¡Desaparecida!

Erich Hackl erzählt von der spurlos verschwundenen Gisela Tenenbaum und ihren Angehörigen

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 21. Abschnitt der neuen Erzählung von Erich Hackl irritiert. Durchgängig im Konjunktiv gehalten, weiß man nicht, ob der Erzähler oder Autor - bei Hackl identisch - Oscar Mussuto, den Schwager seiner ,Hauptfigur', wirklich dazu überredete zu sagen, was er "sagen würde, wenn ihn wer fragte", oder ob seine Aussage eine Projektion ist.

Oscar ist in gewisser Weise ein alter ego des Autors. Als Schwager beziehungsweise Schwiegersohn kommt er von außen in die Familie, wie der Autor. Er ist außerdem pragmatisch und realistisch, was literarisch immer anrüchig wirkt, aber beim Überleben im wirklichen Leben hilft und die Bedingung für Literatur als Erinnerung ist. Und er beklagt, dass die Familie schweigt: "Als gäbe es da was zu verbergen. [...] Er hätte geredet, würde er sagen. Dauernd. Er hätte nicht den Mund gehalten". Das glauben wir ihm vielleicht nicht ganz, so wie wir ihn bisher kennen lernten; das Folgende aber glauben wir ihm: "Er findet dieses Schweigen gar nicht gut, würde er sagen".

Der Autor brachte die Tenenbaums zum Reden. Wie fast immer bei Erich Hackl ist die Erzählung eine aus dem wirklichen Leben. Seit geraumer Zeit hat sich Hackl "dem Erzählen von Geschichte in einem sehr engen, wörtlichen Sinn verschrieben". Seine Figuren existierten oder existieren auch außerhalb der Erzählung, was dem Autor eine enorme Verantwortung aufbürdet. Er darf nicht ins Blaue hinein fabulieren. Er müsse den Menschen seine "Zuneigung durch Treue beweisen", sagte Hackl vor längerer Zeit (in "Geschichte erzählen?", 1995). Seine Erzählungen sind oft Versuche, "verlorene Leben zu retten", meinte Hackl ein anderes Mal im Peter-Weiss-Jahrbuch 10.

So auch im vorliegenden Fall: Gisela Tenenbaum, genannt Gisi, geboren am 4. Februar 1955 im argentinischen Mendoza als Tochter ursprünglich österreichischer Emigranten, verschwand am Karfreitag, 8. April 1977, für immer. Ziemlich sicher wurde sie ein Opfer der vorerst letzten argentinischen Militärdiktatur, die "am 24. März 1976 um drei Uhr früh" begann und bis heute nicht wirklich endete - jedenfalls nicht für die Familie Tenenbaum. Gäbe es doch wenigstens ein Grab, eine Todesnachricht, irgend eine Gewissheit! "Einen Knochen von dir finden, ihn begraben, mit ihm den Schmerz begraben, dir Blumen streuen".

Das lange Schweigen der Familie war eine Folge des spurlosen Verschwindens der Tochter; "ihre Abwesenheit" habe "sie ins Schweigen gestoßen". Niemand habe sie für tot gehalten, weder die Eltern noch die Schwestern. "Zuerst war die Hoffnung. Auch der Schmerz war da, von Anfang an. Die Hoffnung verging, der Schmerz verkrustete. Und dann entstand ein neues Gefühl. Es äußerte sich verdeckt, ließ sich lange nicht bestimmen. War es Verdruss oder Erschöpfung, oder Unvermögen zu akzeptieren, was geschehen ist. Das auch, aber noch mehr." Je nach Temperament: Resignation; oder auch: Zorn und Wut, spanisch gesagt: bronca, ein "Wort, in dem auch Hass mitschwingt, Ohnmacht und Erniedrigung, dazu die Gewissheit, dass Gisis Bemühen umsonst war". "Zorn, weil Gisi sich freiwillig der Gefahr ausgesetzt hat, weil sie ihre Kräfte überschätzt hat, weil sie zu stolz war, um rechtzeitig auszusteigen, weil sie es abgelehnt hat sich helfen zu lassen, weil sie überzeugt war, das Richtige zu tun. [...] Bronca eben wegen Gisis Starrsinn, wegen ihrer Uneinsichtigkeit, wegen ihrer Zuversicht, weil die Tatsache, dass sie verschwunden ist, ihrer aller Leben prägt und weil sie das nicht bedacht hat".

