Das Leben ist Arbeit

Über den Roman "Winter ganz unten" von Michael Sobe

Von Dorothee ReinhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothee Reinhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früher einmal war der Markt ein Umschlagplatz für Waren. Inzwischen ist der Markt ein Welt- und Arbeitsmarkt geworden. "Die erdrückende Mehrheit muss dort ihre Arbeitskraft verkaufen, um an die nötigsten Lebensmittel zu kommen. Damit steigt der Markt zu der Instanz auf, die über Wohl und Wehe, Sinn und Unsinn, Sein und Nichtsein von Menschenleben entscheidet." - so schreibt Christoph Türcke in einem Beitrag für "Literaturen". Wie ein Gott nehme der Markt den Menschen an oder verwerfe ihn. Unverkaufte Ware ergibt keinen Sinn, ist wertlos, und so packt die Arbeitslosigkeit den Menschen bei der Wurzel. Sich trotzdem als vollwertiger Mensch zu fühlen, wenn die "höchste Instanz" ein anderes Urteil fällt, scheint unmöglich. Doch auch der "angenommene Mensch" ist keinesfalls im Paradies. Ausbeutung und Tretmühlen erwarten ihn - aber immerhin: er gehöre zu den Erwählten. Jenseits davon ist kein Heil.

Und dies deutet wiederum auf einen weiteren Aspekt der heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Es gibt längst kein Oben und Unten mehr, nur ein Drinnen und Draußen: wer Arbeit hat und am Konsum teilnehmen kann, ist drinnen, er gehört dazu, die anderen leben "am Rande", das heißt auch außerhalb der Gesellschaft der Wert-Vollen. Edgar Winter, der Protagonist des Romans "Winter ganz unten", ist daher nicht zufällig Architekt; ein arbeitsloser Architekt, der an seinen Zustand krankt und verzweifelt den Eingang ins Innere der Gesellschaft, den Arbeitsmarkt, sucht. Ein Architekt schafft schließlich nichts anderes als ein Drinnen und Draußen oder, präziser, eine Grenze zwischen außen und innen. Durch diese Grenze entsteht ein Raum zum Aufenthalt, Miteinander und Tätigwerden von Menschen. Wer bei der Party dabei ist, der ist auch in dem Raum, in dem sie gegeben wird - Gesellschaft findet in Räumen statt.

Winter hat ein Begabung zur funktionalistischen Architektur, eine Richtung, bei der die konstruktiven, proportionsgebenden und raumbildenden Aspekte des Bauens zum eigentlichen gestalterischen Thema werden. Wie Menschen, die auf jeden "Schmuck" in ihrem Leben verzichten, nur zielgerichtet an ihrem persönlichen Drinnen, ihrer Teilnahme an Arbeit und Konsum hinarbeiten, so baut Edgar graue Kästen, die in jeder Hinsicht funktional sind. Da in "Winter ganz unten" jede Figur eine solche funktionale Einstellung besitzt, zeichnet der Roman ein eher zynisches Menschenbild: Winter ist die Jahreszeit, Winter heißt der Protagonist, Winter herrscht in der Gesellschaft und Winter wohnt in den Herzen der Menschen.

Winter findet nach dem Studium keine Arbeit. Nach einem halben Jahr ist der junge Mann ganz unten und sieht, völlig abgestumpft, keine Perspektive. Seine Fantasien, ein Selbstmordattentat zu begehen, wirken an dieser Stelle - bei allem Mitempfinden für seine Lage - dennoch völlig unglaubhaft und aufgesetzt. Man verzeiht es Sobe aber schnell, da diese Gedanken nicht über Gebühr ausgewalzt werden und weitere psychologische Unglaubwürdigkeiten nicht vorkommen.

Zunächst scheint auch unglaubwürdig, dass Winter fast jeden Tag zum Jobcenter geht - wer macht das heute noch?! Zu allem Überfluss weist ihn sein Fallmanager in unverschämter Weise zurück und droht ihm mit einem Ein-Euro-Job - typisch, denkt man. Bei näherem Hinsehen zeigt sich die Situation im Jobcenter aber als Ausdruck einer alten, überholten Form, Arbeit zu finden. Darum ist auch der Fallmanager der alte Klischee-Beamte, der seine "Bittsteller" von oben herab behandelt. Die alte Form - man geht zum Arbeitsamt und bekommt dort Arbeit vermittelt - gibt es nicht mehr. Die Umwälzungen in diesem Bereich sind nur Fassade, von Hilfe kann keine Rede sein. Um im Bild der Architektur zu bleiben: Das Jobcenter ist kein Eingang mehr in das Innere der Gesellschaft, den Arbeitsmarkt.

Von seinem Fallmanager abgewiesen, sucht Winter eine andere Möglichkeit, einen Fuß in die Tür zu bekommen: Über eine Kneipenbekanntschaft ergibt sich die Möglichkeit zur Schwarzarbeit. Von da an beginnt ein neues Leben für ihn, das eine ergibt das andere, neue Freunde und Förderer werden gefunden. Persönliche Kontakte und Schwarzarbeit erscheinen als die einzige Möglichkeit, Arbeit zu finden. So ist es nur konsequent, wenn der Fallmanager als Relikt einer anderen Zeit sterben muss, im selben Moment, in dem Winters neues Leben beginnt.

Ein weiteres Ereignis bringt Veränderung: Eine frühere Kommilitonin, in ähnlich desolater Lage wie Winter selbst, steht unvermittelt vor der Tür und bittet ihn um Hilfe. Johanna, so heißt die alte Bekannte, hat Hals über Kopf ihren Lebensgefährten verlassen, der sich als einflussreiche Persönlichkeit herausstellt und auch Winters Schicksal entscheidend beeinflussen wird.

Schließlich führen die neuen Entwicklungen und Verwicklungen dazu, dass Winter eine Anstellung als Architekt findet - sinniger Weise in Schwaben. Im Paradies ist er aber noch lange nicht. Weit entfernt von einem glücklichen, ausgefüllten Leben, zählt hier nur das Fortkommen. Gefangen in seinen Abhängigkeiten hat nur der eine Chance, der passiv und bereit ist, alles mit sich geschehen zu lassen. Selbstbestimmung ist nicht möglich.

"Winter ganz unten" ist Michael Sobes Romandebüt. Ihm ist damit ein interessanter, sehr aktueller Roman mit Krimi-Elementen gelungen. Manchmal schimmert allerdings der Fernsehautor Sobe durch: Man wünscht sich mehr Dichte für die Sprache und mehr Charakter für die Figuren. Andererseits kann sich der Leser an vielen Details erfreuen, etwa daran, dass der Protagonist Architekt ist oder am Wortspiel mit dem Namen. Denn nicht nur der Nachname ist sprechend, sondern auch der Vorname. Edgar bedeutet nämlich soviel wie "Der sein Vermögen/Besitz mit dem Speer verteidigt". Doch mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.


Titelbild

Michael Sobe: Winter ganz unten. Roman.
Das Neue Berlin Verlag, Berlin 2007.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783360019134

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