Zwischen Idealismus und Artistik

Schiller in Marbach - im Jahr 2005

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Zeigen kommt Schiller. Zumindest ist das in den "Marbacher Schriften" der Fall, die seit 2007 in neuer Folge erscheinen. Nachdem sich der erste Band mit dem Phänomen der Deixis auseinandergesetzt hatte, widmet sich der zweite Band dem wohl berühmtesten Marbacher Bürger: Friedrich Schiller. Dokumentiert werden darin die Vorträge, die anlässlich seines 250. Todesjahres im Deutschen Literaturarchiv gehalten wurden. Man könnte versucht sein zu meinen, dass hier die ohnehin schon umfangreiche Schillerliteratur nur um einen weiteren Sammelband vermehrt worden sei. Doch allein ein Blick in das Inhaltsverzeichnis belehrt eines Besseren.

Den Veranstaltern der Vortragsreihe ist es gelungen, einige prominente Namen aus dem heutigen Literatur- und Wissenschaftsbetrieb in ihrem Band zu versammeln. Vor allem die Stellungnahmen der Gegenwartsautoren dokumentieren unabhängig von allen multimedialen Beschwörungen der Schiller'schen Aktualität einen je eigenen produktiven Zugriff auf das Werk des Dichters.

Der Sammelband ist in drei Abschnitte unterteilt: Zuerst wird "Die weite Welt" behandelt, in deren Horizont Schillers poetische Aneignung fremder Kulturen sowie die Aufnahme seiner Schriften im Ausland nachgezeichnet und diskutiert werden. Es folgt ein Überblick über den "Dichter der Denker", wodurch der Fokus auf die ästhetischen Schriften gelenkt wird, die sowohl im Spannungsfeld zeitgenössischer Philosophie betrachtet als auch im Hinblick auf das Zentralmoment des Spiels analysiert werden. Schließlich geht es um die "Provozierte Gegenwart", genauer um von Schiller 'provozierte' Gegenwartsautoren, die ihr Verhältnis zum Vor- oder Gegenbild beschreiben.

Mit der provokanten Frage: "Gibt es noch eine Annäherung an Schiller?" leitet der Literaturwissenschaftler George Steiner in die "weite Welt" ein. Die gegenwärtig zumeist resignierend beantwortete Frage, wer denn überhaupt noch Klassiker lese, kehrt Steiner kurzerhand um: Wir, die Leser, sind es, die gelesen werden. Das meint, dass es die Schriften Schillers sind, die den Leser auf seine Rezeptionsfähigkeit, ja -tauglichkeit hin prüfen. Steiner führt einige Beispiele solcher gelungenen Rezeptionsvorgänge an und nutzt diese sogleich, um gegen "akademisches und journalistisches Geplapper" anzuschreiben. Wenn er aber selbst Schillers Briefwechsel mit Goethe oder auch Schillers "Genie für Freundschaft" mit dem Epitheton "unvergleichlich" belegt, scheint am Ende beinahe sein eigener Text die vorgebrachte Kritik zu bestätigen.

Während Nicholas Boyle den Blick nach England richtet, um insbesondere die frühe Rezeption der "Räuber" unter dem Aspekt ihrer politischen Wirkung zu diskutieren, und Giuseppe Bevilacqua Schiller als "Galionsfigur des Risorgimento" kennzeichnet, widmet sich der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg passenderweise "Schillers Schweiz". Unausweichlich ist damit der "Wilhelm Tell" angesprochen, dem sich Muschg mit einer kurzen Skizze der Rezeptionsgeschichte nähert, von der aus er auf das Tellkapitel in Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" überleitet. Anhand der "kritisch und humoristisch" getönten Gestaltung Kellers zeigt Muschg auf, dass jede Zeit ihre spezifische Rezeptionsweise besitzt. Wenn aber durch das Wechselbare der Zeitenläufte auf das Unverwechselbare der Dichtung geblickt wird, kann das zu der radikalen Erkenntnis führen, dass "die Schweiz [...] mit Schillers 'Tell' nichts zu tun" hat. Vielmehr ist sie, wie es Schiller selbst mit Bezug auf seine historischen Vorlagen sagte, nur der Stoff, den es poetisch zu überformen gilt. In dieser Überformung entdeckt Muschg das "Paradox der Schiller'schen Freiheit: Wo es um die äußerste Wahl geht, darf der Mensch keine Wahl haben wollen."

Mit dem Übertritt vom Dichter zum Denker rückt die Philosophie prominent in den Vordergrund. Zunächst macht Volker Gerhardt darauf aufmerksam, wie wenig es Friedrich Nietzsche trotz seiner berühmten Schmährede vom "Moral-Trompeter von Säckingen" doch gelungen sei, sich aus der strukturellen Vorgabe von Schillers Philosophie zu lösen. Denn in der Dialektik der antagonistischen Kunstmächte des Dionysischen und Apollinischen meint Gerhardt "mythologisch aufgerüstete Versionen von Schillers Stoff- und Formtrieb" zu erkennen, die gleichfalls auf den Synthesebegriff des Spiels - Nietzsche spricht etwa vom "Spiele des Schaffens" - zulaufen.

