenntnis ab: "Ich bin Anhänger einer engagierten Literatur. Ich glaube, daß Schriftsteller sich nicht damit begnügen dürfen, das Leben mit reizvollen Arabesken zu schmücken und allerlei Ornamente beizusteuern. Ich glaube, daß es ihre Hauptaufgabe ist, bewußt in einer bestimmten Richtung zu wirken, also auf ihre Zeitgenossen Einfluß auszuüben. Daher suche ich in der Literatur, zumal in der erzählenden Prosa, vor allem die Auseinandersetzung mit den großen moralischen Fragen der Gegenwart." (Reich-Ranicki, Günter Grass, Frankfurt am Main 1994)
II.... zum "Autodafé" der Kritik
Solch respektable Unternehmungen wie die WDR-Reihe konnten allerdings nicht verhindern, dass spätestens nach 1965, vor allem im Umkreis der "neuen Linken", das Interesse an Literaturkritik in Enttäuschung umschlug. "Engagiert" oder nicht, Literatur und Kritik konnten die Erwartungen, die in ihre Möglichkeiten zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins gesetzt wurden, nicht erfüllen. Das in der Studentenbewegung und der APO zunehmend grassierende Unbehagen an der Praxis der Kritik und ihrer gesellschaftlichen Funktion entlud sich in einem sich rasch radikalisierenden Diskurs der Kritik der Kritik. Die umfassende Problematisierung der Institution kulminierte 1968, als sie gleich von mehreren Seiten unter Beschuss geriet. Geführt wurde er in Medien wie dem 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründeten "Kursbuch", der Zeitschrift "Konkret" (1957ff.), deren Chefredakteurin Ende der 1960er-Jahre Ulrike Meinhof war, der DKP-nahen, von Yaak Karsunke herausgegebenen Zeitschrift "Kürbiskern" (1965ff.) oder in jungen Literaturzeitschriften wie "Sprache im technischen Zeitalter" (1961ff.), "Text + Kritik" (1963ff.) und "Tintenfisch" (1968ff.).
Vorläufer des neuen metakritischen Diskurses gab es: Viel Resonanz erzeugte zum Beispiel bereits 1965 ein Aufsatz Peter Schneiders, der am Beispiel von Rezensionen Reich-Ranickis, Reinhard Baumgarts, Hans Mayers, Helmut Heißenbüttels und Günter Blöckers "Die Mängel der gegenwärtigen Literaturkritik" aufzeigte. Neben der oft phrasenhaften Sprache gehörte für Schneider zu diesen Mängeln vor allem die Intransparenz der Werturteile für den Leser: "Die Urteile des Kritikers fallen vom Himmel. Der Leser ist ihnen auf Treu und Glauben ausgeliefert. Die Person des Kritikers wird dabei zwangsläufig wichtiger als seine Argumente. Es bildet sich ein Verhältnis zwischen Leser und Kritiker heraus, das lediglich aus den emotionalen Einstellungen des Vertrauens und des Mißtrauens lebt. Daß der und kein anderer das Urteil abgegeben hat, wird bedeutsamer, als was für ein Urteil er abgegeben hat." (Neue deutsche Hefte, 12. Jg. 1965, Nr. 107)
Nur drei Jahre später, 1968, war die allgemeine Radikalisierung der Kulturkritik im Zeichen der Studentenbewegung bereits so weit fortgeschritten, dass sich Schneider schlicht weigerte, an dem von Peter Hamm herausgegebenen Sammelband "Kritik - von wem, für wen, wie" noch mitzuwirken: "er verfaßt lieber in Berlin für die Außerparlamentarische Opposition Flugblätter", entschuldigte der Herausgeber Schneiders Absage anerkennend in seinem Vorwort. Wären doch auch ihm "Zeitungsleser, die künftig lieber die Wirtschafts- als die Buchseiten studieren, ein wünschenswertes Produkt dieses Buches." (Hamm, Kritik - von wem, für wen, wie, München 1968) Politischer Aktionismus galt jetzt für wichtiger als jede Form von Kunstproduktion und -kritik. So hielt es auch einer der Wortführer der linken Rebellen, der Kritiker und Zeitschriftenherausgeber Yaak Karsunke, "für sinnvoller, mich an der Auslieferungsverhinderung der 'Bild'-Zeitung zu beteiligen als etwa einen Verriß von Springers 'Jasmin' zu schreiben." (ebd.)
