Die Gefahren der Freiheit

Katrin Thomas' innovative Untersuchung zum mutterlosen Raum in der female gothic novel

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sei "erstaunlich", dass es keine "gemeinsame und allgemein akzeptierte Definition von Raum" gebe, wundert sich Katrin Thomas, denn immerhin sei der Begriff doch in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften "[u]mfassend [p]räsen[t]". Ihr Befund trifft zweifellos zu. Es existiert tatsächlich keine allgemeine, fächerübergreifende Definition dessen, was Raum ist.

Erstaunlich ist dies allerdings keineswegs. Man denke nur daran, dass sich die weisheitsliebenden Angehörigen einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin - der Philosophie - kaum einmal auf die Bedeutung auch nur eines für ihre Fachrichtung relevanten Begriffes einigen können, und so auch darüber, was der Terminus Raum denn nun sinnvoller Weise bezeichnen kann und soll, eifrig streiten. Wie könnte es da zu der von Thomas eingeklagten interdisziplinär gültigen Definition des Begriffs kommen?

Erstaunlich ist denn auch etwas anderes, nämlich dass Thomas nur wenige Zeilen, nachdem sie ihre Verwunderung über die "verwirrende Vielfältigkeit" der Raumbegriffe ausgedrückt hat, konstatiert, dass eben diese "zwangsläufig" sei.

Thomas erhebt in ihrer jüngst erschienen Untersuchung zum Zusammenhang von mutterlosem Raum und weiblicher Identität in der female gothic novel ihre Klage über die Uneinheitlichkeit der "verschiedenen Raumvorstellungen". Ihrer Studie hat sie einen Abschnitt vorangestellt, in dem sie diverse "[a]bsolutistische und relativistische Raumvorstellungen" sowie "gendered spaces", den "relationalen Raum" und Michel Foucaults Begriff der Heterotopie vorstellt und erörtert, was nicht immer ganz ohne die eine oder andere Schwäche und Unschärfe abgeht, insgesamt aber durchaus erhellend ist.

Auf sicheres Terrain gelangt die Autorin mit dem von ihr eingeführten Topos des "mutterlosen Raums", der im Zentrum ihrer Arbeit steht und als "ein relationaler, metaphorischer Raum" definiert wird. Öffnet sich dieser Raum durch den stets bereits vor Beginn der Erzählung eingetretenen Tod der Mutter, so schließt er sich mit der Heirat der Tochter meist wieder. Neben der "Innendimension, in die die Heldin verwiesen wird", besitzt der an sich metaphorische Begriff so zudem eine zeitliche Dimension. Hinzu tritt des weiteren eine topografische: die "begehbare[n] Räume".

Bei ihnen handelt es sich nicht nur um genre-typischen Handlungsorte wie Schlösser, Labyrinthe oder Gefängnisse, sondern auch um "mehr oder weniger freiwillige Reisen" der Heldin. Wie Thomas darlegt, unterliegt der mutterlose Raum sowohl in seiner metaphorischen wie auch in seiner begehbaren 'Dimension' "bestimmten Semantisierung[en]", für die insbesondere die Erwartungen der Leserinnen sorgen, die, wie Thomas betont, "(bis heute) den überwiegenden Teil der Leserschaft" stellen. Nicht nur die Lesenden sind größtenteils weiblich. Gleiches gilt vielmehr auch für die Gruppe der AutorInnen und die ProtagonistInnen des im 18. Jahrhundert entstandenen Genres. Der mutterlose Raum bildet in der female gothic novel Thomas zufolge den zentralen Schauplatz der weiblichen Identitätsfindung und Selbstwerdung. Dabei birgt er für die Heldin sowohl "große Gefahren" wie auch "erstaunliche Freiheiten".

Wie Thomas zeigt, nutzen die Autorinnen der female gothic novel die genreüblichen Handlungs- und Darstellungskonventionen, "um innerhalb ihrer Texte gegenwartsbezogene und für ihre Leserinnen offensichtliche weibliche Rollenkonflikte zu thematisieren". Indem der mutterlose Raum "eine Art Bühne für die oft problematische weibliche Selbstwerdung im Spannungsfeld einer patriarchalischen Gesellschaft" wird, wächst die Mutterlosigkeit der Heldin über die zur Initiierung der Handlung notwendige erzählerische Konvention hinaus.

