Soll man dem Volk die Wahrheit sagen oder lieber nicht?

Die Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1780

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendein Engländer habe prognostiziert, dass es mit der christlichen Religion am Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende sei, schrieb König Friedrich II. von Preußen am 25. November 1769 in einem Brief an den französischen Enzyklopädisten Jean Le Rond d'Alembert. Er habe nicht übel Lust, "dieses Schauspiel mitzuerleben", aber er glaube nicht, dass die Prognose stimme, sondern befürchte, dass die Kirche "ihren von uns verachteten Unsinn vielleicht noch gut zwei Jahrhunderte" verbreiten könne, "und zwar um so mehr, als er ja vom Enthusiasmus des Pöbels getragen wird." Was er da eben geschrieben habe, führe zur Frage, "ob es sein kann, dass das Volk in einer Glaubenslehre ohne Märchen auskommt". Er glaube das nicht, meinte Friedrich, denn "diese Tiere" hätten "wenig Vernunft" und die "Dummköpfe" des Volks wollten belogen sein.

In seiner Antwort vom18. Dezember 1769 schlug d'Alembert dem preußischen König vor, diese Frage, die in Frankreich bereits länger, aber nie öffentlich debattiert worden wäre, zu einer Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu machen. Friedrich glaubte, dass d'Alemberts Vorschlag von "tiefer philosophischer Einsicht" zeuge, seine Akademie jedoch hielt ihn für nicht erörterungswürdig.

Rund acht Jahre später, am 22. September 1777, kam d'Alembert noch einmal auf seinen Vorschlag zurück, um die Problematik zugleich zu präzisieren und zu verallgemeinern. Der "Fortschritt der philosophischen Aufklärung" sei in einem Stadium, der eine "höchst nützliche Frage" allmählich dringlich mache: "Ob es von Nutzen sein kann, das Volk zu täuschen?" Das wäre endlich einmal eine wichtige Frage, ganz anders als die bisherigen, die überall in der Gelehrtenrepublik "ins Lächerliche gezogen" worden seien. Niemand hätte verstanden, was es mit der Frage nach der Macht des Primitiven respektive dem fundamentum virium auf sich gehabt hätte, die die Akademie gerade gestellt hatte.

Friedrich II. war der Spott über seine Akademie peinlich und er verlangte daher im Oktober 1777 von seinen Akademikern, diese metaphysische durch eine interessante und nützliche Frage zu ersetzen, und zwar durch die: "S'il peut être utile de tromper Le Peuple". Die brüskierten Akademiker konnten immerhin aushandeln, dass ihre Preisfrage nach den ursprünglichen Kräften bestehen blieb und dass man die Frage nach der Legitimität des Volksbetrugs als nächste stellen würde, und zwar in dieser Formulierung: "Est-il utile au Peuple d'être trompé, soit qu'on l'induise dans de nouvelles erreurs, ou qu'on l'entretienne dans celles où il est? / Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich seyn? Sie bestehe nun darinn, dass man es zu neuen Irrthümern verleitet oder die alten eingewurzelten fortdauren lässt?"

Die Pointe der umformulierten Fragestellung besteht darin, dass nun nicht mehr nach dem Nutzen des Betrugs für den Betrüger gefragt wird, sondern nach dem Nutzen für das Volk, das betrogen wird.

Der 1. Januar 1780 war der Einsendeschluss. 42 Bewerberschriften gingen ein: 25 in deutscher, 16 in französischer und eine in lateinischer Sprache verfasst. Sechs Einsendungen kamen zu spät, vier waren gegen die Regel namentlich gezeichnet, zwei kamen in zwei Teilen oder Versionen, und eine Einsendung war querulantisch ("daß ich die aufgegebene Frage an sich selbst für eine Ungerechtigkeit halte"). Diese schieden aus. Letztlich standen 30 Texte zur Auswahl. In der Akademiesitzung vom 25. Mai wurde über die Texte entschieden, am 1. Juni 1780 wurde der Preis vergeben, und zwar zwiefach, das heißt halbiert: Prämiert wurde eine bejahende und eine verneinende Antwort. Dafür erntete die Akademie erneut Spott, weil man diese Unentschiedenheit für Opportunismus hielt.

