Geometrie der Liebe
Hazel Rowleys (allzu) intime Annäherung an Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre
Von Walter Wagner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSie war eine "der berühmtesten Memoirenschreiberinnen aller Zeiten" und Galionsfigur des Feminismus. Sie war aber auch eine engagierte Intellektuelle und Ikone des französischen Existentialismus. Die Rede ist von Simone de Beauvoir, der langjährigen Freundin, Begleiterin, Mitstreiterin und Mitdenkerin von Jean-Paul Sartre, die am 9. Januar 2008 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte.
Zahlreiche Publikationen haben sich aus diesem Anlass dem Leben und Wirken der bekannten französischen Schriftstellerin angenommen, die in der Öffentlichkeit nach wie vor als weibliche Hälfte eines die Zeiten überdauernden mythischen Liebespaares begriffen wird. Dieses romantische Klischee versucht die amerikanische Schriftstellerin Hazel Rowley in der vorliegenden Biografie "tête-à-tête" zu konterkarieren, indem sie in bisher unveröffentlichte Korrespondenz Einsicht nimmt, noch lebende Freunde befragt und vor allem Beauvoirs Werk einer neuerlichen Lektüre unterzieht.
Der Blick hinter die Kulissen bringt unzählige schlüpfrige Details aus dem turbulenten Privatleben von zwei der maßgeblichsten französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts ans Licht und zeigt die enge Verbindung von Begierde, Eifersucht und Lüge unter der Patina wechselseitiger Hingabe. Dabei wird klar, dass dieses Souveränität und Gleichberechtigung verkörpernde Paar in Wahrheit unter seiner emotionalen Asymmetrie litt. Der geniale Denker Sartre entpuppte sich nämlich als Fixstern, den neben Beauvoir ein ganzer Hofstaat von Liebhaberinnen, Verehrerinnen und Schwärmern umkreiste.
Doch zurück zum Anfang. Im Jahr 1929 bestehen Beauvoir und Sartre, die beide Philosophie in Paris studiert haben, die agrégation, das strengste und zugleich schwierigste Staatsexamen, das eine gesicherte Beamtenlaufbahn im Schuldienst garantierte. Sartre schließt als Jahrgangsbester ab, Beauvoir liegt nur zwei Punkte hinter ihm. Der jungen Frau, die als zu intelligent gilt, um eine "gute Partie" zu sein, eröffnet dieses Diplom ungeahnte Chancen. Zum einen hat sie sich damit gegen den Widerstand der Familie selbst verwirklicht, zum anderen kann sie sich durch eine Karriere als Lehrerin finanzielle Unabhängigkeit und eine für die damaligen Verhältnisse immense Unabhängigkeit schaffen, in der Familie und Kinder freilich nicht vorgesehen sind. Denn Beauvoir will vor allem eines sein: Frau und Mensch. Damit subvertiert sie die uralten weiblichen Rollen der Gattin und Mutter.
In diesen Frühsommertagen des Jahres 1929 lernt Beauvoir also die Freiheit und Sartre kennen. Für beide entscheidet sich die spätere Existentialistin bewusst. Seine überragende Intelligenz und sein sprühender Geist machen sowohl die fehlende Körpergröße als auch das hässliche Äußere wett, und so geschieht schließlich das Unvermeidliche: "Am 14. Oktober 1929 gab Beauvoir in dem Zimmer mit den orangefarbenen Tapeten, von dem aus man auf die Platanen der Avenue Denfert-Rochereau hinabsah, ihre Jungfräulichkeit auf."
So genau wollte man eigentlich gar nicht informiert werden. Fest steht jedenfalls, dass sie und er einen so genannten Bund fürs Leben schließen, der sich allerdings von konventionellen Beziehungen unterscheidet. Ihre wechselseitige Liebesbeziehung sollte stets erstrangig und "wesentlich" bleiben und nicht von allfälligen "kontingenten" Affären beeinträchtigt werden. Bedingungslose Transparenz und die Bereitschaft, die sexuellen Ausschweifungen des andern zu akzeptieren, werden zur Prämisse einer Partnerschaft, in der sich die Phantasmen der aufgeklärten abendländischen Gesellschaft spiegeln.
Bald stellt Beauvoir allerdings fest, dass Sartre "auf geradezu beunruhigende Weise autark" ist, denn "wenn er das Gefühl hatte, geliebt zu werden, war er am glücklichsten allein in Gesellschaft von Füllfederhaltern, Büchern und Papier." Im Lauf der 51 Jahre ihres Zusammenlebens - zunächst in getrennten Hotelzimmern, später dann in der jeweils eigenen Wohnung - wird Beauvoir mehr als einmal um seinetwillen bangen und mit sich hadern, und Sartre wird routiniert ihren Pakt bekräftigen, der nicht auf Leidenschaft, sondern auf Wahrhaftigkeit beruht.
Ab 1931 unterrichten die beiden in verschiedenen französischen Städten und haben reichlich Gelegenheit, die Tragfähigkeit ihrer singulären Beziehung zu erproben. Als Sartre 1933 für ein Jahr nach Berlin geht, um dort ein Forschungsstipendium in Anspruch zu nehmen, beginnt sich Beauvoir in der französischen Provinz zu langweilen. Schließlich wird die Sehnsucht zu groß, und sie lässt sich krankschreiben, um ihn im winterlichen Berlin zu besuchen. Einige Jahre später wird sie ihm sogar ins militärische Sperrgebiet nachreisen.
