Wenn die Nachtigallen ihr Konto überziehen

Der "arme B.B.": von einem wohlmeinenden Bremer Autorenkollektiv gründlich missverstanden

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Enthüllungsbuch! "In diesem Buch wird die Vereinnahmung Bert Brechts durch die bundesdeutsche Elite aufgedeckt und anhand der Analyse ausgewählter Texte deren gesellschafts- und kapitalismuskritischer Kern freigelegt."

Endlich also erfahren wir, was Brecht, dieses widerspruchsvolle Subjekt, wirklich gedacht hat, was er uns sagen wollte und vor allem: was wir heute noch "mit ihm anfangen" können und sollen.Der schmale Sammelband eines Bremer Autorenkollektivs verspricht eine kritische Lektüre der Brechtrezeption diesseits der nunmehr eingerissenen Mauer. Was davon eingelöst wird, ist, was die 'offiziöse' Verarbeitung des Brecht-Klischees in Politikerfestreden angeht, zuweilen von enttäuschender Banalität.

In (literatur-)wissenschaftlicher Hinsicht bewegen sich die Beiträge eher an der Oberfläche und demonstrieren, wo sie sich auf Brecht'sche Texte einzulassen suchen, zu weiten Teilen ein grundlegendes Missverständnis der "Sprachgewalt" eines Dialektikers. Auf den uneinheitlichen und zuweilen lückenhaften Umgang mit - zum Teil nicht mehr aktuellem - Quellenmaterial, die stilistischen und damit oft auch sachlichen Mängel sowie einige orthografische Fragwürdigkeiten, die wohl dem Verlag anzulasten sind, sei nur am Rande hingewiesen.

Gesellschafts- und Kapitalismuskritik sind die Leitbegriffe dieser weniger text- als ideologiekritisch verfahrenden 'Studie': Sie lassen sich, weitgehend unwidersprochen und natürlich auch nicht vollends zu unrecht, mit einer als "moralisch" zitierten Instanz namens Brecht identifizieren und so im Vorgang der Rezeption als Essenz jedweder Äußerung (re-)konstruieren. Das mag nicht selten zu zutreffenden Ergebnissen führen, schließlich ist der Dichter Brecht hinsichtlich seiner "politischen" Haltung kein unbeschriebenes Blatt. Darum sehen die Autoren des vorliegenden Bandes im 100. Geburtstag des Stückeschreibers im Jahr 1998 und seinem 50. Todestag 2006 gleich zwei willkommene vergangene Anlässe für Politiker, Feuilletonisten und Wissenschaftler, ihr Bild dieses vielgesichtigen Autors zu bewerben.

Der, den sie als "Dichter, Kommunist und Agitator" auf einen konsequent antinationalen, antibürgerlichen, antikapitalistischen Kurs festschreiben (wollen), erscheint ihnen in diesen Darstellungen, so formuliert die Herausgeberin Wendula Dahle wiederholt, mit einer "teure[n] Zigarre mit schwarz-rot-goldener Banderole" zu einem Repräsentanten der bundesdeutschen political correctness umgewertet: Als Kind der "freundlichen bayrischen Wälder" sieht man ihm den Irrweg über den 'falschen' deutschen Staat, wie in "An die Nachgeborenen" erbeten, nach und reklamiert ihn nunmehr als integrationsbereiten 'Ossi' für das gesamtdeutsche Projekt - was hier den Herren Stoiber, damals Landesvater auch der Brecht'schen Geburtstadt Augsburg, und Roman Herzog, dem zweiten Präsident des wiedervereinigten Deutschland, an agitatorischem Potenzial zugeschrieben wird, scheint zuweilen den Redenschreibern zu schmeicheln.

Während der Bundespräsident a.D. mit seinem Verweis auf den notorischen Fragensteller Brecht diesem nicht unbedingt Unrecht tut, konzentriert sich Stoiber, wie nicht anders zu erwarten, ganz auf die gemeinsamen bayrischen Wurzeln und bastelt sich mit dem gebürtigen Augsburger einen humorvollen Volksdichter zurecht, über dessen politisches Verhalten im Rahmen einer Festrede großzügig hinweggesehen werden könne.

Absicht dieser recht punktuellen Interpretation der beiden Reden ist der Nachweis einer im Interesse einer bundesdeutschen Einheitsideologie praktizierten "Umdeutung des Brechtschen Kommunismus". Was also aufklärerischen Zwecken dient und jene die Tatsachen verfälschenden Mechanismen des Politikerjargons ins Visier nimmt, wie sie Brecht selbst zum Gegenstand seiner Kritik macht, reicht leider nicht über die Demonstration eines Grundverdachtes hinaus. Dabei scheitert die Demaskierung des - zweifellos nicht von der Hand zu weisenden - populistischen Interesses an einer als 'linke Ikone' kursierenden Figur wie Brecht an der allzu offenkundigen Inszenierung solcher Lobreden im Rahmen eines Polit-Theaters, dem durch textkritische Verfahren alleine nicht beizukommen ist.