König Friedrich interessierte sich übrigens nicht für die Antworten auf 'seine' Preisfrage; die beiden Siegertexte fanden keinen Eingang in seine Bibliothek. Lieber entwickelte er dem Berichterstatter der Akademie seine eigenen Gedanken zu der Frage. Sie dürften sich kaum unterschieden haben von den seit Jahrzehnten gehegten Ideen. "Der Pöbel verdient keine Aufklärung", meinte Friedrich schon 1766. Drei Jahre später rechnete er d'Alembert vor, dass "von zehn Millionen kaum 1.000 Personen" nicht "geistig träge, stumpf und schwachherzig" seien. Wenig später hieß es, angesichts "großer Menschenhaufen" müsse man "zum Betruge" greifen. "Die Vorurteile sind die Vernunft des Volkes." Als absolutistischer Herrscher kam Friedrich zu dem Schluss, dass bedingungslose Volksaufklärung nicht zu wünschen sei, vielmehr sei es so, "dass man die Wahrheit nur mit Zurückhaltung und niemals zu ungelegenen Zeiten sagen dürfe".

Für einen Absolutisten ist diese Position nicht überraschend. Überraschender ist eher, wie viele Aufklärer in dasselbe Horn stießen. Der erste von der Akademie 1780 prämierte Text aus der Feder des Mathematikprofessors Friedrich Adolph Maximilian Gustav von Castillon (1747-1814) ging ebenfalls davon aus, dass das Volk einen schwachen und begrenzten Verstand habe und der Führung bedürfe. Dabei sei es nicht nötig, die Gründe für die angegebenen Weisungen ausführlich zu entwickeln. Die Wahrheit in Staatsfragen sei nur für die Führer, die "chefs" der Nation, relevant; allen übrigen können die Gründe egal sein, schließlich mahle eine Mühle das Korn nicht besser, wenn man ihren Mechanismus kenne.

Der andere Preisträger, Rudolf Zacharias Becker (1752-1822), ein später ziemlich bekannt gewordener Volksaufklärer (seinerzeit ein Bestseller wurde das noch im 20. Jahrhundert wiederholt nachgedruckte "Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute" aus den Jahren 1788 und 1798), spießte in der "teutschen, verbesserten und mit einem Anhange vermehrten Ausgabe" seiner Preisschrift (1781) diese Behauptung auf: Castillon habe "nicht bedacht, dass das Volk, das auf der politischen Mühle gemahlen wird, Empfindungen von Schmerz und Vergnügen habe, dass es ihm daher nicht einerlei sein kann, wie es gemahlen werde, und dass es zugleich der Inhaber und Stifter der Mühle sei, deren Verwaltung der Regierung anvertrauet ist, und die dem Volke davon Rechenschaft geben sollte". Das war in der Tat starker Tobak, insofern die Rolle von Obrigkeit und Untertan gegenüber absolutistischen Standardannahmen verkehrt, das heißt: der Betrug des Volks mithin ein Betrug am Souverän wurde, was in jedem Fall abzulehnen war.

Auf Kosten der Akademie wurden 1780 nur die beiden Siegerschriften gedruckt; acht weitere Schriften wurden von den Autoren auf eigene Initiative in den Druck gegeben. Im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sind unter der Signatur I-M 739-777 allerdings noch 28 weitere Einsendungen vorhanden, die zum größten Teil von der Forschung noch nicht beachtet wurden. (Eine subjektive, vielleicht subversiv intendierte Auswahl von sieben französischen Einsendungen publizierte der bedeutende Aufklärungsforscher Werner Krauss 1966 in der DDR.)

