"Auf einmal sieht es wie ein Gedanke aus"

Über eine Sammlung der Essays von Egon Friedell

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Egon Friedell war ein ganz und gar ungewöhnlicher Mensch. Geboren 1878 in Wien als Egon Friedmann, war er gleichzeitig und nacheinander Schriftsteller, Kulturphilosoph, Journalist, Schauspieler, Kabarettist, Autor von Theaterstücken und Theaterkritiker - interessanter- und ironischerweise hat er sogar seine eigenen Theaterstücke kritisiert.

Friedell wuchs in Frankfurt bei einer Tante auf, flog wegen "ungebührlichen Benehmens" von der Schule und musste durch Österreich und Deutschland tingeln, bis er im September 1899 erst im vierten Anlauf in Heidelberg das Abitur bestand. Schon vorher war er Gasthörer an der Humboldt-Universität zu Berlin, hörte Germanistik, Naturwissenschaften und Philosophie und wechselte nach dem Abitur nach Heidelberg, um bei dem Hegelianer und Philosophiehistoriker Kuno Fischer zu studieren.

Als 1899 sein Vater starb, konnte sich Friedell das ihm sehr angemessene, finanziell unabhängige Leben in Wien leisten. 1904 promovierte er mit einer Dissertation über Novalis als Philosoph und wurde anschließend Kabarettist. Ob das miteinander zusammenhängt, weiß man aber nicht. Immerhin durfte er in Karl Kraus' Zeitschrift "Die Fackel" einen Artikel mit dem Titel "Vorurteile" veröffentlichen: "Das schlimmste Vorurteil, das wir aus unserer Jugendzeit mitnehmen, ist die Idee vom Ernst des Lebens. Die Kinder haben den ganz richtigen Instinkt: sie wissen, dass das Leben nicht ernst ist, und behandeln es als Spiel."

Auch er selbst nahm das Leben nicht ernst, sondern merkte auf, wo er konnte. Mit Solovorträgen und Einaktern, bis er dann mit Alfred Polgar zusammen das Stückchen "Goethe im Examen" verfasste, das ihn berühmt machte, weil es die blinde und dumme Goethe-Verehrung der Deutschen lächerlich machte. Da wird über Goethe geprüft, und dann erscheint aus dem Jenseits der große Dichter selbst: "No, der Vattersvatter war der alt' Schorsch Friedrich Goethe, der war scho Schneider in Frankfort, na und sei Fraa war e geborne Schallhorn, das war die Tochter vom Weidewirt, die hat von Neckergemind 'erüber-gemacht." Warum hat Goethe den "Wilhelm Meister" fortgeführt? "No, da hat er doch schon vom Verleger die 200 Taler Vorschuss uff'n zweite Band gehabt, da hat er'n doch aach schreibe müsse." Bis ihm der Kragen platzt: "Jetzt werd mersch awwer zu dumm! Erst frache Se mich Sache, die koi Mensch wisse kann und die ganz wurscht sinn, nachher erzähle Se mir'n Blödsinn übern Tasso, dann mache Se mer de ,Farwelehr' schlecht, dann wolle Se iwwer die Weiwer Sache wisse, die Ihne en Dreck angehn [...] Da muss ich schon de Götz zitiere: Ihr könnt mich alle miteinander [...]" Das Stück war ein Riesenerfolg und bis zu seinem Tod spielte Friedell selbst den Goethe.

Nach einem Intermezzo als Kabarettdirektor wurde er 1912 Schauspieler in Berlin, zeitweise auch bei Max Reinhardt. Nach dem Krieg war er als Journalist und Theaterkritiker bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler am Deutschen Theater in Berlin und am Burgtheater in Wien tätig, ab 1927 als Essayist, freier Schriftsteller und Übersetzer. Nun entstand sein Hauptwerk, die dreibändige "Kulturgeschichte der Neuzeit", in der er von der Pest bis zur Jetztzeit die Geschichte originell, scharfsinnig, witzig, ironisch und zum Teil anekdotisch erzählt. Selbst sein eigener Tod geschah nicht ohne Pointe: Am 16. März 1938 erschienen abends zwei Männer der SA vor dem Haus von Egon Friedell. Friedell nahm sich das Leben, indem er aus dem Fenster der Wohnung sprang. Verbrieft ist, dass er dabei den Passanten zurief: "Treten Sie zur Seite!".

Zu diesem Leben gehört ein gänzlich disparates Werk, das heute noch erfrischend zu lesen ist. Über seine Schulzeit schrieb er: "Die Schüler, mit denen der Lehrer unzufrieden ist, sind zu neun Zehnteln wirkliche Taugenichtse und Dummköpfe, aber das Talent der Klasse befindet sich bestimmt unter diesen und niemals unter den Braven. Die Braven sind einmal auf jeden Fall nichts wert."

