Vom überzeugten Linken zum Renegaten

Andrea Reiter über Leben und Werk von Hans Sahl

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als kritischer Linker, der schon als Schüler Marx und Engels gelesen hatte, löste sich der deutsch-jüdische Schriftsteller Hans Sahl, der 1933 vor Hitler und seinen Anhängern über Prag nach Paris geflüchtet war, schon 1937 nach dem Bekanntwerden der stalinistischen Verbrechen, also früher als manche seiner Weggenossen, von der im Exil vorherrschenden Moskauer Parteilinie - unter bösesten Anfeindungen, ja Gefährdung seines eigenen Lebens. Zudem bedeutete unter den Bedingungen des Exils die Absage an den Kommunismus auch den Verlust materieller Unterstützung. Wenn man nicht, wie Manès Sperber, Kontakte zu Verlegern im Emigrantenland nutzen konnte, fiel man leicht ins Bodenlose. Auch der am 20. Mai 1902 in Dresden geborene Hans Sahl hatte Mühe, im Exil sein Auskommen zu finden, selbst noch in Amerika, wohin er mit Hilfe Varian Frys 1941 entkommen war. Zunächst berichtete er als Kulturkorrespondent deutschsprachiger Zeitungen über Theaterpremieren und Kunstausstellungen in New York und übersetzte Stücke von Thornton Wilder, Dramen von Alfred Kazin, Arthur Miller, John Osborne, Tennessee Williams und anderen amerikanischen Autoren. Achtzig Übersetzungen stammen allein von ihm.

1952 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft dankbar an. Dennoch fühlte er sich nie als Amerikaner. Aber auch in Deutschland konnte Sahl nach dem Krieg anfangs nicht mehr heimisch werden. Das Gefühl, noch nicht Amerikaner und nicht mehr Europäer zu sein, beherrschte ihn lange Zeit. So war er 1958 von einem kurzzeitigen Deutschlandaufenthalt mit der Überzeugung nach Amerika zurückgekehrt, dass er in Europa "nicht mehr ganz dazugehörte".

"Früher saßen wir zwischen zwei Stühlen. Jetzt sitzen wir zwischen zwei Kontinenten", bekannte er noch 1949 gegenüber Erich Kästner. Dafür fühlte er sich als Mittler zwischen Amerika und dem deutschen Sprachraum.

Sahl, der in den frühen dreißiger Jahren gerade erst begonnen hatte, sich einen Namen zu machen, hatte wie so viele andere jüdische Intellektuelle mit seiner Flucht aus Deutschland sein Lesepublikum verloren und war in die Namenlosigkeit zurückgeworfen worden, die er im Exil nur schwer überwinden konnte. Denn mit Sahls eigenen Büchern taten sich Verlagslektoren und Kritiker im Deutschland der fünfziger Jahre schwer, insbesondere mit seinem Roman "Die Wenigen und die Vielen", da sich dieser Prosatext offenbar jeder Kategorisierung entzog.

Erst in den siebziger Jahren wurden Exilforscher auf den Schriftsteller aufmerksam. Besonderen Eindruck machte sein Gedichtband "Wir sind die Letzten" mit dem gleichnamigen, nach einem Gespräch mit deutschen Gymnasiasten verfassten Gedicht: "Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. Wir tragen den Zettelkasten...". Später folgten seine beiden Erinnerungsbände "Memoiren eines Moralisten" (1983) und "Das Exil im Exil" (1990) sowie andere Bände mit Erzählungen und Essays.

Von nun an erhielt er Preise und Besuche von jungen Journalisten. 1989 kehrte er, nachdem der erste Versuch, sich mit der Heimat zu arrangieren, am Klima der Adenauer-Zeit gescheitert war, 87-jährig nach Deutschland zurück. Vier Jahre später starb Hans Sahl am 27. April 1993 in einem Vorort von Tübingen - als einer der letzten Zeugen der ideologischen Auseinandersetzungen, die das 20. Jahrhundert geprägt hatten.

Andrea Reiter, Jahrgang 1957, Senior Lecturer und Parkes Fellow an der Universität Southampton in England, erzählt Sahls schicksalshaften und wechselvollen Lebensweg und analysiert, anhand bislang nicht ausgewerteten Archivmaterials und mit kritischem Bezug auf Sahls Werk, die Exilidentität des Schriftstellers, die sie mit dem Begriff "Exterritorialität" umschreibt und damit in erster Linie Sahls doppelte Ortlosigkeit benennt.

Vor allem wertet Reiter Sahls Texte, Briefe und Terminkalener sowie Rezensionen seiner Bücher und Bühnenstücke minutiös und gewissenhaft aus. Sie zeigt, wie sich Sahls Einsicht in seine Unzeitgemäßheit in seinem schriftstellerischen Werk niedergeschlagen hat und fügt Passagen aus seinen Büchern ein, die eine Vielseitigkeit bekunden, die man bei diesem Autor auf den ersten Blick gar nicht vermutet hätte. Ausgreifend zeichnet sie Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung" und Emmanuel Lévinas' Verantwortungsethik nach, die nicht ohne Einfluss auf Sahls Denken und Werk geblieben sind. Immerhin steht Sahls Verantwortungsbewusstsein in engem Zusammenhang mit seinem Schuldbegriff. Dabei untersucht die Autorin auch, wie sich das Prinzip Verantwortung mit Sahls Narzissmus vereinbaren lässt, den Hermann Broch in seiner Korrespondenz mit Sahl wiederholt konstatierte. Sie diskutiert Sahls Einstellung zum Judentum, seine im Tagebuch fest gehaltenen Überlegungen zur Religion und seine Ansichten über Formen christlicher Ethik, die er bei Max Weber und Pierre Teilhard de Chardin kennengelernt hatte. Daneben findet man Exkurse über Diaspora-Theorien, über "Identität und Diskurs", eine Untersuchung über Sahls Verbindung zur Linken in der Emigration, über Manès Sperbers Rolle im Schutzverband deutscher Schriftsteller und etliches mehr, wobei die Verfasserin Gefahr läuft, vieles zu erklären, was Lesern, die sich hin und wieder schon mit Exilliteratur befasst haben, nicht ganz unbekannt sein dürfte. Gleichwohl bietet der Band mit seinen ausführlichen Literaturhinweisen und seinem Register wichtige Informationen und mannigfaltige Anregungen.


Titelbild

Andrea Reiter: Die Exterritorialität des Denkens. Hans Sahl im Exil.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
398 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302235

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