Von der Oper bis zur Badekur

Ulrich Rosseaux schreibt über die Freizeitkultur Dresdens im 18. Jahrhundert

Von Mathis LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathis Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Dezember 2006 ist die sächsische Landeshauptstadt Dresden um eine Attraktion reicher. Yadegar Asisi, Künstler und Privatunternehmer, präsentiert in einem ehemaligen Gasometer ein Panoramabild, das den Besucher in das 18. Jahrhundert katapultiert. Die Idee erwies sich als Renner. Erst kürzlich ging durch die Presse, dass die zeitlich begrenzte Schau nun länger gezeigt werden soll als ursprünglich geplant.

Nur wenige der Besucher des Dresdner Panometers dürften sich der Tatsache bewusst sein, dass derartige Installationen im späten 18. Jahrhundert erfunden wurden. 1787 meldete der Brite Robert Barker ein Patent für ein Rundgemälde an und präsentierte ab 1791 in London erstmals ein Panorama der Inselmetropole. Der Erfolg blieb nicht aus. 1799 ging er mit einem zweiten Rundgemälde Londons sogar auf eine Tournee über den Kontinent, die über Hamburg und Leipzig nach Dresden führte. Der Zuspruch des Publikums war groß und die Schau musste mehrfach verlängert werden. Barkers Panoramen waren nur die ersten in einer Reihe von Rundbildern, die einem breiten Publikum, das sich kostspielige Reisen nicht leisten konnte, zu einer "Reise mit den Augen" verhalf.

Die Erfindung des Panoramas ist nur ein Beispiel aus einer Fülle von Unterhaltungsformen, die Ulrich Rosseaux in seinem Buch über "Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden" untersucht. Er nimmt sich damit eines Gegenstandes an, der zwar in der angelsächsischen Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten etabliert ist, aber in der deutschen Historiografie bislang nur sporadisch aufgegriffen wurde. Insofern trägt seine Studie durchaus Pioniercharakter. Heuristisch erfolgt der Zugriff auf die Freizeitpraktiken des langen 18. Jahrhunderts über neuere raumsoziologische Theorien, die Räume nicht als euklidische Größen, sondern als "soziale Räume begreifen, die sich durch die Handlungen der historischen Akteure konstituierten und deren Veränderungen daher vom Wandel eben jener kulturellen Praktiken abhingen, durch die sie entstanden waren". Auf diese Weise vermeidet Rosseaux die anachronistische Verwendung unseres heutigen Freizeitbegriffs, für den die Opposition zur Arbeitszeit prägend ist - eine Opposition, die der Frühen Neuzeit fremd war.

Die Freiräume untersucht Rosseaux in sechs Etappen, die die höfischen Festivitäten der augusteischen Epoche, den Dresdner Karneval und die Verstetigung von Theater- und Opernaufführungen genauso berücksichtigen wie die Freizeit- und Unterhaltungspraktiken von Innungen und Zünften, die Darbietungen von Schaustellern auf Jahrmärkten und die Entstehung von Parken, Bädern und 'Spaziergängen' als städtische und stadtnahe Erholungsräume. Abgerundet wird die Studie durch die Untersuchung von neuen Unterhaltungs- und Geselligkeitsformen, die erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkamen. Die Arbeit beschreibt also nicht nur die verschiedenen Freiräume und deren Entwicklungstendenzen, sondern schreitet zugleich auch von den Freizeit- und Unterhaltungspraktiken des frühen 18. Jahrhunderts zu jenen des frühen 19. Jahrhunderts voran.

Quasi im Vorbeigehen eröffnen sich dabei immer wieder interessante und auch überraschende Einblicke in vergangene Lebenswelten, und mehr als einmal erweisen sich anscheinend periphere Untersuchungsbereiche als kulturgeschichtlich höchst aufschlussreich. Gleich zu Beginn seiner Untersuchung zeichnet Rosseaux etwa das Ringen um die Etablierung einer Straßenbeleuchtung in der Stadt nach - eine Voraussetzung dafür, dass die Nacht als Zeitraum für Vergnügen und Unterhaltung gewonnen werden konnte. Trotzdem verliert sich Rosseauxs Studie nicht in der Fülle seiner Detailbeobachtungen. Zwar sind die Erkenntnisse, die der Verfasser beim Durchmessen der Freiräume gewinnt, nicht immer neu, aber dank der Zusammenschau gelingt ihm ein frischer Blick auf "drei große zentrale Entwicklungslinien", die er mit den Schlagwörtern "(1) Wachstum und Ausdifferenzierung, (2) Öffnung und Kommerzialisierung, (3) Permanenz und Veralltäglichung" (319) zutreffend charakterisiert.

Rosseauxs Studie über Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden ist also nicht nur materialreich, sondern liest sich nicht zuletzt aufgrund zahlreicher kurioser Details und Beobachtungen zumindest streckenweise selbst auch recht unterhaltsam. Kritisch anzumerken bleibt allenfalls, dass der neuartige raumsoziologische Zugriff teilweise über ältere institutionsgeschichtliche Ansätze kaum hinausführt. Im Mittelpunkt stehen letztlich doch die Einrichtungen und Anstalten, und nicht so sehr die Lebenswelten und Handlungen der historischen Akteure. Auch wird nicht ganz klar, wovon diese Räume denn eigentlich 'frei' waren. Gerade die heraus präparierten Entwicklungslinien verdeutlichen, dass die untersuchten Räume auf mannigfaltige Weise in gesellschaftliche Zusammenhänge, Entwicklungstendenzen und Zwänge eingebettet waren. Ob die durchschrittenen Unterhaltungs-, Vergnügungs- und Erholungsräume aber auch als 'Frei'-Räume empfunden wurden, könnte letztlich wohl nur durch den Rückgriff auf Selbstzeugnisse geklärt werden, die etwas über die Einordnung dieser Räume in individuelle und gesellschaftliche Sinnhorizonte aussagen. Eine historische Anthropologie der von Rosseaux analysierten Räume steht also noch aus.


Titelbild

Ulrich Rosseaux: Freiräume. Unterhaltung, Vergnügung und Erholung in Dresden (1694-1830).
Böhlau Verlag, Köln 2007.
415 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783412005061

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