Hans Adler hat nun erstmals alle Schriften in einer voluminösen, sorgfältig erarbeiteten Edition von insgesamt rund 1.250 Seiten herausgegeben. "Die Dokumente zur Akademie-Preisfrage für 1780 in zuverlässiger Form zugänglich zu machen, ist der Haupt-Zweck dieser Edition", schreibt Adler in der 70-seitigen Einleitung; dagegen sei es nicht Aufgabe der Edition, "die Schriften im einzelnen zu analysieren. Analyse und Rezeption der Preisschriften sowie die post-1780er Geschichte des Problems mag Gegenstand zukünftiger Forschung sein". Immerhin sei dies ein interessantes Forschungsgebiet, "nicht zuletzt auch deshalb, weil das Problem nach wie vor aktuell ist", wie Adler einleitend meint.

Die Frage, wie aktuell das Problem tatsächlich noch ist, mag dahin gestellt bleiben. Sollte die Preisaufgabe heutig wirken, so wäre dies kein gutes Zeugnis für unser Land, wie ein damaliger Einsender aus Montpellier gleich anfangs betont: "Si les hommes vivaient sous un régime équitable et salubre, cette question serait impertinente" (Lebten die Menschen unter einer gerechten und wohltätigen Regierung, wäre die Frage unverschämt).

Das wichtigste Verdienst der Ausgabe ist aber ein historisches. Sie macht deutlich, wie inhomogen die Aufklärungsbewegung dachte. Was man aus der Lektüre der 1779/80 eingesandten Schriften mindestens lernen kann, ist: Es gibt nicht 'die Aufklärung', sondern verschiedene 'Aufklärungen' am Ende des 18. Jahrhunderts.

Schon in dem Briefwechsel zwischen d'Alembert und König Friedrich wurde deutlich, dass man die Frage nach der Legitimität des Volksbetrugs von einem 'aufgeklärten' Standpunkt sowohl bejahen (Friedrich) wie verneinen (d'Alembert) konnte. "Die Preisfrage für 1780 brachte die divergenten Positionen an den Tag, denn, gleich welcher Couleur die Verfasser waren, sie mussten ihre Argumente offenlegen". Und das ist auch das Interessanteste an der Edition: Dass hier politische Positionen der Aufklärung nicht subkutan, sondern explizit fassbar werden. Die Mehrheit hatten damals übrigens die Befürworter des Volksbetrugs. Etwa 3:2 schlugen sie die Anhänger der Volksaufklärung. Der wichtigste Juror, das Akademie-Mitglied Nicolas Beguelin (1714-1789), glaubte dabei die Tendenz beobachten zu können, dass die Autoren, die von abstrakten Begriffen wie "Freiheit" oder "Vollkommenheit" ausgingen, die Frage verneinten, diejenigen aber, die vom real existierenden Volk ausgingen, die Frage bejahten, "um größere Übel als den Irrtum abzuwenden".

Statt nach Zustimmung oder Ablehnung der Nützlichkeit des Volksbetrugs könnte man die Einsendungen auch in drei Gruppen einteilen, meint der Herausgeber der Ausgabe: 1. Die Taktiker, 2. die Strategen, 3. die Dogmatiker. Die erste Gruppe befürwortet den Betrug des Volks zu dessen Vorteil, also als taktisches Mittel; die zweite Gruppe hält ihn nicht nur für nützlich, sondern für strategisch geboten, weil das Volk nicht aufklärbar sei; die dritte Gruppe lehnt jede Form von Täuschung ab und hält die Aufklärung für unteilbar.

