Der weibliche Geist des Widerspruchs

Günter Gentsch begleitet Lady Mary Montagu auf ihrem ungewöhnlichen Lebensweg

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie zwar niemand weiß, jedoch alle leicht vermuten könnten, ist unser aller Planet nichts weiter als eine Strafkolonie, auf die Aliens ihre Schwerverbrecher verbannen. Zwar ist jeder von uns überzeugt davon, er sei der einzige außerirdische Strafgefangene unter all den Menschen. Tatsächlich aber gibt es überhaupt keine Ureinwohner des Planeten und alle anderen sind ebenfalls Verbannte aus allen Teilen der Galaxis.

Nein, natürlich stimmt das alles gar nicht, sondern ist nur ausgedacht, und zwar von Ulrich Horstmann, der nicht nur die andropofugale Philosophie entworfen, sondern neben zahlreichen aphoristischen, essayistischen und literarischen Werken auch einen zwar nur schmalen, aber äußerst unterhaltsamen und amüsanten Science-Fiction-Roman verfasst hat: "Das Glück von Omb'assa" (1985), dessen Schauplatz kein anderer als die besagte Strafkolonie ist. Von Profession ist Horstmann allerdings weder Literat noch Philosoph, sondern Amerikanistikprofessor. Als solcher hat er sicherlich nicht nur die amerikanische Literatur fleißig studiert, sondern wohl auch den einen oder anderen Blick in die englische Literaturgeschichte riskiert, wobei er womöglich auf eine adlige Dame aus dem 18. Jahrhundert gestoßen ist, die bereits im Jahre 1727 erklärt hat, "dass wir auf Erden in einem Zustand der Strafe existieren".

Wer weiß, vielleicht hat Horstmann sich von dieser Feststellung sogar zu seinem Roman inspirieren lassen. Doch nicht nur er, sondern ein noch weit bekannterer Pessimist scheint von der englischen Lady inspiriert worden zu sein: Arthur Schopenhauer himself, der den zweiten Band seines Hauptwerkes "Die Welt als Wille und Vorstellung" (Bd. 1 1819, Bd. 2 1847) bekanntlich mit der Feststellung einleitet: "Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat". Etwa ein Jahrhundert zuvor hatte Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) - von der hier als möglicher Inspiratorin Horstmanns und Schopenhauers die Rede ist - zu einer ganz ähnlichen Metapher gegriffen und festgestellt, "die Erdkugel sei im Grunde nichts anderes als ein holländischer Käse, der von Milben bevölkert ist".

Bei diesem letzten Ausspruch handelt es sich allerdings nicht um ein direktes Zitat Lady Montagus, sondern um eine indirekte Wiedergabe aus einer Biografie, die Günter Gentsch nun über die vor allem als Orientreisende bekannt gewordene Autorin verfasst hat. Gentschs weitläufige Belesenheit springt einen fast auf jeder Seite förmlich an. Dies ist für die Lesenden zwar ebenso informativ wie lehrreich, doch neigt der Biograf gelegentlich zu allzu ausgreifenden Abschweifungen unter anderem über die Literatur-, Kultur-, Wissenschafts- und Weltgeschichte.

Meist spricht Gentsch von seiner Protagonistin als "Lady Mary". Nennt er sie allerdings bei ihrem Nachnamen, setzt er den bestimmten Artikel davor. Spricht er also von "Montagu", ist ihr Gatte gemeint, schreibt er aber "die Montagu", so sie selbst. Damit signalisiert Gentsch - obgleich wohl kaum willentlich oder auch nur bewusst -, dass es sich bei namentlich genannten Menschen zunächst einmal ganz selbstverständlich um Männer handelt, die ja bekanntlich nicht nur den Lauf der Weltgeschichte, sondern auch den Alltag bestimmen. Man kann also auf den männlichen Artikel vor dem Namen verzichten. Sollte aber mal eine Frau gemeint sein, so muss diese Ausnahme durch den vorangestellten weiblichen Artikel deutlich gemacht werden. Somit perpetuiert Gentsch zwar eine - im Übrigen nur noch selten anzutreffende - patriarchalische Redeweise, immerhin erliegt er aber nicht der in Biografien ansonsten üblichen Unart, die Protagonistinnen schlicht beim Vornamen, die Protagonisten beim Nachnamen zu nennen. Meistens nicht, jedenfalls. Denn auf den letzten Seiten greift auch Gentsch immer häufiger zum Vornamen seiner Protagonistin und nennt ausgerechnet die nunmehr alte Dame schlicht "Mary".