Mit antiautoritärem Gestus und Rekurs auf marxistisch-materialistische Gesellschaftstheorien und die Kritische Theorie stellten die Kulturrebellen die Relevanz der Literaturkritik prinzipiell in Frage und ihre Praktiker unter Generalverdacht. Es rächte sich, dass die Kritik selbst bislang ihre Produktionsbedingungen weitgehend ausgeblendet und im Nachkriegsdeutschland zunächst einen emphatischen, zweckfreien Kunstbegriff revitalisiert hatte. Wie schon in der Weimarer Republik Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht, die nicht zufällig in den 1960er-Jahren wiederentdeckt wurden, verabschiedeten jetzt Peter Hamm, Hans Magnus Enzensberger, Karl Markus Michel, Walter Boehlich und Yaak Karsunke die Idee einer klassenlosen Kunst als "bürgerliche Ideologie" und untersuchten den "Warencharakter" von Literatur und Kritik.
Für die Genannten war "die wichtigste Frage: wem [...] nützen sie?" (ebd.) Fokussiert wurden die materiellen Bedingungen und Abhängigkeiten der Kritik, aber auch ihre latenten Funktionen für die Erhaltung der kapitalistisch organisierten Gesellschaft. Für Reinhard Baumgart waren Rezensionen nichts anderes als "unbezahlte Buchanzeigen. Nur die Redakteure der Literaturbeilagen und der Stab ihrer Rezensenten scheinen diese ihre Funktion nicht zu begreifen." (ebd.)
Im "bürgerlichen Großkritiker", verkörpert beispielsweise in Reich-Ranicki, Blöcker oder Joachim Kaiser, sah Peter Hamm das Resultat kapitalistischer Arbeitsteilung, die zu einer zunehmenden Spezialisierung geführt hatte: Dieser Nur-Kritiker durfte "sich nicht erlauben, seine Position als fragwürdige einzugestehen, Abhängigkeiten zuzugeben, er muß als Instanz auftreten statt als Person, d. h. er muß seine Kategorien verabsolutieren." (ebd.) Die Rezensenten - als "Bauchredner" unterstützende Teilchen des herrschenden "Establishment" - wüssten längst nicht mehr, "von was und für wen sie sprechen" (ebd.). Literatur und Kritik seien nicht nur konstitutiv unfähig, an der notwendigen politischen Aufklärung und Emanzipation des gesellschaftlichen Bewusstseins mitzuwirken. Ganz im Gegenteil dienten die feuilletonistischen Spielwiesen selbst der Manipulation der Bevölkerung - Yaak Karsunke sprach von einer "Ablenkungsfunktion der Kulturindustrie" (ebd.) - und wurden daher von der linken Intelligenz unter Ideologieverdacht gestellt.
Redundant, ja schädlich wie sie war, wurde der Kritik in Hans Magnus Enzensbergers berühmt-berüchtigten "Kursbuch 15", ebenfalls 1968, in einem Friedrich Nietzsche imitierenden Pathos der Exitus bescheinigt. "Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende", erklärte Walter Boehlich in seinem "Autodafé": "Die bürgerliche Kritik wirkt nicht mehr über den ersten Tag hinaus. Sie bewirkt ihr eigenes Vergessen. [...] Sie glaubt immer noch, daß der Geist das Höchste sei [...] daß Geist Macht sei; sie hat ihre eigene Entmachtung dankbar hingenommen. Sie hat sich verbannen lassen auf die letzten Seiten der Zeitungen, der Wochenschriften, der Zeitschriften. Sie nimmt hin, daß die Politik, die auf den ersten Seiten gemacht wird, selbst in ihren eigenen Augen der Kritik widerspricht, die sie auf den letzten Seiten übt. Sie glaubt immer noch, daß sie trotzdem etwas bewirken könne. Sie nimmt sich hin als liberalen Flitter einer längst nicht mehr liberalen Gewalt. Sie läßt sich jeden Tag demütigen, weil sie ja jeden Tag ihre Meinung sagen darf. Ihre bürgerliche Meinung. Dürfte sie auch ihre Bürgermeinung sagen? Können wir keine Kritik haben, die den fadenscheinig gewordenen Kunstwerk-Begriff über Bord wirft und endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt?" (Boehlich, Autodafé)
Wie selbstwidersprüchlich die von der "neuen Linken" artikulierten Einwände waren, fiel den Beteiligten nicht auf: So erschien der Kritiker "einerseits als Anhängsel des Apparats, als dürftig honorierter 'Zirkulationsagent', andererseits aber - in der Person des vielgeschmähten 'Großkritikers' - als 'Manipulator' der öffentlichen Meinung, da er Zugang zu den meinungsbildenden Medien hat." (Bernhard Zimmermann, in: Geschichte der deutschen Literaturkritik, hrsg. v. Peter Uwe Hohendahl, Stuttgart 1985)
Attackiert wurde die institutionelle Literaturkritik Ende der 1960er-Jahre auch bezüglich ihrer Vermittlungsleistungen. Zur Diskussion stand damit zugleich jene seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert für die deutschsprachige Literatur kennzeichnende Spaltung in eine Höhenkammliteratur, die primär von einer kleinen, gebildeten Leserschar wahrgenommen wird, und eine von der Mehrheit des Publikums bevorzugte Trivial- und Unterhaltungsliteratur.
