Vielfältige Rezeptionen

Das vierte Interdisziplinäre Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt deutet das Hohelied als Kultur(en) erschließendes Medium

Von Katja MalschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Malsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das alttestamentliche Hohelied, das Lied der Lieder, kann als Paradigma einer Sprache der Liebe interpretiert werden. Seit über 2000 Jahren wird es rezipiert und adaptiert. Es belegt den Rang des meistkommentierten biblischen Buches nach dem Psalter. Dennoch kommt ihm nicht in jeder Hinsicht die Aufmerksamkeit zu, die ihm gebührt. An systematisierenden Materialsammlungen mangelt es ebenso wie an Darstellungen, die die Hohelied-Rezeption über größere Zeiträume hinweg überblicken, was angesichts der Fülle von Übersetzungen, Kommentaren und künstlerischen Bearbeitungen aber kaum verwundert. Eine Herausforderung ist insbesondere die hohe Zahl an Fachkompetenzen, derer es bedarf, um eine umfassende Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte zu erarbeiten.

Das Hohelied ist nicht nur Gegenstand der Theologie, Judaistik und Orientalistik, sondern auch der Liturgie-, Literatur-, Kunst und Musikwissenschaft, um nur die Disziplinen zu nennen, die im Februar 2006 beim vierten Interdisziplinären Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt zusammengekommen sind und das alttestamentliche Buch ins Zentrum des Interesses gerückt haben. Die Initiatorin der Tagung, die Musikwissenschaftlerin Ute Jung-Kaiser, formuliert das ambitionierte Vorhaben des Symposions als Frage: "Liebeslyrik als Kultur(en) erschließendes Medium?" Das impliziert die These, dass Liebeslyrik erstens nicht nur Traditionen der eigenen, sondern auch fremder Kulturen aufgreift und dadurch gleichsam amalgamierende Funktion haben kann; zweitens dass sich an unterschiedlich gestalteten Liebesgedichten etwas über den Kulturraum, in dem sie entstanden oder bearbeitet worden sind, und damit zugleich über die jeweilige Anthropologie und Liebeskonzeption ablesen lässt.

Ganz so breit, wie in der Frage angedeutet, war die Tagung dann aber doch nicht angelegt. Was das Hohelied betrifft, antwortet der Sammelband, der das Symposion dokumentiert, jedoch umgehend: "Kultur(en) erschließend ist es insofern, als es einen Schmelztiegel babylonisch-assyrischer, hethitischer, kanaanäisch-ugritischer, altägyptischer Kulturen darstellt. Auch die Beschreibungslieder, welche die Schönheit des/der Geliebten besingen, sind grenzüberschreitend, denn ihre Sprache bedient sich unterschiedlicher Bildtraditionen." Es wäre wünschenswert gewesen, der weitaus umfassenderen Frage nach der Kultur erschließenden Bedeutung von Liebeslyrik generell ebenfalls nachzugehen.

Der Sammelband enthält zunächst eine knappe, gut informierende und flüssig lesbare Einleitung der Herausgeberin, gefolgt von zwei theologischen Beiträgen, die sehr behutsam in die - auf den ersten Blick befremdliche - Bildlichkeit des Hoheliedes einführen, leider aber darauf verzichten, Impulse für weitergehende Fragestellungen zu entwickeln. Daran schließen sich 16 Beiträge an, von denen sich mehr als zwei Drittel musikwissenschaftlichen Fragestellungen im weiteren Sinne widmen. Untersucht werden sowohl Vertonungen von Palestrina, Bach und Grieg als auch Bearbeitungen zeitgenössischer Künstler wie Violeta Dinescu, Alexander Knaifel, Walter Gieseler oder Hans Zender.

Unter den restlichen Beiträgen befinden sich nur zwei literaturwissenschaftliche, wobei allein die Mediävistik berücksichtigt worden ist. Jürgen Schulz-Grobert aus Marburg geht beispielsweise der Hohelied-Rezeption in der weltlichen mittelhochdeutschen Liebeslyrik nach, was bislang ein Forschungsdesiderat ist. Schulz-Grobert beschränkt sich allerdings darauf, so räumt er selber ein, "einige bekannte und weniger bekannte Beispiele vorzustellen", mithin zusammenzutragen, aber nur ansatzweise zu deuten. In diesem Rahmen weist er nach, dass es der weltlichen Liebeslyrik, wenn sie wie im Mittelalter Hoheliedverse und -topoi aktualisiert, tatsächlich möglich ist, Kulturen zu verbinden und zu erschließen. Ein weiterführendes Beispiel wäre in diesem Zusammenhang sicherlich auch der "Tannhäuser", der in diesem Aufsatz nicht erwähnt wird. In der neueren deutschen Literatur finden sich ebenfalls zahlreiche Anspielungen auf das Hohelied (selbst nach Herder, etwa bei Heine, Droste-Hülshoff und Lasker-Schüler), über die man beim Symposion hätte sprechen und die der implizierten These, Liebeslyrik würde Kulturen erschließen, hätten zuarbeiten können.

Überzeugend und auch für die literaturwissenschaftliche Analyse anregend ist der Beitrag des Mainzer Liturgiewissenschaftlers Ansgar Franz, der die Hohelied-Rezeption im deutschen Kirchenlied untersucht. Anders als Schulz-Grobert wendet er sich dem großen Bereich der Erbauungsliteratur zu und analysiert sowohl geistliche Brautlieder (wie "Ich will dich lieben, meine Stärke") und Marienlieder ("Sagt an, wer ist doch diese") als auch neuere Beispiele im niederländischen Kirchenlied (unter anderem des dichtenden Pfarrers Sytze de Vries, der ebenfalls mit einem Beitrag vertreten ist). Franz macht dabei auch auf die Bedeutung von Johann Arndt aufmerksam und führt die entsprechenden Verweisstellen aus dessen "Paradies-Gärtlein" auf. Im Anhang präsentiert er außerdem eine Übersicht über deutsche Kirchenlieder in neueren Gesangbüchern, welche Hohelied-Motive aufgreifen. Diese und andere Materialsammlungen, insbesondere die ganz am Ende des Sammelbandes, könnten zu weiteren Untersuchungen führen, womit bereits eines der Ziele von Tagungsdokumentationen erreicht wäre.

Zu den großen Stärken zählt, dass neben den wissenschaftlichen Beiträgen auch die Arbeiten einiger zeitgenössischer Musiker, Dichter, bildender Künstler und Fotografen aufgenommen wurden, die am Symposion teilgenommen und es mitgestaltet haben. Zudem dokumentiert der Sammelband drei Podiumsdiskussionen zur Bedeutung des Hohenliedes für die Kirchen heute und zur jüngeren Hohelied-Rezeption in Vertonungen und in der bildenden Kunst. Ein besonderes Augenmerk verdient auch die Begleit-CD, die unter anderem Ausschnitte aus musikalischen Hoheliedbearbeitungen enthält, die anlässlich der Tagung (ur- )aufgeführt wurden. Beim letzten Track der CD handelt es sich allerdings um einen Mitschnitt der grandiosen Hohelied-Parodie von und mit Robert Gernhardt und Pitt Knorr vom 04.Februar 2006. Nicht zuletzt um dieses Hörerlebnisses willen lohnt sich die Anschaffung des Sammelbandes.


Titelbild

Ute Jung-Kaiser (Hg.): Das Hohelied. Liebeslyrik als Kultur(en) erschließendes Medium?
Peter Lang Verlag, Bern 2007.
442 Seiten, 79,30 EUR.
ISBN-13: 9783039107773

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