Dieser für Schillers Ästhetik zentrale Terminus wird auch von Sybille Krämer aufgegriffen, die sich in einer eingehenden Analyse dem Spieltrieb widmet. Indem sie den Begriff eingangs einer kulturkritischen Bewertung unterzieht, kommt sie zu dem negativen Befund: "Ausgerechnet im Spiel ein Heilmittel gegen Utilitarismus und Kommerzialisierung zu vermuten, kann angesichts des expandierenden lukrativen Spielemarkts kaum mehr überzeugen." Doch ebenso wenig kann die von Krämer vorgenommene Parallelsetzung einer profanen Vorstellung des Spiels mit Schillers tendenziell metaphorisch gebrauchtem, elevatorischem Spielbegriff überzeugen.

Krämers Engführung verwundert deshalb, weil sie in der Folge eine minutiöse Erläuterung des theoretischen Konstrukts liefert, dessen Eigenart als "Bewegungsfigur" sie präzise bestimmt, genauer "als Dynamik einer oszillierenden Bewegung zwischen" den "differenten Positionen" von Stoff- und Formtrieb. Hier wird klar, dass Schiller keinen im konkreten Sinne spielenden Menschen im Blick hat, sondern vielmehr den - bildlich gesprochen - spielerischen Ausgleich einander widerstrebender Triebkräfte anvisiert. Krämer versucht schließlich, eine weitere Dimension des Spielerischen in Schillers "Ästhetischer Erziehung" aufzuspüren: Und zwar stelle der Text formal aus, wovon er inhaltlich handelt. Sowohl das Stilmittel des Chiasmus als auch die changierende Terminologie würden die theoretische Zielrichtung anschaulich vergegenwärtigen. Das verdeckt jedoch abermals, dass der Moment eines Allgemein-Spielerischen, das bei Schillers essayistischem Philosophieren aufscheinen mag, keineswegs mit dem Gehalt seines Spielbegriffs gleichzusetzen ist, der vielmehr die Voraussetzung für die gelingende ästhetische Erfahrung bildet.

Wenn Schillers theoretische Ambitionen zur Debatte stehen, darf auch der Blick auf die zeitgenössische Philosophie nicht fehlen. Zum einen legt Manfred Frank dar, inwiefern Schillers Theorie des Schönen zwischen Immanuel Kant und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu situieren ist. Zum anderen zeichnet Dieter Henrich, der in diesem Zusammenhang aus seinem gewichtigen Werk "Grundlegung aus dem Ich - Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus" (2004) schöpfen kann, in einem luziden Beitrag nach, wie Schiller im Rahmen seiner Kantstudien insbesondere von den Anregungen Johann Benjamin Erhards profitiert hat.

Schließlich kommen auch die Schriftsteller und Dichter zu Wort. Sibylle Lewitscharoff setzt sich mit dem "Don Karlos" auseinander und charakterisiert das Trauerspiel als ein Stück, in dem es gewaltig "muttert"; Georg Klein entdeckt in seiner textnahen Analyse des "Wilhelm Tell", dass die Hauptfigur trotz der vernommenen Aufforderung, Geßlers Hut grüßen zu sollen, diesen offenbar absichtlich nicht grüßt; Ludwig Harig widmet sich dem Spielgedanken, leitet zu einer Parallelführung von Schiller und Albert Einstein über und endet in einer fulminanten Fuß- beziehungsweise Endnote; und Marlene Streeruwitz notiert auf "Kabale und Liebe" bezogene, autobiografisch gefärbte Gedanken.

Bleibt noch der viel zu früh verstorbene Dichter Robert Gernhardt, der es sich zur Aufgabe macht, als Pflichtverteidiger für den 'Kollegen' Schiller einzutreten. Die Verteidigung richtet sich gegen einen "bunten Strauß von Vorwürfen, Vorurteilen und Vorverurteilungen", indem sie an ausgewählten Gedichten deren literarische Qualität herausarbeitet, ohne dabei je ihren ironischen Ton aufzugeben. Am Ende findet Gernhardt zu der wohl kompaktesten Charakterisierung Schillers, die jemals getroffen worden ist: Aus dem Zusammenspiel von idealistischer Ambition und artistischer Kompetenz habe sich der "Ideartist" Schiller entwickelt.


Titelbild

Jan Bürger / Ulrich Raulff / Ulrich von Bülow / Marcel Lepper (Hg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
260 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302044

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