Wie problematisch die Vermittlungsleistung der Kritik seinerzeit tatsächlich war, offenbarte sich 1966 beim so genannten "Zürcher Literaturstreit": Resonanzreich denunzierte der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger als renommierter Vertreter der in die Defensive geratenen konservativen Literaturkritik die Gegenwartsliteratur, die er mit der "littérature engagée" identifizierte, als Versündigung an der "Heiterkeit der Schönen". Statt dessen propagierte er das klassische Ideal des Wahren, Guten und Schönen (NZZ, 20.12.1966): "Die zahlreichen Zustimmungen, die er [Staiger] nach seiner pauschalisierenden Abrechnung mit der Literatur der 60er erhielt, belegen, daß es der Literaturkritik nicht gelungen war, der Mehrheit des Lesepublikums den Paradigmenwechsel auf literarischem Feld zu vermitteln. Der Zug der neuen Literatur war abgefahren, und breite Teile des Bildungsbürgertums waren auf dem Bahnsteig zurückgeblieben, verlassen von denen, die sie seit jeher dafür bezahlten, ihnen die Fensterplätze freizuhalten. Die zornige Ablehnung dieser Zurückgebliebenen wurde durch Professor Staiger akademisch legitimiert. [...] Ein Doyen der Wissenschaft erläßt einen Generalverdikt über die Kunst bzw. Literatur seiner Zeit, carte blanche für die Diskussionsmüden." (Dirk Getschmann, Zwischen Mauerbau und Wiedervereinigung, Würzburg 1992) Während Staiger die Kritik zur Verteidigung des Elfenbeinturms einer autonomen Kunst aufrief, verkündete zwei Jahre später der amerikanische Literaturkritiker Leslie A. Fiedler den Tod der elitären Höhenkamm-Literatur der Moderne. Unter dem Motto "Cross the border, close the gap" prophezeite er die Geburt einer neuen, "postmodernen" Literatur jenseits von U und E, die programmatisch die Kluft zwischen Elite- und Massenkultur überwinden würde (Christ und Welt, 13.9.1968).
Von der institutionellen Literaturkritik, zumindest in ihrer bisherigen Verfassung, war für die prognostizierte Überwindung der kulturellen Kluft wenig Hilfe zu erwarten. Dies jedenfalls implizierten die Ergebnisse der ebenfalls 1968 erschienenen bahnbrechenden Studie "Buchkritik in deutschen Zeitungen" des Kommunikationswissenschaftlers Peter Glotz. Anders als die Fundamentalkritiker der "neuen Linken" konnte sich Glotz auf umfangreiches empirisches Datenmaterial stützen. Literaturkritik im Feuilleton war, so sein Resümee, weitgehend "ein Gespräch unter Eingeweihten" (Glotz, Buchkritik in deutschen Zeitungen): "In den Feuilleton-Teilen vieler deutscher Zeitungen spiegelt sich, deutlicher noch als der Erwerbssinn geschäftstüchtiger Verleger, der Rückzug unserer musisch-ästhetischen Elite unter die Glasglocke einer vor der Gesellschaft sorgfältig abgeschirmten Subkultur. Unkenntnis der Zielpartner ist ein Symptom, Hilflosigkeit gegenüber den Phänomenen der Massenkultur ein anderes." (ebd.) Statt zu versuchen, jene Kluft zwischen Elite- und Massenkultur zu überwinden, wie es nach Glotz die Aufgabe der journalistischen Literaturkritik gewesen wäre, statt zur Demokratisierung und Popularisierung der avancierten Literatur beizutragen und im Gegenzug die Populärkultur ressentimentfrei kritisch zu prüfen und zu vermitteln, zementierten die Literaturkritiker nur weiter den kulturellen Status quo. Sie hielten an einem verengten Literaturbegriff fest und bedienten sich, beispielsweise in der "Welt" und der "Frankfurter Allgemeinen", einer esoterischen Sprache, die weite Bevölkerungskreise gezielt ausschloss.
