Literarische "Landvermessung"

Christof Hamanns Roman "Usambara" oder der Lauf einer Familiengeschichte

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einer Konjunktur historisch-literarischer Welterkundung wird man vielleicht nicht gleich sprechen müssen. Doch ein verstärktes Interesse an Erzählungen der historischen Weltaneignung ist unübersehbar, wie die erneute "Vermessung der Welt" Daniel Kehlmanns ebenso bewiesen hat wie das starke Interesse, das etwa das Werk Georg Forsters seit geraumer Zeit findet, oder wie die Neupublikation von Reiseberichten, Briefen, Tagebüchern einer Therese von Bacheracht aus Java. Nicht zuletzt von Erzählungen und Romanen, die literarisch genauso spannend sind wie eine Neuausgabe von "Sankt Thomas", einer Geschichtserzählung von Wilhelm Raabe.

In dieses Koordinatenfeld einer (neuen) literarischen Landvermessung gehört auch Christof Hamanns Roman "Usambara". Es ist nach seinem hochgelobten Erstling "Seegfrörne" (2001) und "Fester" (2003) sein dritter Roman, eine gleichermaßen ironisch-augenzwinkernde wie melancholisch-traurige sowie heiter-ernste Familiengeschichte über vier Generationen.

Hamann beginnt sie bestrickend einfach: "Für Leonhard Hagebucher begann Afrika mit einem Veilchen. Aus dem morastigen Untergrund heraus nahm er sich das, was er sah, mit größter Sorgfalt vor. Später sagte er: ein Wunder, und alle, die zuhörten, glaubten ihm. Sie wussten, wie sehr er auf der Suche gewesen war. [...] Von jeher galt, dass Hagebucher seine Beine bewegen musste. [...] [U]nd je nachdem, welche Schuhe er trug oder wie der Untergrund beschaffen war, konnte man als geneigter Zuhörer gesteppten Kompositionen lauschen. Nur wenn es gar nicht anders ging, ließ er auch das sein. [...] Von den Hagebuchers sagte man von Anfang an, dass sie es vor allem mit den Beinen hatten. Sie konnten, so hieß es, träumen mit ihren Beinen. Sich wegträumen an Orte, die noch kein Mensch gesehen hatte. Vom Lehnstuhl zum Krater ist es nur ein kleiner Schritt. Also los."

Wie klein der Schritt vom Lehnstuhl zum Krater tatsächlich war und ist, erfährt selbst Hagebuchers Urenkel Fritz Binder, Postbote im Wuppertaler Briller Viertel, einem "Schlaraffenland für Postboten". Denn die in der Familie überlieferten Expeditionsgeschichten des Erfurter Gärtners und Traumtänzers Leonhard Hagebucher bestimmen sein Leben bis in die Schreibgegenwart. Schließlich soll Hagebucher, so die tradierte Familiengeschichte, Ende des 19. Jahrhunderts an zwei bedeutenden Expeditionen in Ostafrika unter der Führung des Leipziger Verlegers, Forschers, Politikers und Erstbesteigers des Kilimandscharo Hans Meyer teilgenommen und dabei jenes Usambaraveilchen entdeckt haben: "Da waren nur er und diese Pflanze, die mal einzeln, mal in kleinen Gruppen blühte und die von Ferne an die ihm vertrauten Veilchen erinnerte. Er betastete die fleischigen, mit wasserhellen Härchen überzogenen Blätter, oben dunkelgrün, auf der Unterseite schimmerten sie rötlich; er strich mit den Fingerspitzen über die fünfblättrigen, meist violetten, manchmal ins Blaue driftenden Blütenkelche, über die gelben Staubfäden."

Doch kurz darauf, bei einem Aufstand unter der Führung des arabischen Rebellenführers Buschiri bin Salim, soll Hagebucher jene zarte Pflanze auch gleich wieder verloren haben. Und auch im folgenden Jahr, als er mit Meyer und dem Bergsteiger Ludwig Purtscheller als Erster den Kilimandscharo bestiegen habe, soll - so will es die Familienüberlieferung - Leonhard Hagebucher mit dabei gewesen sein. Wieder gelingt es ihm nicht, jenes zarte und robuste Veilchen mit nach Hause zu bringen. Zwei vom Urgroßvater auf Fritz überkommene Briefe könnten möglicherweise den Familienmythos erhellen. Doch Fritz getraut sich nicht, sie übersetzen zu lassen.

Schließlich sind für ihn die urgroßväterlichen Abenteuergeschichten seit frühster Kindheit prägend. Nicht nur, dass er gleichsam im Sandkasten die Erlebnisse Leonhard Hagebuchers nachspielt, nein, noch Jahre später will er sich seinen Traum erfüllen, auf den Originalschauplätzen der Hagebucher'schen "Heldentaten" zu wandeln. Der überraschende Tod der Mutter bringt Fritz etwas Bares in die klamme Kasse, so dass er sich für den "Kilimandscharo-Benefit-Run" anmeldet. So ist es auch für Fritz "vom Lehnstuhl zum Krater nur ein kleiner Schritt". Bei der Vorbereitung auf den Lauf - vor allem am Obersalzberg - und dem schließlich tatsächlich in Angriff genommenen Kibo-Run verschieben sich die Erzählebenen, die Perspektiven Hagebuchers und seines Urenkels immer stärker ineinander. Die Annäherung an den Urgroßvater wird immer größer, worunter auch Fritz' Beziehung zur boxenden Camilla Becker, der ehemaligen Krankenschwester seiner Mutter, zu leiden beginnt. Mehr sei an dieser Stelle über diese schelmische Familien- und Abenteuergeschichte nicht verraten, außer, dass Christof Hamann mit "Usambara" eine fantasievoll-gesteppte Komposition gelungen ist.


Titelbild

Christof Hamann: Usambara.
Steidl Verlag, Göttingen 2007.
259 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865215574

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