Schon von ihrem Ursprung her ist die Preisfrage religionskritisch angelegt gewesen, so dass es kein Wunder ist, wenn die meisten Einsendungen die Frage nach der Religionswahrheit beziehungsweise die Rolle der Kirche mit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. "Täuschung des Volks war eine Lieblingsidee der Mönche", war die Devise der "Freygeister", von denen sich aber erstaunlich wenige an dem Preisausschreiben beteiligten. Stattdessen bemühten sich viele fromme Gelehrte um spitzfindige Unterscheidungen zwischen Irrtum und Täuschung, zwischen Religion und Aberglauben, um uns am Ende zu versichern, dass Täuschung und Irrtum "unvermeidlich" seien: "In dieser Welt können wir an keine Reinigkeit gedenken".

An die Akademiker gewandt, an die "Männer, deren Geist von Liebe zur Warheit" durchdrungen sei, gerät einer der Einsender ins Schwärmen: Forscht nur, fordert er sie auf, "warum die Hülle der Täuschung von Gott gewebt ist! Und ob es nicht Glük des grösten Theils von dem Menschengeschlecht, des Volks ist, daß diese Hülle die Warheit verbirgt. O, mögtet ihr dis wohl forschen; daß nicht die zu eilfertige Hand sie hinwegreißt, und das dem Volke zeigt, das zu erkennen, seine Augen zu blöde sind! - Ihr Edlen! Millionen können durch euch straucheln und stürzen! - Wer alle Warheit sehen kan, der mag sie sehen! Aber nicht allen sie zeigen! Denn alle können sie nicht sehen".

Es gab im 18. Jahrhundert unter den Aufklärern eine weit verbreitete Furcht vor dem Erfolg des eigenen Tuns. Die Preisfrage der Preußischen Akademie und vor allem die von ihr provozierten Antworten gehören in diesen Kontext, zu dem auch manche Antwort auf die drei Jahre später von der "Berlinischen Monatsschrift" gestellte Frage "Was heißt aufklären?" gehört. Zum Beispiel die von Moses Mendelssohn, der die Preisfrage der Akademie ungehörig fand, ein paar Jahre später aber selbst ausführte: "Die Aufklärung, die den Menschen als Mensch interessiert, ist allgemein ohne Unterschiede der Stände; die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet, modifiziert sich nach Stand und Beruf. [...] Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden. [...] Unglückselig der Staat, der sich gestehen muß, daß in ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen Bestimmung des Bürgers nicht harmonieren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne; ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zu Grunde zu gehen. Hier lege die Philosophie die Hand auf den Mund! Die Notwendigkeit mag hier Gesetze vorschreiben, oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um sie nieder zu beugen und beständig unterm Drucke zu halten!" Es gebe auch einen "Missbrauch der Aufklärung", nämlich dann, wenn sie "das moralische Gefühl" schwäche.

Auf diesen Aufsatz reagierte Mendelssohns Bewunderer August Hennings (1746-1826) am 21. Oktober 1784 irritiert: "Misbrauch der Aufklärung verstehe ich so wenig, als Dunkelheit des Lichts". Sollte denn Aufklärung auch schädlich sein können? "An und für sich freylich nicht", antwortete Mendelssohn einen Monat später, "aber zufälliger Weise, so wie das Sonnenlicht blöden Augen. [...] Der Aufklärer, der nicht unbedachtsam zufahren und Schaden anrichten will, hat sorgfältig auf Zeit und Umstände zu sehen und den Vorhang nur in dem Verhältnisse aufzuziehen, in welchem das Licht seinen Kranken heilsam seyn kann".

In seinem Brief und in seinem Aufsatz verteidigte Mendelssohn um den Preis des eigenen Verstummens die Priorität der staatlichen Ordnung vor der Aufklärung der Menschen; wohl wissend, dass ein solches Argument "von jeher Schutzwehr der Heuchelei geworden" und ihm "manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglauben zu verdanken" sei. Doch glaubte er, dass der "tugendliebende Aufklärer [...] lieber das Vorurtheil dulden" werde, als Wahrheiten zu verbreiten, die geeignet seien, "Grundsätze der Religion und Sittlichkeit niederzureißen". Ohne Rücksicht auf Verluste aufzuklären, führe zu "Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie" - eine Überzeugung, die er 1784 in der Berlinischen Monatsschrift publizierte.