Zusammen mit den Totsagungen der "neuen Linken" stießen Glotz' Untersuchungen eine anhaltende Diskussion über die Aufgaben, Funktionen und Möglichkeiten der Literaturkritik an. Mehr noch als im Feuilleton selbst fand diese Diskussion bis heute jedoch im Bereich der akademischen Literaturwissenschaft statt. Diese entdeckte nach 1968, bewehrt mit kommunikationswissenschaftlichem oder literatursoziologischem Instrumentarium, zumindest zögernd die journalistische Literaturkritik als Forschungsobjekt. Für das Feuilleton galt die Devise Business as usual. So lautstark sich die "linkssektiererischen Kahlschlagfanatiker" (Jost Hermand) auch zu Wort gemeldet hatten, so irritiert womöglich mancher Rezensent nach 1968 in seinem Selbstverständnis auch gewesen sein mag - zumindest in der aus wöchentlichen Buchseiten und gelegentlichen Beilagen bestehenden journalistischen Praxis zeigte sich die Literaturkritik auch weiterhin recht lebendig und wenig verändert. Die Aufregung legte sich, die "Großkritiker" wurden eher noch größer, man wendete sich trotzdem wieder dem Tagesgeschäft zu.
1979 beklagte Karl Prümm die "auffallende Ruhe", die an der Kritikerfront herrschte: "Die Rezensionen sprudeln munter weiter, befreit von den Skrupeln der Theoriediskussion. Reflexionen und Selbsterklärungen sind nicht mehr gefragt. Kein Kritiker denkt heute mehr öffentlich über seine Rolle nach. Die Irritationen sind geschluckt, die Impulse der Veränderung des literaturkritischen Gewerbes haben sich längst verflüchtigt." (Prümm, Tendenz allgemein lustlos, in: Bertelsmann Briefe 99/1979, S. 10)
Diese Einschätzung bestätigt auch Dirk Getschmanns Untersuchung der westdeutschen Literaturkritik. Bis zur Wiedervereinigung 1990 konnte demnach "von einer grundlegenden Tendenz der Verminderung oder Vermehrung des Rezensionsaufkommens [...] nicht die Rede sein." (Getschmann, Zwischen Mauerbau und Wiedervereinigung) Dafür nahm nach 1970 die Anzahl der metakritischen Beiträge, die die Voraussetzungen der kritischen Praxis reflektierten, bis Mitte der 1980er-Jahre kontinuierlich ab, eine Tendenz, die Jörg Drews 1985 in seinem "stehenden Sturmlauf gegen die westdeutsche Literaturkritik" als "Theorie-Schwäche" nach all den "gründlichen Selbstreflexionen der Literaturkritik um 1970" brandmarkte. (Drews, So kritisierten sie hin, in: Der Rabe 11/1985)
Immerhin förderte das allgemeine Unbehagen an der Kritik um 1970 die Entstehung neuer theoretischer Konzepte, meist im Rekurs auf Vertreter der Kritischen Theorie. So entwickelten Kritiker wie Reinhard Baumgart ("Aussichten des Romans", 1968), Dieter Wellershoff ("Literatur und Veränderung", 1969), Michael Scharang ("Zur Emanzipation der Kunst", 1971), Karl Heinz Bohrer ("Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror", 1970), Helmut Heißenbüttel ("Zur Tradition der Moderne", 1971) und Heinrich Vormweg ("Eine andere Lesart", 1972) ambitionierte literaturkritische Alternativen. Sie kamen darin überein, auch der avancierten, vermeintlich apolitischen Literatur ein subversiv-utopisches Potenzial zu attestieren, dessen Aktualisierung Aufgabe des Kritikers sei. Freilich bliebt die Wirkung dieser Konzepte auf die vom Gros der Rezensenten ausgeübte Praxis sehr begrenzt.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist in veränderter Form im Rahmen meiner Darstellung "Literaturkritik in der Bundesrepublik" (online unter: http://cgi-host.uni-marburg.de/~omanz/forschung/modul.php, 2003) erschienen.