1934 freundet sich Beauvoir mit einer ihrer Schülerinnen an. Das begabte Mädchen heißt Olga Kosakiewicz und begeistert sich für ihre eigenwillige Lehrerin. Beauvoir fühlt sich zu der jungen Frau hingezogen und stellt sie Sartre vor, der sich ebenfalls angetan zeigt. Gemeinsam beschließen sie, Olgas intellektuelle und persönliche Entwicklung zu fördern. Kurze Zeit später verwandelt sich die zunächst platonische Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin in eine erotische. In dieser Hinsicht erweist sich "der Castor" (dt. Biber), so ihr von Sartre verliehener Spitzname, eben als flexibler.
Olga wird als Erste in den Beauvoir-Sartre-Clan aufgenommen, der unter Freunden einfach die "Familie" heißt. Im Lauf der Jahre wächst die Gruppe: ehemalige Schülerinnen, Studenten und Verehrer beiderlei Geschlechts suchen die Nähe des faszinierenden Paares und geraten in ihre Fänge. Gebannt von ihrem Charisma und ihrem Sex-Appeal, landen sie in Beauvoirs oder Sartres Bett und bisweilen in beiden. Während das Philosophen-Paar nie ernsthaft eine eheähnliche Beziehung in Betracht zieht, begnügen sich ihre Liebespartner nicht damit, ein Schattendasein zu führen. Vor allem Sartre, den ein unstillbarer Hunger nach weiblicher Anerkennung verzehrt, bedarf großer Fantasie, um seine Parallelbeziehungen zu koordinieren und lästige Anruferinnen zu vertrösten. Zudem will er "den Castor" nicht verärgern, der seinerseits 'territoriale' Ansprüche auf Sartre erhebt. Als größtes Kunststück erweist sich in dieser Geometrie der Liebe der alljährliche Urlaub, den Beauvoir und Sartre abwechselnd mit ihren "kontingenten Beziehungen" in Italien und Südfrankreich verbringen.
Beauvoir leidet anders als Sartre nicht an chronischem Verführungs- und Entjungferungszwang. Als attraktive junge Frau, die um ihre Ausstrahlung weiß, hat sie sich nichts zu beweisen, und sie genießt diesen Aspekt ihrer Weiblichkeit.
Anno 1947 - Beauvoir befindet sich auf ihrer ersten Amerikareise - begegnet sie dem Schriftsteller Nelson Algren, der sie als Reiseführer und Lover mit dem Land vertraut macht. Fast zwei Jahrzehnte korrespondieren sie miteinander und bleiben einander trotz der großen Entfernung verbunden. Wenngleich Algren auf eine Eheschließung drängt, hat Beauvoir weder die Absicht, ihren Pakt mit Sartre zu brechen noch Paris aufzugeben. Nach der Veröffentlichung ihrer Memoiren, die ihr amerikanischer Boyfriend liest, kommt es zum Zerwürfnis. Er begreift, dass er in diesem komplexen Gefühlsgeflecht, in dem sich Beauvoir samt Sartre und "Familie" befindet, bloß eine Nebenrolle zu spielen hat, und stellt mithin die einzig richtige Frage: "Wie kann Liebe kontingent sein?"
Während Algren in den USA schmachtet, erlebt Beauvoir mit 44 ihre letzte große Leidenschaft mit dem viel jüngeren Claude Lanzmann. Als dieser sich nach einer Gleichaltrigen umsieht, beginnt für die im Stich Gelassene der schmerzliche Prozess des Alterns. Doch Beauvoir hat Glück: In der Studentin Sylvie le Bon findet sie nicht nur eine treue Freundin, sondern auch eine unentbehrliche Stütze, welche die Schriftstellerin bis zu ihrem Ende begleitet. In Wahrheit erlebt sie dieses bereits 1980 mit dem Tod von Jean-Paul Sartre. Fast auf den Tag genau 6 Jahre später folgt ihm "der Castor" nach.
Die Autorin hat mit ihrer umfangreichen und zweifelsohne gut recherchierten chronique scandaleuse neues biografisches Material an die Öffentlichkeit gebracht. Wozu und wem es nützen könnte, muss sich der Leser freilich selbst beantworten. Wer sich an Enthüllungsgeschichten aus Boulevardblättern delektiert, wird an diesem Band seine Freude haben. Wer Voyeurismus und Stargeflüster allerdings langweilig findet, der mag der spannend erzählten Geschichte von der nicht immer braven Simone und dem gar nicht so artigen Jean-Paul rasch überdrüssig werden. "tête-à-tête" hätte im Idealfall eine psychoanalytisch grundierte Biografie ergeben können, die sich weniger um die lückenlose Erfassung von Affären als um die Aufklärung ihrer geheimen Motive bemüht. Diesem Anspruch vermag Rowleys Doppelporträt bedauerlicherweise nicht gerecht zu werden.
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