Ohne Mieder

Dezsö Kosztolányis Roman "Lerche" schaut der Provinzmentalität unter den Rock

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dreizehn mit Überschriften versehenen Einzelkapiteln umfasst Kosztolányis Roman "Lerche" (1924) die Ereignisse um die Familie Vajkay in der fiktiven Kleinstadt Sárszeg im Frühherbst des Jahres 1899. Anfang und Ende der Erzählung markieren jeweils der Aufbruch der Tochter Lerche zu einer Bahnreise auf das Landgut ihres Onkels und die Rückkehr zu den Eltern eine Woche später. Seit der frühen Pensionierung des Vaters Ákos leben die drei zurückgezogen am Rand der Stadt. Vajkay ist neunundfünfzig und beschäftigt sich fortan mit den Herkunftslinien ungarischer Adelsfamilien, mit Heraldik, und hat inzwischen den Glauben daran verloren, dass er seine Tochter irgendwann noch verheiraten könnte.

Lerche, die ihren Kosenamen von der Mutter erhalten hat, da sie ein Kind war und so schön sang, ist fünfunddreißig und singt nicht mehr. Zusammen mit der Mutter putzt und kocht sie leidenschaftlich, hält Ordnung im Haus. Aus gehen die Vajkays nicht, wozu auch, da es zu Hause, wie man weiß, am Schönsten ist. Dieses Stillleben, eine formidable nature morte, wird durch die oft verschobene Reise Lerches ins Wanken gebracht. Man könnte meinen, jetzt sei endlich die Zeit gekommen, da die Eltern aus der Lethargie erwachten zu einem lohnenderen Leben, und es drängt sich die Idee der Entlarvung einer Lebenslüge auf, die gemeinhin mit der Dramatik Henrik Ibsens verknüpft ist.

Während es aber den Figuren des Norwegers entweder in einem entschiedenen Kraftakt gelingt, den Panzer ihrer kümmerlichen Existenz aufzubrechen oder sie tragisch zu Grunde gehn, geraten die Figuren Kosztolányis nur noch tiefer in den Sumpf des scheinbar Unabänderlichen hinein, ohne darin vollends zu versinken. Dass ihnen die Katastrophe erspart bleibt, kann als Indiz schierer Ausweglosigkeit gedeutet werden. Nicht von ungefähr nennt Kosztolányi seinen Ort Sárszeg, was so viel heißt wie ,die von Schmutz / Schlamm Umgebene'.

Sárszeg, wo in der Hauptstraße drei Sarggeschäfte und zwei für Grabsteine nebeneinander bestehen, hinterlässt denn auch den Eindruck, hier werde weniger gelebt als gestorben. Die zunächst zaghaften, dann reflexartigen Veränderungsimpulse der Vajkays während der Abwesenheit ihrer Tochter verdanken sich nicht dem Willen zu einem zweckorientierten Handeln des Individuums, vielmehr dem Sog der Stadt, der sie ausgesetzt sind, und deren Bewohner. Das Essen im Gasthaus, das zu Hause verpönt ist, weckt in Ákos die verschämte Lust auf Speisen, die ihm seine Tochter niemals vorsetzen würde. Das Essen im Wirtshaus stiftet zudem eine Geselligkeit, von deren Bedeutsamkeit Kosztolányis Schriftstellerkollege Imre Krúdy kurze Zeit später in seinem Roman "Meinerzeit" (1927) künden wird. Das Empfinden der Leere und Einsamkeit des alternden Ehepaars wird zeitweilig aufgesogen von geselligen Zusammenkünften wie eine Tunke auf dem sonst leeren Teller von einem letzten Stückchen trockenen Brots.

Ákos trifft die Gespielen der Männerrunde "Die Panther" wieder, die ihn zu einem ihrer Herrenabende einladen - Ablehnung unmöglich. Ein gemeinsamer Theaterabend, für den das Paar Karten geschenkt bekommt - auch hier gibt es kein Entrinnen. Frau Vajkay kauft sich, mit schlechtem Gewissen, eine Krokodilledertasche. Ákos tut, was der Arzt ihm verboten hat; er raucht und trinkt. Dass jeder in Sárszeg trinke, heißt es einmal, und, getreu den Trinksitten, worüber Norbert Elias einmal in seinen Studien über die Deutschen gehandelt hat, steht fest: "Wer sich zweimal übergibt, hat mehr Spaß gehabt als einer, der nur einmal erbricht." Nicht zu vergessen das Tarockspiel, dem Ákos, ein gewiefter Zocker aus früheren Zeiten, sich hingibt. "Wer Karten spielt, genießt den vollen Rausch des Vergessens und lebt in einem separaten Universum, dessen Sphären mit Karten ausgelegt sind."