Die Textgrundlage der Studie bilden Romane aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Im einzelnen untersucht Thomas Romane von Charlotte Smith, Ann Radcliffe, Regina Maria Roche, Charlotte Bront?, Daphne du Maurier sowie eine Erzählung aus der Feder Angela Carters. An ihnen legt Thomas in drei größeren chronologisch geordneten Abschnitten die Entwicklung des mutterlosen Raumes und seiner Bedeutung für das Genre im Laufe der drei Jahrhunderte offen.

In den untersuchten Romanen von Smith, Radcliffe und Roche, die zur Entstehungszeit des Genres schrieben, durchleben die Heldinnen im mutterlosen Raum eine "äußerst aufschlussreiche und lehrreiche Zeit", während der sie ihre "eigene Identität" entdecken. Sie sehen sich dabei vor die Aufgabe gestellt, sich das "gesellschaftliche Schutzsystem" zu sichern, "ohne in die Fänge alter und überholter patriarchalischer Strukturen zu geraten". Hierbei finden sie in einem "feminised hero", der sie heiratet, Unterstützung. Dieser erweist sich zwar als "zuverlässiger, gewaltloser und manipulierbarer Partner", dabei jedoch zugleich auch als "sexuell uninteressant".

Im darauffolgenden 19. Jahrhundert wird das Thema der "Identitätsfindung und -bildung der Heldin" zentral. Während sich bei Smith, Radcliffe und Roche "die Identitätsentwicklung" der Protagonistinnen "weitgehend auf das Aufdecken bisher verborgener Verwandtschaftsbeziehungen beschränkte", steht in Bront?s Romanen "Jane Eyre" und "Villette" vor allem die "Selbstwerdung und Reifung" der Protagonistinnen im Vordergrund. Indem ihnen "eigenständige Positionierung[en]" gelingen, stärken sie ihren jeweiligen "Anspruch auf Selbstwerdung und Autonomie". Anders als noch die Heldinnen der female gothic novel des 18. Jahrhunderts werden sie "tatsächlich erwachsen".

Weit grundlegender verändert sich das Genre im Laufe der nächsten 100 bis 150 Jahre. So kommt es im 20. Jahrhundert bei du Maurier und Carter zu "wesentlichen Veränderungen des mutterlosen Raums". In du Mauriers von Hitchcock verfilmtem Roman "Rebecca" schließt er sich gerade nicht mit der Heirat der Heldin. Vielmehr wird ihre Sicherheit während der Ehe sogar noch stärker bedroht als zuvor, und in Carters Kurzgeschichte "The Bloody Chamber" macht Thomas eine "Inversion des mutterlosen Raums" aus. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, so werde die Ehe doch in beiden Werken zum "wahren (H)ort von gothic terror". Obwohl die Heldinnen von du Maurier und Carter nicht von ihren Ehemännern geschützt werden, bleiben sie keineswegs "für immer schutzlos". Wie Thomas betont, stehen sie zuletzt zwar "vor den Trümmern ihrer Ehe", doch haben sie sich im "Geschlechterkampf mit ihren Ehemännern" selbst eine "Position der Stärke" und eine "relative Unabhängigkeit" errungen. Dies, so Thomas, mache deutlich, dass die Zeit, welche die Protagonistinnen dieser beiden Autorinnen im mutterlosen Raum verbringen, noch stärker "von der zentralen Frage der Kontrolle geprägt wird", als dies bei den früheren Autorinnen des Genres der Fall war. Doch ungeachtet solcher Differenzen belegen die auch in den Werken von du Maurier und Carter weiterhin bestehenden Kategorien des mutterlosen Raums (Figuren, Orte und Bewegungen) Thomas zufolge deren "Wesensverwandtschaft" mit den mutterlosen Räumen in den Romanen von Smith, Radcliffe, Roche und Charlotte Bront?.


Titelbild

Katrin Thomas: Raum und Identität. Der mutterlose Raum und die weibliche Identität in der Female Gothic Novel (18. bis 20. Jahrhundert).
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2007.
280 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783884768914

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