Dieses Horrorquartett erschien vielen Aufklärern schlimmer als das Entbehren von Wahrheit und Freiheit. Das spiegelt sich auch in den meisten Antworten auf die von der Akademie 1777/79 ausgeschriebene Preisfrage. Nur wenige Einsender waren im Gegenteil der Meinung, dass ein "aufgeklärtes Volck [...] sich viel leichter regieren" lasse als ein "tumes" und "unendlichmal weniger zu Unruhen, Widersezlichkeit, Staats-Veränderungen, und Religions Schwärmereyen geneigt" sei, ja dass die Verteidigung des "Irrthums" bedeute: "für den Despotismus neue Ketten schmieden", weshalb die Losung nur lauten könne: "Keine Art von Täuschung kan also einem Volke zuträglich seyn". "La nature, la raison, l'experience attestent que toute erreur contre la morale est funeste au peuple" (Natur, Vernunft und Erfahrung lehren, dass jeder Verstoß gegen die Moral dem Volk verderblich ist).

Zwar hatte die königliche Akademie der Wissenschaften es "für gut befunden, bei der Ertheilung des Preises ihr eignes Urtheil über die Schädlichkeit oder den Nuzzen des Irrthums zu verschweigen und dem Publikum die Entscheidung zu überlassen" und den Hauptpreis zwischen Becker und Castillon geteilt; aber sie konnte sich nicht verkneifen, gewissermaßen außer Konkurrenz ein verspätet eingegangenes Manuskript mit einem "Sonderlob" zu bedenken: nämlich den "Beweiß, daß es dem Volcke nützlich sei, betrogen zu werden, sowohl durch die Erhaltung der alten als durch die Beförderung neuer Irrthümer" aus der Feder des Goslarer Pastors Sebastian Georg Friedrich Mund (1728-1809).

Und womit hatte Mund das Sonderlob verdient? Vermutlich mit der Eleganz seiner Darstellung, mit der sein Text in der Tat aus den anderen Einsendungen hervorsticht. "Eine Lüge, die gefällt, ist schöner als die Wahrheit", meinte der Herr Pastor mit Albrecht von Haller und fragte, warum "man dem Volcke seine alten irrigen Meinungen nicht gönnen [...] wollte"? Wie wichtig sei doch "eine glückliche Unwissenheit" für die "Gemüths-Ruhe" der Leute. Auch sei die Unwissenheit keineswegs beschämend, im Gegenteil:

"Denn so wie es einem unverheiratheten Frauenzimmer zur Ehre gereicht, unwissend in demjenigen zu sein, was verehelichten Personen nicht mehr fremd ist; so gereicht es dem Volcke zum Nutzen und Frommen, wenn ihm eine Erkenntniß versagt wird, die es zur Verschaffung seiner Bedürfnisse nicht gebraucht. Die Wissenschafften haben [...] ihre Tiefen und es gehört eine gewisse Schärfe des Blickes dazu, wenn man [...] alles recht sehen will, ohne darüber schwindlich zu werden. Wenn die aus der großen Menge darnach lüstern werden; so leidet zuverlässig ihre Arbeit und Betriebsamkeit darunter; nützliches wird nicht geschaffet und das, was ihnen aus dem Reiche der Gelehrsamkeit in die Hände geräth, das wird verunstaltet und erbärmlich verhunzt. [...] Wo haben alle abgeschmackte Meinungen in der Religion und den übrigen Wissenschafften ihren Ursprung genommen? War es nicht in den Köpfen der Halb- oder noch weniger-Gelehrten? [...] Wie wohl wäre ihnen geschehen, wenn ein Verständiger sie gleich anfangs, ehe sie zu dreist wurden, von allem Dencken zurückgehalten und ihnen die Holz-Axt in die Hand statt der Schreibfeder gegeben hätte! Ueber den Schriften des Theoprastus Paracelsus sind ohnstreitig mehr Verrückte geworden, als in Swifts Tollhause Raum hätten. Wie manch Paar brauchbare Schuhe hätte Jacob Böhme verfertigen und der Corrector seiner Schriften ausbessern können, unterdessen daß der eine, um die Welt zu erleuchten, einen Quartanten schrieb und der andere diesen Unsinn zum Drucke beförderte! Wie gut wäre es für sie und für alle diejenigen gewesen, die an solchen unverdaulichen Dingen Geschmack finden, wenn sie insgesamt des Lesens und Schreibens ganz unerfahren gewesen wären!