Daran schließt sich ein grundsätzliches Problem, das die Betrachtung der Brecht'schen Schriften in dem hier geäußerten sozialwissenschaftlichen Interesse selten zu vermeiden versteht - und das mit dem Verweis auf einen subjektiv anerkannten 'höheren' Wert des "künstlerische[n] Wort[es]" nicht aufzuheben ist: Weniger Brechts 'Appelle' aus dem Gedicht "Lob des Lernens" erweisen sich, wie hier suggeriert, als Fata Morgana, sondern vielmehr der kurzsichtige Schluss, die ästhetisch vermittelten Andeutungen in den Brecht'schen Texten seien als programmatische Äußerungen des Individuums Brecht zu verstehen und dementsprechend wörtlich zu nehmen. Vor allem die Interpretation des den "Kinderliedern" zugewiesenen Gedichts "Der liebe Gott sieht alles" zeugt von dieser Naivität, die den Charakter dieses Ge- beziehungsweise Verbotsreigens nur unzureichend erfasst: Was als impliziten Adressaten ein zu erziehendes Subjekt nennen mag, zieht vielmehr die Figur des Erziehungsberechtigten in Verantwortung, die mit dem 'Re-Produzenten' jener altbekannten Weisheiten im Rahmen des Gedichts zitiert wird. So gewinnt der Leser wider besseres Wissen jene intellektuelle Distanz zum Geschehen, die ihm erst den widersprüchlichen Charakter des floskelhaft wiedergegeben bürgerlichen Erziehungskanons kenntlich macht. Diese dialektische Perspektive empfiehlt es sich mitzulesen: Sie erklärt, weshalb "die gereimte Form" tatsächlich "eine Art Verfremdung wohlvertrauter Sprüche darstellt", was hier - irrtümlicherweise - als "gründlicher Irrtum" präsentiert wird.

Dementsprechend ist auch die als krönender Abschluss vorgelegte Lesart des, wie hier flapsig behauptet wird, "mit Hexametern aufgepeppten" Kommunistischen Manifests wenig stichhaltig. Die restriktive Sichtweise, die dem Projekt eine primär agitatorische Funktion zumisst und die wie auch immer geartete künstlerische Gestaltung nur als "Garantieschein [...], auch wichtig und revolutionär zu sein", betrachtet, muss zu derart obsoleten Schlüssen führen wie: "Daß Arbeiter [...] keine Lehrgedichte in Hexametern lesen werden, muß ihm auch klar gewesen sein." Brecht als 'Arbeiterdichter' ist nicht ohne Brecht als Theoretiker der ästhetischen Form zu verstehen: Zu rezipieren ist er daher zuallererst als ein dialektisch Denkender. Lesern, wie den hier zitierten, hält er vielmehr selbst entgegen: Die "Ansicht, es sei nötig, im Proletariat unterzutauchen, ist konterrevolutionär". Solche Versuche der Identifikation, das demonstriert Brecht schließlich in der Theatertheorie und -praxis, gründen auf der Selbstillusionierung durch "Einfühlung" und münden in die (Ent-)Täuschung über eine Eindeutigkeit, die sich als gerade nicht widerspruchsfrei erweist.

So hätte Brecht die "teure Zigarre mit schwarz-rot-goldener Banderole" wohl gar mit demselben Genuss aufgeraucht, den er zur Rezeption seiner (Kunst-)Werke anempfiehlt: Er mag sie wohl einfach "als Material betrachtet" haben, das sich im Sinne einer produktiven Aneignung der kapitalistischen Denk- und Verhaltensmuster "verwerten" lässt. Das Resultat dieses 'Produktionsprozesses' bleibt, wie Walter Benjamin formuliert, innerhalb des "literarischen Rahmens" und manifestiert durch diese Eigenschaft, die es ästhetisch rezipierbar macht, seinen Charakter als kunstvoll 'eingekleideter' Wider-Spruch zu den Prinzipien der kapitalistischen (Über-)Produktion. Auf diesem Verfahren, das die Konventionen der Literaturrezeption buchstäblich 'ver-wendet' und über sie hinausreicht, beruht Brechts Selbstverständnis als kritischer Autor - und damit das Missverständnis der hier diskutierten Interpretationsansätze.

Was mit einem Hinweis auf die gelegentliche Verwendung des Verfremdungseffekts nur ansatzweise erfasst wird, lässt sich jedoch durch einen im Text herangezogenen Vergleich als unwillkürliche Demonstration der Methode bebildern. Wo, wie in der Kritik der bürgerlichen Erziehungsmoral angedeutet, die Grillen - hier im Verein mit den sangestüchtigen Nachtigallen - von den (lohn-)arbeitenden Ameisen an die Kreditinstitute verwiesen werden, erweist die bekannte Äsop'sche Fabel ihren 'Materialwert': Ihre Umwidmung zeigt, dass die "Verhältnisse [...] nicht so [sind]", wenn das Kapital als 'moralische' Instanz fungiert.

Dass die zu Beginn erklärte Absicht, in einer Reihe kritischer Analysen zu zeigen, was man mit Brecht heute "noch anfangen könne", auf eine so wenig einleuchtende Weise realisiert wird, ist bedauerlich. Brecht als Kapitalismuskritiker ist zweifellos von ungebrochener Bedeutung - doch gleiches gilt für Brecht als dialektischen Denker, der die Kritik als Erkenntnis- und diese als Sprachkritik handhabt: Er vermittelt sie über die literarische Darstellung und die entsprechenden Konventionen der Rezeption und sucht als 'dichtender Denkender' - zumindest in programmatischer Hinsicht - der Festlegung auf eindeutige Parolen zu entgehen. In der wohlmeinenden Absicht, eine politische Vereinnahmung bloßzustellen, die zweifellos nicht im Sinne des Dichters sein mag, wird hier jedoch ein gleichartiger Anspruch auf einen Kapitalismuskritiker Brecht erhoben, dem man aber den Dichter und Dialektiker nicht abnehmen will. Dieser neuerlichen Vereinahmung mag er sich allerdings - mit dem bekannten listigen Lächeln - einmal mehr selbst entziehen: "Wen immer ihr sucht, ich bin es nicht."


Titelbild

Wendula Dahle (Hg.): Die Geschäfte mit dem armen B.B. Vom geschmähten Kommunisten zum Dichter "deutscher Spitzenklasse".
VSA Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, Hamburg 2007.
174 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783899652093

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