Grenzen des Nachholens

Helmuth Plessners Verwicklung von Leben und Denken

Von Henrike LerchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Henrike Lerch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helmuth Plessner (1892-1985), Biologe, Philosoph und Soziologe, stand und steht im Schatten seiner Zeitgenossen - vor allem in dem Martin Heideggers und Max Schelers. Auch wenn sein Name in intellektuellen Kreisen der Nachkriegsgesellschaft gefragt war, so wird erst nach und nach die Reichweite des Denkens dieses wichtigen Vertreters der Philosophischen Anthropologie entdeckt.

Mit der historischen Biografie "Nachgeholtes Leben" legt Carola Dietze nun ein Werk vor, das die Hindernisse für eine gelungene Rezeption aufzeigt, aber auch auf Zeitbezogenheit und Aktualität der Gedanken Plessners verweist. Dietze erzählt nicht einfach seine Lebensgeschichte nach, sondern verknüpft diese mit den Brüchen und Kontinuitäten seines Denkens und liefert zugleich einen Beitrag zur zeitgeschichtlichen Forschung. Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs - es handelt sich hierbei um eine mit dem Hedwig-Hinze-Preis des deutschen Historikerverbands ausgezeichnete Dissertation - ist das Werk gut lesbar. Es stellt nun die erste Biografie Helmuth Plessners, die sich umfassend auf den Nachlass, auf Briefwechsel und Interviews mit Weggefährten sowie seiner Frau stützt.

Das Schicksal eines Intellektuellen in der Weimarer Zeit, der keiner philosophischen Strömung zuzuordnen ist, der als "Vierteljude" nach Holland emigriert und voller Zweifel Anfang der 1950er-Jahre reemigriert, ist ein geschickt gewähltes Thema. Dietze gelingt es anhand dieses Einzelschicksals auf die zerstörerische Kraft der Nazi-Diktatur, die Schwierigkeit der Wiedereingliederung und den problematischen wissenschaftlichen Neuanfangs der Bundesrepublik einzugehen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt deshalb auf den Jahren im und nach dem Exil. Damit unterscheidet sich Dietzes Studie von bisher vorgelegten Biografien, die sich auf den Denkansatz Plessners konzentrieren und deshalb vor allem die Jahre bis 1933 in den Vordergrund rücken. Diese Jahre der Bildung sind bewusst kurz gehalten, dabei werden aber von Anfang an die Hindernisse seiner Karriere betont, das Fehlen einer Zugehörigkeit zu einer Schule, der Plagiats-Vorwurf Schelers gegenüber dem Hauptwerk "Die Stufen des Organischen und der Mensch", sowie das zeitgleiche Erscheinen von Heideggers "Sein und Zeit", der zu einem übermächtigen Gegenspieler avancierte.

Hervorgehoben wird außerdem die Entwicklung seines politischen Denkens, das zum Ende der Weimarer Republik in "Macht und menschliche Natur" erheblich konservativer und elitärer, fast schon deutschnational geworden war. Diese Einstellung verändert sich durch die Erfahrung des Nationalsozialismus. Plessner erfährt die "Grenzen der Gemeinschaft" am eigenen Leib. Die Mechanismen der Ausgrenzung und vor allem das Lehrverbot zwingen ihn Deutschland im Jahre 1933 zu verlassen. Versuche, sich durch eine ordentliche Professur zugleich auch wissenschaftlich etablieren zu können, scheitern jedoch ebenfalls im Ausland.

Aufnahme erfährt er in Groningen, doch wurde er sich, trotz freundlichen Empfangs an der Universität, der kulturellen und wissenschaftlichen Differenzen bewusst. Positiv gewendet, ermöglichte das Exil einen Blick von außen, "mit anderen Augen", auf das Heimatland. Er setzte sich mit dem "Schicksal des deutschen Geistes" auseinander und entwickelte seine These der "verspäteten Nation", mit der er zu begründen versuchte, warum es gerade in Deutschland zu einer faschistischen "Machtergreifung" gekommen war.

Philosophisch kann dieser Abschnitt seines Lebens als Verkörperung der exzentrischen Positionalität gesehen werden. Mit dem Begriff "exzentrischen Positionalität" kennzeichnet Plessner die Sphäre des Menschen, der sich - im Gegensatz zum Tier - den Grenzen seines Körpers bewusst ist und deshalb auf sich selbst reflektieren, sich selbst von außen sehen kann. Plessner wurde zum Grenzgänger, er hielt zu einigen Freunden und Kollegen in Deutschland Kontakt, brach mit anderen, reiste zunächst noch häufig in seine Heimat und etablierte sich zunehmend im holländischen Exil. Dort würdigte man seine Arbeit - wenn auch kaum finanziell - immerhin symbolisch mit einer Stiftungsprofessur für Soziologie, womit der Philosoph und Biologe endgültig auch zum akademischer Grenzgänger wurde. Durch das persönliche Schicksal in seinem philosophischem Ansatz bestätigt, arbeitete Plessner produktiv weiter, bis es durch die deutsche Besatzung Hollands zur erneuten Entlassung kam. Plessner tauchte unter. An einzelnen Punkten wird der Weitblick von Dietzes Arbeit deutlich: Plessners Nöte und Sorgen im Exil und im Untergrund werden mit den einschlägigen Forschungsergebnissen und anderen Schicksalen konfrontiert, wodurch es auch zu einer kritischen Überprüfung der bisherigen Emigranten-Forschung kommt.