Das weibliche Geschlecht hat zu allen Zeiten schon manche Ansprüche an den Wissenschafften gemacht und sie auch wohl mit Nachdruck durchgesezet. Dabei habe ich auch nichts zu erinnern, so gut ich's leiden kan, daß Männer, die ernsthafte Aemter bekleiden, ganze Vormittage mit dem Koche über die Aufsäze auf der Tafel zu dem bevorstehenden Gastmahle Berathschlagungen anstellen. Allein wo nicht ein vorzüglich fähiges Genie sich blicken lässt, welches einer gelehrten Erziehung genießen, durch einen vertraulichen Umgang mit Philosophen, durch hinlängliches zeitliches Vermögen und durch Muße begünstiget werden kan, da wäre ich dennoch sehr geneigt, zu rathen, daß dieselbe lieber seine Unwissenheit und Irrthümer beibehalten, als die Gelehrsamkeit lieb gewinnen mögte. Durch alle diese vermeintliche Unvollkommenheiten werden sie an ihrem großen Berufe im geringsten nicht gehindert, an dem Berufe zu gefallen. Dagegen hat man Exempel, daß über physikalischen Untersuchungen und poetischen Morgen-Betrachtungen einer Haußfrau sehr oft die Bereitung der Mittags-Mahlzeit ins Vergessen kommt, wodurch denn ihr Mann nebst den Kindern um den Mittag genöthiget werden, mit leerem Magen traurige Betrachtungen über die Eitelkeit der menschlichen Wissenschafften an zu stellen."

Ich stelle mir vor, dass der launige Herr Pastor so lange an seinem Text herumfeilte, bis an wirklich keiner Stelle mehr klar war, was und ob hier irgend etwas ernst gemeint ist oder nicht und schließlich der Termin des Einsendeschlusses verstrichen war. Mund sandte das Manuskript trotzdem nach Berlin und verschaffte so den Juroren der Akademie und den heutigen Lesern von Adlers Edition einen Lesespaß, für den man zwischen all den ernsten Abhandlungen, seien sie frühsozialistisch oder eifernd klerikal, dankbar ist.

Was mit einem Spitzengespräch zwischen d'Alembert und Friedrich von Preußen begann, endete mit der Einsendung von 42 Abhandlungen meist wenig bekannter Aufklärer. Keiner der berühmten Autoren der Zeit hat sich an diesem Preisausschreiben beteiligt (für Becker war die Preisschrift erst der Durchbruch). Umso deutlicher wird durch diese wichtige Edition, was und wie man im Allgemeinen dachte, also unter Pfarrern, Lehrern, Ärzten, Juristen und Kneipiers (der Wirt des Gasthauses "Zum grünen Baum" in Schwäbisch-Hall beteiligte sich zum Beispiel auch an dem Preisausschreiben), also dem 'sozialarbeiterischen' Fußvolk der Aufklärung. Für die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Erforschung der Spätaufklärung ist diese Sammlung äußerst nützlich.


Titelbild

Hans Adler (Hg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d'être trompé? 2 Bände.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2007.
1178 Seiten, 182,00 EUR.
ISBN-13: 9783772823503

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