Ohne Pathos und Belehrung

Hans-Ulrich Treichel spielt in "Der Papst, den ich gekannt habe" mit den Rollen eines Hochstaplers und Übertreibungskünstlers

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neue Erzählung des Professors am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig, Hans-Ulrich Treichel fängt hinterhältig-harmlos an. Der Ich-Erzähler beginnt seinen gut einhundert Seiten langen Monolog, indem er von seinem Vorsatz berichtet, seine Notizbücher wegwerfen und entsorgen zu wollen. "Wenn ich mir ein neues Notizbuch kaufe", erklärt er, "dann mit der besten Absicht, es auch zu benutzen." Doch: "Leider es ist nie dazu gekommen."

Vermutlich eine Handlungsweise, die manche Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen. Treichel freilich ist ein Ironiker. Zunächst in dem bekannten Sinn, dass hier das Gegenteil von dem gemeint ist, was gesagt wird. Tatsächlich hat man ja keine leeren Blätter in Händen, sondern eine leichtfüßig daherkommende Suada. In ihr spricht ein Übertreibungskünstler als Ich-Erzähler, den wir schon vom Klappentext her kennen: "Ich könnte auch sagen, daß ich so gut englisch spreche, wie ich Klavier spiele. Denn ich spiele sehr gut Klavier. Beneidenswert gut. Englisch ist meine erste Fremdsprache gewesen und Italienisch nur meine dritte. Sie können sich also ausrechnen, wie gut ich Klavier spiele, wenn das Italienisch, das ich besser als so mancher Italiener spreche, nur meine dritte Fremdsprache ist."

Die andere Seite der Treichelschen Ironie geht dann auf, wenn wir weiterlesen und den Erzähler, den Meister unverschämtester Hyperbolik, irgendwie ernst zu nehmen versuchen. Uns geht es dabei wie dem Chefarzt, der den berühmten Hochstapler Uwe Postel, einen Briefträger, der als Arzt gearbeitet hat, fragte, worüber er seine Doktorarbeit geschrieben habe. Postel antwortete "Über die Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann", und der Chefarzt wurde ob dieser Antwort nicht sofort stutzig. Oder vielleicht wurde der Arzt stutzig und ließ den Arzt spielenden Briefträger einfach gewähren. Schließlich lesen wir die Erzählung eines Mannes, der zugleich Professor an zwei verschiedenen Universitäten ist, in zwei verschiedenen Fächern. Er ist liiert mit einer us-amerikanischen Kunsthändlerin, besitzt eine Galerie in New York und ein Diplom für Tiermedizin, arbeitet als Entwicklungshelfer und, und, und.

Peter Sloterdijk widmet sich im zweiten Band seiner "Kritik der zynischen Vernunft" der "Naturgeschichte der Täuschung" und erklärt den Hochstapler der Weimarer Republik wie Felix Krull, Hauptmann von Köpenick, Harry Domela zum Zeittypus par excellence, in dem sich "die chronische Komplexitätskrise des modernen Bewußtseins" aufs Schönste zeige. Sloterdijk diagnostiziert für den Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine "Aufweichung des Gefühls für das Zuverlässige". Hochstapler nutzen diesen Verlust für die Zwecke der eigenen kriminellen Karriere. Kriminell ist an Treichels Ich-Erzähler freilich nichts. Er repräsentiert eher das Diktum des Philosophen: "Was früher Hochstapelei hieß, nennt sich heute Expertentum."

Letztlich werden wir, Leserinnen und Leser von Hans-Ulrich Treichel, im Unklaren darüber gelassen, wie es sich mit der Karriere des Erzählers tatsächlich verhält. Vielleicht ist er gar kein Hochstapler, sondern ein bloßer Übertreibungskünstler. Giorgio Armani hat einmal festgestellt, dass jede Übertreibung schlecht sei. Dem ist mit Günther Anders entgegenzuhalten, dass Übertreibung in der Literatur einen berechtigten Platz hat. Sein eigenes Verfahren beschreibt er so: "Wenn wir es für erforderlich halten, Wahrheiten, die von Interessengruppen unterdrückt werden, sichtbar zu machen, dann müssen wir diese erst einmal pastoso, mit zu dickem Pinselstrich, präsentieren. Dazu gehört sogar, daß wir Potentielles [...] so behandeln, als wäre es bereits etwas Faktisches; in jedem Falle aber, daß wir Erscheinungen, die, weil ihnen Namen nicht vergönnt werden, 'namenlos' gefährlich bleiben, mit Namen belegen."

Hans-Ulrich Treichel gelingt es mit dieser wunderbaren Erzählung Wahrheiten sichtbar zu machen. Nicht wenig in virtuellen Zeiten.

Kurz vor der Erzählung erschien ebenfalls bei Suhrkamp ein Bändchen mit etwa 80 Gedichten des Autors aus den letzten Jahren. Sie sind für einen, der gemeinsam mit Josef Haslinger versucht hat, die Frage "Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller?" zu beantworten, bemerkenswert unambitioniert geraten. Oder positiv vermerkt: Die Texte kommen locker, ohne Pathos und Belehrung daher. Sie scheinen oft durch biografische Umstände ausgelöst zu sein, reflektieren Erlebnisse oder Wahrnehmungen auf Reisen: "Mauersegler / Er kam durchs Fenster herein / ein Geschoß aus Panik / ein irrer Pfeil / der zickzack flog / gegen die Tür / die Wände krachte / Plötzlich war Krieg im Haus".

Der Ich-Erzähler in "Der Papst, den ich gekannt habe" berichtet davon, dass er, weil er "einfach zu viel gelesen" habe, mit dem Lesen aufgehört hätte. Hören Sie mit dem Lesen erst auf, nachdem Sie zumindest zuvor noch den beiden hier vorgestellten Bändchen eine Chance gegeben haben.


Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Der Papst, den ich gekannt habe. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
119 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419328

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Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Südraum Leipzig. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
96 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418734

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