Die Auseinandersetzung mit Thesen der historischen Forschung verstärkt sich, wenn es um die Frage der Rückkehr nach Deutschland geht. Die Frage, ob man in die Heimat zurückkehren soll oder nicht, wurde unter den Emigranten, aber auch mit Daheimgebliebenen vielfältig diskutiert. Plessner hatte, trotz starkem Rückkehrwunsch, starke Bedenken. Wie er vor allem von nationalsozialistischen Parteigängern aufgenommen werden würde, ob die Demokratie halten und wie sich Deutschland insgesamt entwickeln sollte, waren offene Fragen. Erschwert wurden sämtliche Möglichkeiten, einen Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten, durch Maßnahmen der Besatzer, durch den Zusammenbruch der Kommunikationswege und geschlossene Grenzen.

Plessner blieb zunächst in den Niederlanden, wurde dort weiter geachtet, erhielt seine erste ordentliche Professur, verlor aber nie das Stigma, ein Emigrant zu sein. Ausführlich werden vor allem die Verhandlungen an den Deutschen Universitäten Köln, Hamburg und Göttingen dargestellt. Briefe und Kommissionsprotokolle zeigen, dass ein Interesse an Plessner als Philosoph vorhanden war, es aber auch von verschiedenen Seiten Widerstände gab. Die Dokumentation des zähen Ringens spiegelt wieder, dass weder Plessner als Person noch als emigrierter Deutscher von allen willkommen geheißen wurde. So musste er auch, nachdem er schon seine holländischen Kollegen von seiner wissenschaftlichen Leistung überzeugt hatte - 1951 in Göttingen, er war als Professor für Soziologie berufen - für Anerkennung kämpfen.

Plessner, gewillt die verlorenen Jahre aufzuholen, erhielt wichtige Positionen in universitären und wissenschaftlichen Gremien und wurde zu einem häufig gefragten Gutachter, mischte sich in Fragen der Zeit ein und war allerorten mit ehemaligen Parteigängern konfrontiert. Dietze konzentriert sich auf den letzten Punkt, wodurch ihre Arbeit ein wirklicher Beitrag zur historischen Forschung wird, denn die philosophische und soziologische Rezeption und Wirkung Plessners wird weitgehend ausgelassen. Anhand des Umgangs mit Kollegen, Studenten und Freunden wird Hermann Lübbes These der "nicht-symmetrischen Diskretion" überprüft. Hier wird evident, dass es durchaus ein Schweigen zur Nazivergangenheit gegeben hat, ein Schweigen, das aber in bestimmten Situationen durchbrochen wurde. Neben Charakterzügen Plessners verweist Dietze auf die Strategie, in die Zukunft zu fragen. Welche Gefahren für die Demokratie - die Plessner bei weitem noch nicht gefestigt sah - ergeben sich aus den Theorien oder dem Verhalten bestimmter Kollegen. Eingegriffen wurde, wie der Fall Gehlen zeigt, wenn Plessner antiliberale Wirkungen befürchtete. Dieses umfangreiche Kapitel ist ein aufschlussreiches Stück Wissenschaftsgeschichte, es zeigt die Spannungen des universitären Betriebs in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo Schweigen auch ein Mittel des Selbstschutzes und der Macht darstellte.

Dass das Nachholen des Lebens seine Grenzen hat, ist offensichtlich. Bei Plessner äußert es sich im Fehlen eines weiteren großen Werkes. Sein eigener Lebensweg bestätigt ihm seine philosophischen Positionen, weshalb diese mehrfach variiert werden. Fragen der Zeit waren drängender, als eine Weiterentwicklung des Werkes, mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen griff er produktiv ins Zeitgeschehen ein.

Somit endet die Biografie an ihrem Ausgangspunkt. In Plessners Leben zeigt sich eine interessante Beziehung von Leben und Werk, sein Schicksal ist Beispielhaft vor allem für nach Holland emigrierte Wissenschaftler, und mit der Etablierung nach der Rückkehr eröffnet sich ein Blick auf die Diskussionen in der Universität der 1950er- und 1960er-Jahre. Gleichzeitig wird ein Denker gewürdigt, der sich grenzüberschreitend und öffentlich für Offenheit, Toleranz und Demokratie eingesetzt hat, das Projekt der Moderne trotz des Wissens um den Holocaust verteidigte und dessen Begründung der Individualität gegen Gemeinschaftsideologien nichts an Aktualität verloren hat.


Titelbild

Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
622 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3835300784

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