Was Elias über die Interdependenz der Ausbildung individueller Selbstzwänge infolge von gesellschaftlichen Fremdzwängen vermerkt, trifft genau das Dilemma, in dem Kosztolányis Haupt- und auch viele seiner Nebenfiguren stecken. Sie durchlaufen weder einen Lernprozess, noch gibt es sonstwie Aussicht auf Besserung. Den dramatischen Höhepunkt des Textes bildet gewiss die Szene, in der Ákos nach durchzechter Nacht stockbetrunken nach Hause kommt und seiner Frau von der Schande, der Hässlichkeit ihrer Tochter, der Bürde, die sie für beide darstelle, spricht. Einzig in dieser Nacht lässt Kosztolányi einen Lebensfunken in den Körpern der Alten zünden: "So starrten Lerches greise Eltern einander an, fast nackt, die beiden vertrockneten Körper, aus deren Umarmung das Mädchen einst hervorgegangen war. Beide zitterten vor Erregung." Es ist dies eine Erregung, die anderntags völlig verpufft ist, ohne Konsequenz.

Der Brief indes, den Lerche nach Hause schickt, der nichts von stilistischer Eigenheit an sich hat, weist auf zwei Sachverhalte hin, die ihr Geschick als unlösbar mit dem der Eltern verstrickt sieht. Von zwei Budapester Mädchen ist da die Rede, die bei dem Onkel eingetroffen sind. Die größere der beiden "ist so sezessionistisch. Sie raucht und trägt kein Mieder." Und zu einem Ball geht Lerche nicht mit, weil sie kein passendes Kleid hat. Stattdessen verdingt sie sich in der Küche. Das klingt wie eine späte Replik auf "Aschenputtel", nur dass hier die Betroffene weder schön noch jung ist, und an einen Prinzen ist nicht im Entferntesten zu denken. Die Miederlosigkeit des Mädchens steht als metonymisches Detail ein für das ruchlose Leben, ein Anderes, für das es im eigenen Dasein keinen Keim gibt; dagegen muss alle Kraft der Tugend und Ehrenhaftigkeit aufgeboten werden.

Auch der Vater wird solcher Schamlosigkeit angesichtig, verkörpert durch die Soldatenliebchen im Park und die in amouröse Abenteuer verwickelte Schauspielerin Orosz. "Was für ein Schmutz war das hier", liest man, "was für ein Schmutz im Theater, zwischen schäbigen Kulissen, überall. [...]. Alles, was liederlich und ordinär war, wurde Leben genannt. Gerechtigkeit, ach, die gab es nicht, o nein. Nichts hatte Sinn. Alles war egal." Da ist Ákos kurz von dem gestreift worden, was Kosztolányi den "Jahrhundertwendetrübsinn" nennt, eine profane Ausprägung des Nihilismus. Die Verkommenheit, der Sittenverfall, den Ákos anklagt, ist allerdings nur die Kehrseite einer ausgehöhlten Tugendhaftigkeit, die Schmerz bereitet und nichts als Trostlosigkeit für die Betroffenen bereithält. Eine Einsicht in die vollkommene Sinn- und Hoffnungslosigkeit des Daseins, von der Kosztolányi in der Rolle des kommentierenden Erzählers an anderer Stelle spricht, zu genießen und mögliche Konsequenzen daraus zu ziehen, bleibt den Vajkays verwehrt wie allen übrigen Figuren des Romans. Da hilft wohl nur noch beten.

Dass der Glaube nicht ganz erlischt, bewirkt ein Blick hinauf zum Kruzifix über dem Ehebett. Eine billige Gipsfigur ist es, und seine Pose eine "der starren Gleichgültigkeit". Und dennoch "war seine Gegenwart groß, eine echte Wirklichkeit in dieser Bürgerstube, wo alles winzig war." Später, als Lerche schon wieder bei den Eltern weilt, hebt auch sie den Kopf an eine Stelle über ihrem Bett, wo ein Bild der Heiligen Jungfrau hängt, mit dem toten Kind auf den Knieen. "An sie richtete sie von klein auf ihre beflissenen, kindlichen Gebete, ebenso wie die Eltern an den gekreuzigten Jesus. Für einen Moment erhob Lerche beide Arme zu ihr, mit einer heftigen Bewegung, die sie sogleich unterdrückte. Nur Geduld. Andere leiden noch viel mehr."

Ja, das Leiden, das nimmer aufzuhören scheint. - Der Rezensent, selbst auf dem Dorf aufgewachsen und die ungarische Provinz ganz gut kennend, erinnert sich an eine lasierte Holzscheibe, die im Wohnzimmer der Großeltern über dem Sofa hing und auf der geschrieben stand: ,Und wenn dich auch das Schicksal auf allen Wegen schlägt, bleibt immer noch die Haltung, mit der man es erträgt.'

Kosztolányis Roman "Lerche" zählt fraglos zu den großen Werken der europäischen Literatur der Moderne.


Titelbild

Dezsö Kosztolányi: Lerche.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
217 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224236

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