Über die Kritiker spottete er: "Ein hervorragender Kritiker muss vor allem drei Eigenschaften besitzen: er muss erstens unfehlbar, zweitens originell und drittens gediegen sein [...]. Was die Beurteilung schauspielerischer Leistungen anlangt, so mache man es sich zur Richtschnur, dass man alles über alles sagen kann. Jedes Prädikat ist anwendbar, man muss es nur mit der nötigen Selbstverständlichkeit bringen. Denn es gibt da doch nur zwei Fälle: entweder das Prädikat stimmt oder es stimmt nicht. Stimmt es, so ist es gut, stimmt es aber nicht, so ist es noch viel besser, denn dann wirft es ein ganz neuartiges Licht auf den Gegenstand. [...] Man schlage eine beliebige Seite irgend eines Spezialwerks auf, zitiere daraus und sage dazu 'bekanntlich'. Also zum Beispiel: 'Karl Moor, der seinen Namen bekanntlich dem Mitschüler Schillers Hans Friedrich Christoph von Mohr verdankt' oder 'Das Stück hat etwas von der subtilen Primitivität der japanischen Nogakuspiele, die bekanntlich in der Ära des ersten Shogun Yoshimasa ihre Blüte erreichten'. Am allereinfachsten aber ist es, Originalität zu erzielen: sie besteht nämlich ausschließlich in den Adjektiven. Zu diesem Zwecke ist es empfehlenswert, sich eine Liste seltener Beiwörter anzulegen. Da ich fest entschlossen bin, keine Kritiken mehr zu schreiben, so bin ich gern bereit, meinen eigenen Fundus an einen strebsamen Anfänger billig abzugeben; es befinden sich einige prächtige, noch sehr gut erhaltene Exemplare darunter, zum Beispiel 'etoiliert', 'hypnoid', 'satiniert', 'luguber', 'endimanchiert'. Man wird vielleicht glauben, das seien Äußerlichkeiten; aber man bedenke doch einmal, welchen Unterschied es macht, ob ich sage, die Kunst der Duse hat etwas Welkes, oder: sie hat etwas Etoiliertes, Herr Basserman spielt den Philipp in verschwimmenden Umrissen, oder: er spielt ihn ganz sfumato; auf einmal sieht es wie ein Gedanke aus."

Selbst mit dem Verleger seines Hauptwerks, der "Kulturgeschichte der Neuzeit", legte er sich an, als er an Hermann Ullstein schrieb, sein Buch habe eigentlich den Untertitel "Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis Ullstein" und ihn "beruhigte": "Ich begreife ja, dass der Verlag vor einer Kulturgeschichte Angst hat, aber die bisherigen Kulturgeschichten sind nur deshalb von den Lesern gemieden worden, weil sie von Kulturhistorikern geschrieben waren. Dass es sich aber im vorliegenden Fall um keine derartige solide Arbeit handelt, dafür bürgt, denke ich, sowohl der Name des Verlags wie der Name des Verfassers." Auch diese Kulturgeschichte wurde ein riesiger Erfolg.

Nun hat der Diogenes Verlag einen prächtigen Band herausgebracht, in dem man viele von Friedells Essays, die meisten von ihnen aus der "Kulturgeschichte der Neuzeit", nachlesen kann. Sie handeln von allem möglichen, denn Friedell hat sich alles, was ihm gefiel, zu eigen gemacht. Die Essays spotten auch über alles, denn Friedell war stets bestrebt, unernst zu bleiben. Aber sie sind auch ernst, denn er hatte auch einen Auftrag: die Menschen zu unterhalten, sie aber auch zu erziehen. Und so schreibt er ebenso lesbar über die Erziehung von Kindern wie über den Dilettantismus, über Kritiker, Schauspieler und das Publikum wie über Germanisten, Filme, William Shakespeare und Wolfgang Amadeus Mozart, George Bernard Shaw und Richard Wagner, Georg Christoph Lichtenberg und Wilhelm Busch, Euripides und die Frage, ob Jesus gelebt hat, über Cäsar, die Renaissance und Napoléon Bonaparte.

Sein geschichtsphilosophischer Ansatz war, dass es große Genies in der Geschichte gab, die ihre Epoche wie sonst niemand verkörperten, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt, dass nur große Männer die Menschheit voran gebracht haben, dass es eine Seele gibt, die sich auch in der Geschichte äußert. Das muss man aber nicht glauben, um diesem Genie des leichten, tiefgängigen, plaudrigen Essays gerne zuzuhören und trotzdem unendlich viel von ihm lernen zu können. Und sei es, dass man auch über die ernstesten Dinge witzig schreiben kann. Wenn man es nur kann.


Titelbild

Egon Friedell: Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte Essays.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
695 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066258

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