Gentsch charakterisiert seine Protagonistin als "nüchtern denkende Realistin", die sich eines "angeborene[n] Charme[s], Witz[es] und künstlerische[r] Fertigkeiten" erfreuen durfte. Zudem sei ihr zumindest in jungen Jahren ein "ethische[r] Rigorismus" eigen gewesen, der sich bereits im Frühwerk der "femme de lettres aus dem britischen Hochadel" niedergeschlagen habe, die sich mit ihren "sarkastisch-unverblümte[n] wie welthaltige[n] Bekenntnisse[n] und Kommentare[n]" zeitlebens nicht nur etliche Freunde sondern auch nicht eben wenige Feinde schuf. Ihre Feststellung, "daß in der ganzen Welt der Priester lügt und der Pöbel glaubt", wird zumindest in klerikalen Kreisen wenig Beifall gefunden haben.

Lady Marys Selbstwahrnehmung, der zufolge der "weibliche Geist des Widerspruchs" in ihr wirkt, ist also zweifellos zutreffend. So gab sie in einem Brief aus dem Jahre 1710 etwa ein von Gentsch als "pointiert kritisch" und "emanzipiert" charakterisiertes Statement ab, dem zufolge die "Torheit" so sehr als "eigentliche Sphäre" des weiblichen Geschlechts betrachtet werde, "dass uns eher jegliche Exzesse jener Art [der Torheit] verziehen werden als die geringsten Ansprüche auf Lektüre oder gesunden Verstand". Später stellte sie ihre geistreiche Ironie und ihre "gediegenen literarischen und ästhetischen Kenntnisse" nicht nur als Briefschreiberin sondern auch als Literaturkritikerin unter Beweis. In den Jahren 1737-38 gab sie sogar eine Wochenzeitschrift mit dem auf das konservativ-populistische Konkurrenzblatt "Common Sense" anspielenden Titel "The Nonsense of Common-Sense" heraus.

Wie Gentsch betont, verlor Lady Mary "[b]ei allem" mit den Jahren "gewachsenen Renommee und all ihren vielfältigen Verbindungen zur Welt der Literatur, Musik und bildenden Kunst" keineswegs ihre "feministischen Aspirationen". So setzte sie sich "in demonstrativer Missbilligung der herrschenden, patriarchalisch geprägten Meinung" für die als "Ehesünderin" gebrandmarkte Mary Yonge ein und wies in zwei Gedichten 1724 darauf hin, dass deren "als Karrierist, Mitgiftjäger und Libertin weithin bekannte[r] Mann" der "wahre Verursacher des Skandals" war. Erst in ihren letzten Jahren verlor Montagu die, wie Gentsch meint "illusionshafte" Radikalität einiger ihrer feministischen Hoffnungen und Vorstellungen.

Neben dem "Wille[n] zur Selbstbehauptung gegenüber der Mitwelt" und dem ihr Leben wesentlich bestimmenden "Drang [...] zu neuen Erfahrungshorizonten vorzudringen", besaß Lady Mary schon früh "recht fest umrissene Vorstellungen von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern", die etwa besagten, "Liebe und Ehe [seien] miteinander unvereinbar".

Um einer zwangsweisen Geldheirat mit einem ungeliebten Mann zu entgehen, ließ sie sich als blutjunges Mädchen von dem elf Jahre älteren Edward Wortley entführen, den Gentsch als einen "in seiner gediegenen Bildung und seinem Engagement in Politik und Geschäftsleben zwar bemerkenswerte[n], indes allzu ernsthaft-grüblerische[n] und prinzipientreu veranlagte[n] Mann" beschreibt.

