Für eine reflektierte Wissenschaftsgeschichte

Hans-Jörg Rheinberger gibt einen Überblick über Theorien der Wissensproduktion

Von Matthias JohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias John

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist historische Epistemologie und wozu braucht man so etwas? Der Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Hans-Jörg Rheinberger, versteht darunter das Nachdenken über die "historischen Bedingungen unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden". Hierbei geht es nicht um eine reine Erkenntnistheorie (Epistemologie), sondern um eine historische Sicht auf die Produktion von Wissen, die Entstehungsbedingungen von Wissenschaft und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Damit ist schon in etwa angedeutet, für wen dieses Buch - neben Philosophen und Wissenschaftshistorikern - von Interesse sein könnte: besonders nachdenklichen und ihr Metier hinterfragenden Wissenschaftlern kann dieser Überblick über ein reichliches Jahrhundert wissenschaftstheoretischer und wissenschaftshistorischer Reflexionen ans Herz gelegt werden.

Wie ein Leitmotiv durchzieht die Mahnung das schmale Buch, Wissenschaftsgeschichte nicht reduktionistisch zu betreiben, etwa in Form einer Aufzählung, als Geschichte großer Männer oder als geradlinige Fortschrittsgeschichte. Als Rüstzeug für die komplexe Bearbeitung theoretisch motivierter Wissenschaftsgeschichte gibt der Autor eine illustre Anzahl von Ansätzen zu bedenken, die selbst wieder eine geschichtliche Reihe bilden. Er beginnt seine bei aller Kompliziertheit der Materie gut lesbare Darstellung mit der Debatte um Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften und den Grenzen der Naturerkenntnis (Du Bois-Reymond u. a.) am Ende des 19. Jahrhunderts. Das Buch endet mit einem Kapitel, in dem die Konzeptionen von Ian Hacking und Bruno Latour vorgestellt werden und welches Rheinberger sinnigerweise "Rezente Geschichte" nennt, die Historizität des Wissens der Gegenwart mitbedenkend. Auch wenn die Reihe der vorgestellten Autoren als eine exemplarische, Idiosynkrasien des Autors einschließende Auswahl bezeichnet wird, fällt sie doch erstaunlich umfassend und vielseitig aus.

Zu den Klassikern, die auf paradigmatische Weise zu Wissenschaftstheorie und -geschichte beigetragen haben, gehören nicht nur Mainstreamphilosophen und Forscherpersönlichkeiten wie Ernst Mach, Jules Henri Poincaré, Edmund Husserl, Ernst Cassirer, Karl Popper, Thomas S. Kuhn, sondern auch scheinbar quer zu deren Positionen stehende Autoren wie Ludwik Fleck, Gaston Bachelard, Paul Feyerabend, Alexandre Koyré oder der Dekonstruktivist Jacques Derrida. Vielfältig und verschlungen sind die Beziehungen zwischen den vorgestellten Autoren, die trotz der Knappheit der Darstellung meist pointiert biografisch skizziert werden. Die Lebensläufe der vorgestellten Wissenschaftler sind zum Teil geradlinig-akademisch, oft aber auch abenteuerlich. Der Autor verschweigt nicht den einen oder anderen Seiten- oder Umweg und nicht zuletzt dadurch gewinnt die Darstellung an Lebendigkeit und Tiefenschärfe.

Auch der philosophische Bogen ist weit gespannt: während auf der einen Seite Heideggers Nachdenken über das Wesen der Wissenschaft in Bezug zu Bachelards Theorie des Wissens gesetzt wird, so werden auf der anderen Seite die Geschichte des Experiments ebenso thematisiert wie die Begriffe des "Denkkollektives" (Fleck) oder die Vorstellung von einer "Archäologie des Wissens" (Foucault). Dabei werden alle vorgestellten Ansätze nicht einfach nur abgehandelt, sondern trotz ihrer Disparatheit elegant und plastisch nachgezeichnet und nicht nur nebeneinander, sondern tatsächlich gegenübergestellt.

Die Stärke dieses Buches liegt in dieser verdichteten Polyphonie der Darstellung, die das Interesse weckt, sich mit einzelnen Stimmen genauer zu beschäftigen und sie anhand der knapp gehaltenen Literaturhinweise weiter zu verfolgen. Allerdings ist zu befürchten, dass dies im Grunde nichts "für Anfänger" ist, weil das voraussetzten würde, dass dem Leser die Wissenschaften als historisch Gewordenes schon einmal zum Problem des Nachdenkens geworden sind. Wenn es allerdings nur darauf ankäme, sich das aktuell-kanonische Wissen zum Zweck der Berufsausübung normgerecht anzueignen, so wie das in neueren Studienplänen vorgesehen ist, braucht man Wissenschaftsgeschichte nicht als hochreflexives Geschäft, sondern tatsächlich nur als Garnierung für Jubiläen oder kurzgefasste Einleitungen. Gegen eine solche Verkürzung und Banalisierung setzt der Autor sein ambitioniertes Verständnis: Nachdenken über die Historizität des Wissens sollte Teil der Wissenschaften selbst sein.


Titelbild

Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2007.
153 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066361

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