Fragen nach Mama
Zwei Kinder auf der Suche
Von Fabian Kettner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer kleine Clown und seine Mutter haben ein nur allzu bekanntes Problem: Sie will, dass er endlich sein Zimmer aufräumt, und er hat keine Lust dazu. Sie droht mit Konsequenzen, er sagt sich von ihr los und verlässt den gemeinsamen Zirkuswohnwagen.
Auch in diesem zweiten Buch aus der Reihe "Der kleine Clown" geht es um die störrische Verweigerung von Kindern.
Der kleine Clown macht sich auf die Suche nach einer neuen Mutter. Er schaut sich um, aber die eine Frau ist schon die Mutter eines anderen Kindes, die Giraffe kann ihn nicht umarmen, zum Pinguin passt er nicht, weil er keinen rohen Fisch mag, eine weitere Frau hat wegen Geldzählens keine Zeit. Zum Schluss fragt er eine Frau, die sich dann als seine Mutter herausstellt, die ihn selbstverständlich als ihr Kind annimmt.
Beide finden also wieder glücklich zusammen. Die Mutter, die der kleine Clown nicht mehr möchte, stellt sich schließlich doch als die für ihn richtige heraus und zeigt, dass ein Kind zu seiner Mutter immer fraglos zurückkehren kann. Die Mutter, die er sich wählt, stellt sich als seine leibliche heraus; freie Wahl und generische Unverfügbarkeit koinzidieren glücklich. Aber die Geschichte erzählt noch etwas anderes: Zum einen bleibt dem kleinen Clown nichts anderes übrig, als zu seiner Mutter zurückzukehren, denn zu allen anderen kann er nicht. Zum anderen hat seine Mutter aber Glück, dass er zufällig an sie geriet. Wer weiß - so die Logik der Geschichte - was passiert wäre, wenn eine andere Mutter ihn doch aufgenommen hätte. Der Freude darüber, dass sie sich wiedergefunden haben, liegt das Deprimierende zugrunde, dass man sich in das schicken muss, was sich nicht ändern lässt. Das Buch endet damit, dass die Mutter den Befehl, das Zimmer aufzuräumen, wiederholt, und dadurch wird der Eindruck einer Kapitulation noch verstärkt.
Ganz anders ist "Wann kommt Mama?". Man sieht ein kleines Kind, das zur Straßenbahn-Haltestelle geht; dort wartet es auf seine Mutter. Drei Mal kommt die Straßenbahn, aber nie ist seine Mutter unter den aussteigenden Fahrgästen.
"Wann kommt Mama?" wurde wohlgemerkt schon vor siebzig Jahren zum ersten Mal veröffentlicht. Die Geschichte stammt aus Korea, wurde 1938 in einer Zeitung publiziert und ist dort eine sehr beliebte Geschichte. 2007 ist sie in der "Reihe Baobab" erstmals auf Deutsch erschienen. Ihr Herausgeber ist der "Kinderbuchfonds Baobab", der sich für die Förderung von Kinder- und Jugendbüchern aus Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten sowie von ethnischen Minderheiten einsetzt, um zu Reflexionen über Vorurteile, Ausgrenzung und das kulturelle Selbstverständnis anzuregen. In "Wann kommt Mama?" sind deutsche und koreanische Schriftzeichen übereinander abgedruckt.
Die Erzählweise von "Wann kommt Mama?" ist außerordentlich bemerkenswert. Das dreimalige Warten ist durch die Darstellung genau rhythmisiert: Zuerst sieht man das Kind in einer schwarz-weißen Zeichnung mit anderen Menschen warten; dann sieht man eine fahrende Straßenbahn im Irgendwo in sanft leuchtenden Farben; beim dritten Mal steht die Straßenbahn an der Haltestelle in einer exakt und säuberlich gezeichneten und colorierten Totale, und das kleine Kind fragt den Fahrer, wo seine Mutter ist; viertens folgt ein Zoom auf das Kind, das erfahren hat, dass seine Mutter nicht dabei ist und der wegfahrenden Straßenbahn hinterherschaut. Nach der dritten Enttäuschung steht das Kind verloren auf einer Doppelseiten-Totale der bunten und bewegten Straßenansicht. Es fragt nun nicht mehr, es wartet im kalten Wind. Die ohnehin sehr zurückhaltende, literale Erzählung bricht hier ab; die Geschichte wird von nun an nur noch in Bildern weiter erzählt. Das Kind schaut auf einer Doppelseite in den beginnenden Schneefall. Durch den dicht fallenden Schnee sehen wir auf einer weiteren Doppelseite verschwommen die Häuser der Stadt und gleich danach ganz klar in einem irrealen grün-gelben Licht, welches von einer kleinen Wintersonne auf die schneebedeckten Dächer der Stadt scheint. Es ist die gleiche Stadtansicht, wie man sie von Anfang des Buchs kennt, noch bevor die Geschichte durch den Titel eröffnet wurde. Was aber ist aus dem Kind geworden? Man muss genau hinschauen, dann kann man eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand - das eine rote Blume in der anderen Hand hält - sehen, die zusammen den Weg durch die dicht stehenden Häuser gehen.
Die Geschichte ist also nicht sehr handlungsreich; sie lebt vor allem von den Illustrationen. Die Banalität wird durch die außergewöhnlich stimmungsvollen Bilder, die mal ein wenig traurig, mal fantastisch sind, in den Hintergrund gerückt. Die herausragenden Zeichnungen vereinigen den traditionell ostasiatischen Stil mit der europäischen ligne claire, die sich damals gerade herausbildete. Es gibt Ansätze dazu, ein und denselben Szenenort in mehrere verschiedene Plätze aufzuteilen, die einander zeitlich sukzessiv folgen; eine Methode, die Frank King in den 1930er-Jahren in "Gasoline Alley" entwickelte und die gegenwärtig von Chris Ware wiederbelebt wird. Die Bild- und Blickführung nimmt den Stil moderner US-amerikanischer Action-Comics vorweg, die die Dynamisierung der Panel-Folgen von den Mangas übernommen haben. Die umwerfende Doppelseite des in den grüngelben Schneehimmel schauenden Kindes könnte aus einem Art-Comic der letzten zwanzig Jahre stammen.
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