Gisela Tenenbaum ist nicht einfach so verschwunden. Sie war Mitglied der peronistischen Guerilla, die die Militärjunta aus dem Untergrund bekämpfte. Als 21jährige hatte die Studentin mit ihrem Lebensgefährten beschlossen, sich den Monteneros, dem bewaffneten Arm der Peronisten anzuschließen. "Der Übergang von der Peronistischen Jugend zur peronistischen Guerilla war fließend, es gab keine ideologischen Gegensätze, und die wesentlichen Differenzen - die zwischen politischen und militärischen Strukturen, zwischen Waffenverzicht und Waffengewalt - verloren im selben Ausmaß an Bedeutung, in dem die Gesellschaft als Ganzes sich militarisierte". Gisi verschwand auf dem Weg zu einem konspirativen Treffen, das verraten worden war, wurde wohl verschleppt, gefoltert, getötet, verscharrt.

Hätte sie diesem Schicksal entgehen können? Das fragen sich die Eltern, die Schwestern, die Freunde natürlich. In ihrer Erinnerung verklärt sich Gisi womöglich zunehmend zu einer "Lichtgestalt". "Es war eine Aura um sie, wie um einen Engel", sagen manche. Man erinnert sich an ein Mädchen, das "ruhig und aufmerksam" war, "redlich und zuverlässig", "scharfsinnig" und "in allem immer so gut organisiert", mit einem "starken Willen", "sehr intellektuell", "besonnen, diszipliniert und ernsthaft" und immer "sehr responsable". Sie war meist die "Klassenbeste, in Mathematik ein Genie [...], der Stolz aller Lehrer, scheute aber keine Auseinandersetzung, wenn sie zu erkennen glaubte, dass einem Mitschüler Unrecht widerfuhr". "Sie bekam schmale Augen, vor Mitleid, vor Empörung, wenn sie zerlumpte, bettelnde Kinder sah." Und sie war eine herausragende Sportlerin; nahm als Schwimmerin an regionalen und überregionalen Wettkämpfen teil. Schon im ersten Studienjahr wurde sie, "kaum neunzehn, an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften, wo fast nur Jungen studierten und bis dahin die Rechten den Ton angegeben hatten, zur Vorsitzenden der Studentenvertretung gewählt", schaffte "spielend alle Prüfungen" und arbeitete "nebenher in einem Laboratorium".

Aber auch: "Diese fixe Vorstellung, die andern zu retten. Das Erlöser-Syndrom" hatte sie schon als Kind, meint die ältere Schwester. Und die jüngere Schwester erinnert sich an die letzten Treffen, bei denen sie entweder "Depression oder Fanatismus" zu bemerken glaubte; kein persönliches Wort mehr hätte Gisi für sie gehabt, weil sie sich in einen Soldaten verwandelt hätte und "nicht mehr Gisela Tenenbaum" war. Irgendwann hatte sich die "sehr introvertierte" Jugendliche in einen der Menschen verwandelt, bei denen sich "der unbändige Wille zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse" mit dem "Glauben" verband, "dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen Wandel mittragen werde", und mit der "Gewissheit, in einem historischen Moment zu leben, der sie verpflichtete, ihn auch herbeizuführen".

Dass Gisela Tenenbaum 1977 nicht ausstieg und sich in Sicherheit brachte, als sich ihr die Möglichkeit bot, hatte mit ihrem hohen moralischen Anspruch an sich selbst zu tun. "Ich kann meine Gefährten nicht im Stich lassen. Das war ihre Antwort. Sie hatte eine Gruppe unter sich. Sie fühlte sich verantwortlich für ihre Leute". Außerdem hätte sie es womöglich als Verrat an ihrem toten Lebensgefährten empfunden, den sie erst in den politischen Kampf hineingezogen hatte. Aufgeben hätte bedeutet, dass "Alfredos Kampf umsonst gewesen" wäre. Ihr Lebensgefährte Alfredo Escámez (geboren ein paar Tage vor dem 25. Mai 1953) war gut fünf Monate vor ihrem Verschwinden, am 27. Oktober 1976 verhaftet und verschleppt, gefoltert und ermordet worden.

All das wird von Erich Hackl einfach erzählt, ohne dass er die verschiedenen Aussagen durch irgendwelche psychologisierenden Erklärungen miteinander verbunden oder in eine Chronologie gebracht hätte, die einem klar machen soll, wie aus einem hochbegabten Mädchen eine Terroristin wird. Denn das war sie für die ,braven Bürger' und die Machthaber. Oder war sie nicht doch eine Widerstandskämpferin gegen ein faschistoides Militärregime? In der Wahl der Mittel unterscheiden sich Widerstandskämpfer und Terroristen nicht; deshalb muss man genau hinsehen, unter welchen Umständen zu den Waffen gegriffen wird, und gegen wen oder was sich der Kampf richtet. In Argentinien galt der Kampf einer Junta, die das Land und die Bevölkerung von Staats wegen terrorisierte. Und der Kampf gegen sie kam aus der Mitte der Bevölkerung, auch wenn der größere Teil des Volks von den Monteneros und ihren Zielen nichts wissen wollte.