Im August 1716 traten die beiden eine gut zweijährige Orientreise an, die den Grundstein dafür legte, dass die spätere Autorin der "Letters from the East" (1763, deutsch "Briefe der Lady Worthley Montagu, geschrieben während ihrer Reisen durch Europa, Asien und Afrika" 1784 und unter dem Titel "Briefe aus dem Orient" 1962) auch heute noch nicht in Vergessenheit geraden ist. Ihr Weg führte die Reisenden über deutsche Städte wie Köln, Dresden und Nürnberg, sodann nach Prag, Wien, Budapest, bis nach Konstantinopel. Von dort über das Mittelmeer an die Nordküste Afrikas westlich der Großen Syrte. Über Italien und Frankreich, wo sie Livorno, Genua Turin, Lyon und natürlich Paris besuchten, gelangten sie im Oktober 1718 nach London zurück.

Es ist diese Reise, die Montagus Ruhm begründete. Genauer gesagt sind es die "höchst geist- und gehaltvolle[n] Briefe", die sie von unterwegs "an zum Teil illustre Persönlichkeiten" sandte. Noch genauer gesagt: die später von ihrer Autorin überarbeiteten Fassungen dieser Briefe, die den wenige Monate nach ihrem Tod veröffentlichten Band "Letters from the East" bilden. Wenn Gentsch deren Verfasserin als "gleichermaßen unbestechlich beobachtend wie elegant formulierend" preist, so widerspricht dem ersten Teil dieses Lobes allerdings die Skepsis, mit dem er den einen oder anderen ihrer Berichte aufnimmt. Dies gilt namentlich für die von der Orientreisenden sehr gerühmten Freiheit der Musliminnen. Es sei "sehr leicht zu sehen, daß sie wirklich mehr Freiheit haben", als ihre englischen Geschlechtsgenossinnen, erklärt Lady Mary und meint die Ursache hierfür in der Verschleierung entdeckt zu haben. Denn durch sie sei es selbst "dem eifersüchtigsten Ehemann nicht möglich, seine Frau zu erkennen", wenn er sie irgendwo auf der Straße trifft. So gebe diese "ewige Mummerei" den Frauen die "völlige Freiheit, ihrer Neigung ohne Gefahr der Entdeckung zu folgen". Man könne sich also vorstellen, "daß die Zahl getreuer Weiber sehr gering in einem Land sein muß, wo nichts von der Schwatzhaftigkeit eines Liebhabers zu befürchten ist", schließt sie nicht ganz den Gesetzen der Logik gemäß. Gentsch, der Montagus Reisebericht immer wieder mit denjenigen anderer Orientreisender (namentlich Ida Pfeiffer und Ida von Hahn-Hahn) vergleicht, bezweifelt diese "gewiss anfechtbare Lobpreisung der Lebensweise türkischer Frauen" mit dem Hinweis, dass sie "in den danach von namhaften Orientreisenden verfassten Berichten alles andere als Bestätigung" fand. In einem "delikaten Punkt" jedoch seien einige "Orientkundige" durchaus mit Lady Marys Darstellung "konform" gegangen: "dem durch die 'Mummerei' beförderten Hang türkischer Frauen zu außerehelichen Liebesaffären".

Mehr Aufsehen als Montagus Ausführungen über die vermeintlichen Freiheiten der Türkinnen, erregte seinerzeit allerdings etwas anderes. Montagu hatte in der Türkei die dort bereits übliche, in England allerdings noch unbekannte Pockenimpfung kennen gelernt und machte sie nach ihrer Rückkehr in England publik. Ihre Hoffnung, dass die schützende Maßnahme sich auf der Insel bald durchsetzen würde, wurde allerdings bitter enttäuscht. Denn ihre umtriebigen "Aktivitäten als Wegbereiterin der Pockenimpfung" trugen ihr nicht etwa überwiegend Lob sondern vor allem Tadel ein.