Als Gisi und ihr Lebensgefährte in den Untergrund gingen, teilten sie dies den Eltern selbstverständlich mit. Gisis Mutter "war unheimlich zumute", als sie davon erfuhr, aber es gab kein "energisches Bemühen, sie zurückzuhalten" - vielleicht auch, weil die Eltern als Kinder vor den Nazis geflohene Juden waren. Noch heute fragen sich die Eltern, "ob sie nicht doch hätten versuchen sollen, den Willen ihrer Tochter zu brechen." Der Vater war immer "strikt gegen physische Gewalt gewesen, hatte Waffenbesitz und Waffenerwerb geächtet, es stets abgelehnt, eine Pistole oder ein Gewehr in die Hand zu nehmen, seine Kinder nie geschlagen, ihnen vorgelebt, dass es möglich ist, Widersachern, widrigen Verhältnissen allein mit Ideen und Worten beizukommen." Doch seine Tochter "verwies auf die Brutalität der Sicherheitskräfte [...]. Es gab keine Stelle mehr, an die man sich wenden konnte, wenn einem Unrecht oder Leid zugefügt oder mitgeteilt wurde. Es ging nur noch um Leben und Tod". "Wir haben sie unterstützt", sagt der Vater. "Das war selbstverständlich." "Außerdem haben sie recht gehabt", sagt die Mutter. Blinde Elternliebe oder resignative Einsicht in die objektive Gewalt der Verhältnisse? Die Erzählung lässt diese wie viele andere Fragen offen.

Zweimal spricht der Erzähler von sich, das erste Mal ganz am Anfang des Buchs: "Ich wollte, die Geschichte endete wie im Märchen", beginnt der Text. Das tat sie aber nicht. Und das tut sie nie. Gisi blieb verschwunden. Geblieben ist nur das "Geflecht aus Stimmen", das Hackl wiedergibt, also die Erinnerungen der Eltern, der Schwestern, der Freunde, alle dreißig Jahre älter geworden. Das zweite Mal tritt der Erzähler am Ende des Textes in den Vordergrund. Inzwischen weiß er durch seine Gespräche mit Angehörigen und Freunden auch Dinge, die seine "Heldin" nicht wissen konnte und nie mehr erfahren wird. Zum Beispiel die Erinnerungen der jüngeren Schwester Mónica an das letzte und das vorletzte Treffen. Der Erzähler spricht Gisi in dem 27. Abschnitt des Texts sogar an, um ihr diese Dinge mitzuteilen. Zugleich werden hier der Erzähler und die kleine Schwester auf eine Weise enggeführt, dass man zwischendurch fast versucht ist, sie zu überblenden. "Das ist die Frage, die sich Mónica stellt, immer noch: warum du weitergemacht hast, als schon alles verloren war". In gewisser Weise ist Gisi auch zu einer Schwester des Erzählers geworden, vielleicht auch zu einer Schwester der Leser. Auch diese werden sich kaum der Trauer über das unglückliche Ende des kurzen Lebens der Gisela Tenenbaum entziehen können. Durch die literarische Erzählung sind die Erinnerungen der Familie zugleich unsere geworden, alle Zweifel und das Entsetzen darüber, dass "ihre Zukunft" schon "halb hinter uns" liegt, inbegriffen.

Am Ende ist es die abermals nächste Generation, die vielleicht den Ausweg aus der Hölle der unbefriedeten Erinnerung weist. Die Mutter macht sich wieder einmal Vorwürfe ("Hätt ich Gisi nur, wär ich mit ihr bloß"); Paola aber, Gisis Nichte, die ihre Tante nie bewusst kennen lernte, antwortet: "Gisela hat gelebt, wie sie hat leben wollen. Sie hat gemacht, was sie für richtig hielt, und niemand hätte sie davon abbringen können. Sie ist aus freien Stücken und im Wissen um das Risiko ihren Weg gegangen. Sie ist zu nichts gedrängt worden. Sie hat nicht klein beigegeben".

Der Erzähler weiß nicht genau, ob ihn dies trösten kann. Aber die Dinge so zu sehen, ist wahrscheinlich die einzige Chance, die er und die Familie haben: "Und immer wieder sag ich mir, das war ihr Weg. Das ist kein Trost, aber."


Titelbild

Erich Hackl: Als ob ein Engel. Erzählung nach dem Leben.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
170 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783257065954

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