Insbesondere von zwei Seiten wurden kritische Stimmen laut. Zum einen startete der orthodoxe Reverend Edmund Massey einen "Frontalangriff" gegen die Pockenimpfung, die er als eine "dem Willen Gottes zuwiderhandelnde Aktion" geißelte. Mindestens ebenso heftig wie von Kirchenmännern wurde Montagu zudem von ärztlicher Seite angegriffen. So etwa von William Wagstaffe, der Gentsch zufolge seinerzeit als "medizinische Kapazität" galt: "Die Nachwelt wird vielleicht kaum dahin gebracht werden zu glauben, dass ein Experiment, ausgeführt von nur einer Handvoll unwissender Frauen inmitten eines analphabetischen und unwissenden Volkes, auf einmal und nach unzureichender Erprobung so weit in einer der verfeinertsten Nationen der Welt obsiegte, dass es selbst vom königlichen Palast anerkannt wird." Als Grund für die in derlei Ausfälligkeiten ausartende Ablehnung der Pockenimpfung vermutet Gentsch, dass die an den Pockenkranken nicht schlecht verdienenden Ärzte durch die populärer werdenden Impfungen eine sprudelnde Geldquelle in Gefahr geraten sahen.

Vor, während und nach ihrer Orientreise stand Lady Mary in vielfältigem Kontakt mit zahlreichen Berühmtheiten ihrer Zeit, unter ihnen Voltaire, Rousseau und Montesquieu, der "mehr als nur platonische Freundschaft" für sie empfand.

Gleiches galt noch in stärkerem Maße für Pope, der sich Hals über Kopf in Montagu verliebt hatte und auf ihre Abweisung mit brennendem nie verlöschendem Hass reagierte, der sich in den übelsten Verleumdungen bahnbrach. Mithilfe eines Wortspiels und "zotiger Andeutungen" rückte der Verschmähte die einst angebetete "in die Nähe des Dirnenmilieus". Vermutlich hat Gentsch so ganz unrecht nicht, wenn er urteilt, die Widerwärtigkeit der "ehrabschneidenden Attacken" Popes, der in seiner "gnadenlose[n] misogyne[n] Kampagne" gegen Montagu "die ganze Klaviatur der Infamien und Unflätigkeiten" einsetzte, seien "kaum zu übertreffen".

Zwar schwieg die Lady zunächst zu allen ehrenrührigen Anwürfen, schlug dann jedoch nicht weniger brutal und gehässig zurück, wobei sie ihre Antworten vorerst allerdings nicht (wie Pope die seinen) drucken, sondern nur in privaten Kreisen kursieren ließ.

In den 1720er-Jahren überschritt Lady Mary Gentsch zufolge den Zenit ihres Ruhmes. Zu Beginn des darauffolgenden Jahrzehnts verstarb ihr Mann. Weitere vier Jahre später, 1736, lernte die inzwischen 47-Jährige den Venezianer Francesco Algarotti kennen und verliebte sich in den gerade einmal halb so alten Mann, der die geradezu hörige Frau nun über Jahrzehnte hinweg ausnutzen, betrügen und um nicht unbeträchtliche Summen bestehlen sollte. Völlig unter seine Kontrolle geraten, verbrachte Montagu die letzten Jahrzehnte ihres Lebens zunächst in Italien und später in Frankreich; teils "rastlos" reisend, meist aber in Venedig. Auch ihre politischen, religiösen und gesellschaftlichen Vorstellungen änderten sich mit zunehmendem Alter. In den 1750er-Jahren "verabschiedete sie sich endgültig von ihrem jugendlichen Traum einer Gleichheit aller Menschen" und wandelte sich zur "Verteidigerin der anglikanischen Glaubensartikel".

Erst kurz vor ihrem Tode gelang es Montagu, sich der Kontrolle Algarottis zu entziehen. Nach Jahrzehnten des Exils kehrte sie nun nach London zurück, wo sie mehrere Monate später starb. Man schrieb den 21. August 1762, als Lady Marys "mit [...] viel[en] glänzenden Triumphen und desaströsen Niederlagen markierte Lebensbahn" endete.


Titelbild

Günter Gentsch: Roulette des Lebens. Die ungewöhnlichen Wege der Lady Mary Montagu.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein im Taunus 2008.
404 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783897412385

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