Ein Denkmal patriarchalischer Macht

Ortrun Niethammer, Heinz-Peter Preußer und Françoise Rétif geben einen Sammelband zu Mythen der sexuellen Differenz heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was muss geschehen, um einen Mythos in seinem Kern widerlegen zu können?" Dieser Frage geht Heinz-Peter Preußer anhand des "Stoffkonvolutes zur Medea" nach, ohne allerdings dem Umfang des über Jahrtausende hinweg angewachsenen Stoffes auf den gerade mal 20 Seiten seines Texts auch nur annähernd gerecht werden zu können. Dennoch stellt der Autor durchaus einige interessante Überlegungen zum Thema an.

Nachzulesen sind sie in einem von Ortrun Niethammer, Heinz-Prussler und Françoise Rétif herausgegebenen Sammelband zu Mythen der sexuellen Differenz, der auf eine Tagung in Osnabrück zurückgeht. Der Stadt also, aus der seinerzeit die Mutter von Hélène Cixous vor den Nazis fliehen musste. Dass dies von den HerausgeberInnen in der Einleitung ausdrücklich vermerkt wird, hat seinen Grund darin, dass der Band mit einem "Osnabrück" betitelten Prolog aus der Feder Cixous eröffnet wird. Zwei weitere Beiträge befassen sich denn auch näher mit den Werken der nicht nur als Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, sondern auch als Schriftstellerin bekannten Französin, die über mehrere Jahre hinweg Sprecherin der französischen Feministinnengruppe "Psych et Po" war und dem "logofixierten" Schreiben ein "potentiell anderes, weibliches" entgegensetzt, das "bereits Ausdruck der Differenz sein soll, welche die philosophische Dekonstruktion erst ergibt." Eben darum ist Cixous' Werk den HerausgeberInnen zufolge geradezu "prädestiniert, Mythos und Mythoskritik, Konstruktion und Dekonstruktion, Feminismus und weibliches Schreiben, theoretische Einflüsse von Frankreich nach Deutschland und umgekehrt in einer historischen Perspektive zu diskutieren." All dies unternimmt das vorliegende Buch.

Weniger mit Cixous' Prolog, sondern mit den "[g]enetische[n] Mythen und mytischen[n] Genres" in Cixous' "Le jour où ja n'étais pas là" befasst sich Esther von der Osten, deren Beitrag den theoretischen Teil des Bandes eröffnet. Auch Mitherausgeber Rétif wendet sich der im algerischen Oran geborene Feministin zu. Unter dem Titel "M comme Manhattan. G comme genre / Geschlecht" liest er Cixous "Manhattan" gemeinsam mit Ingeborg Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan", womit die zweite Autorin genannt wäre, der gleich mehrere Beiträge gelten. Denn auch Barbara Agnese widmet sich der österreichischen Schriftstellerin. Ähnlich wie Rétif stellt sie Bachmann eine zweite Autorin zur Seite: keine geringere als Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die ebenso wie Bachmann einen Prosatext mit dem Titel "Gier" verfasst hat. Anders als Jelineks Buch wurde Bachmanns Nachlasstext allerdings erst postum veröffentlicht.

Versammeln sich die Beiträge zu Cixous, Bachmann und Jelinek im ersten, auf den "Vorsatz" folgenden Teil des dreigliedrigen Bandes unter dem Titel "Konstruktion und Dekonstruktion" so stehen die beiden anderen Teile unter den Themen "Inversion, Camouflage, Widerrede" und "Verbesserung, Widerlegung, Rückeroberung". Die AutorInnen des ersten dieser beiden Teile wenden sich der Klassik und der Klassischen Moderne zu. So geht Gerhard Neumann der Androgynie als "mythische[r] Grundform" in Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" nach und Anette Runte beleuchtet, "Mythenverarbeitung, Privatmythologie und literarische Camouflage" bei Karoline von Günderrode. Die Beiträge des letzten Teils untersuchen die Verarbeitungen klassischer und nichtklassischer Mythen in Gegenwartstexten. Romana Weiershausen widmet sich Literarisierungen des Mythos um Orpheus und Eurydike in Werken von Friederike Mayröcker, Ulla Hahn und Erica Pedrett. Andrea Geier richtet ihren Blick mit Anna Seghers, Günter Kunert und Volker Braun ebenfalls auf drei SchriftstellerInnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Interesse gilt den "Verhandlungen von Schicksalhaftigkeit in meta-mythischen Texten" der AutorInnen.

Dass es ratsam ist, auch die antiken Primärtexte heranzuziehen und sich nicht auf deren Widergabe in Interpretationen des 20. Jahrhunderts zu verlassen, zeigt Ortrun Niethammer - wenn auch eher unfreiwillig. Ausgehend von Christoph Türckes 1991 erstmals erschienenem Buch "Sexus und Geist" geht die Autorin "Mythos und Geschlecht unter ideen- und realgeschichtlichen Fragestellungen" nach, wobei sich der im Titel angekündigte realgeschichtliche Teil allerdings eher als bloßer Appendix erweist. Im ersten, weit umfangreicheren Abschnitt ihres zweigliedrigen Beitrags, widmet sie sich mit der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie mit Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" zwei unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Werken und stellt die These auf, "dass Kriege, auch die neueren Kriege der letzten Jahre, fast immer neben 'ethnischen Säuberungen' auch eine Zuspitzung der Geschlechter-, Herrschafts- und Rollenverhältnisse bedeuten".

Von Adornos und Horkheimers Werk interessiert Niethammer insbesondere der Odysseus gewidmet Abschnitt, dessen Irrtümer sie unhinterfragt und offenbar ohne sich bei Homer selbst kundig gemacht zu haben übernimmt. Etwa wenn sie mit dem Autoren-Duo der Auffassung ist, der 'listenreiche' Held habe sich zum Schutz vor dem Sirenen-Gesang an den Mast seines Schiffes fesseln lassen, weil er "technisch aufgeklärt" gewesen sei. Tatsächlich hat sich die Homer'ische Figur die List weder selbst einfallen lassen, noch erweist sie sich hier als technisch aufgeklärt. Vielmehr hatte der weitgereist Held zuvor im zwölften Gesang der "Odyssee" von der Zauberin Kirke eine exakte Anleitung erhalten, wie den Sirenen zu lauschen sei, ohne ihnen zum Opfer zu fallen: "Verklebe die Ohren der Freunde / Mit geschmolzenem Wachs der Honigscheibe [...] Doch willst Du selber sie hören; / Siehe, dann binde man dich an Händen und Füssen im Schiffe, / Aufrecht stehend am Maste, mit fest umschlungenen Seilen". Der vermeintlich Listenreiche tut nichts weiter, als diese Anweisungen penibel zu befolgen.

Bekanntlich steuert der Ithaker anschließend die Meerenge zwischen Szylla und Charybdis an. Auch hier scheint die Argumentation Niethammers - "rational wäre es sinnvoll, diese Ungeheuer zu umfahren" - auf der Unkenntnis der "Odyssee" zu beruhen. Denn nachdem die Seefahrer der Sirenen-Insel entronnen waren, blieb ihnen nur die Alternative, nach rechts auf die Schiffe zermalmenden "Irrende[n] Klippen" zuzuhalten - von denen die Autorin nichts vernommen zu haben scheint - oder eben nach links auf die Meerenge zwischen Szylla und Charybdis zu. Sie schlicht und einfach zu "umfahren", wie Niethammer vorschlägt, ist also gar nicht möglich. Und wieso die nun tatsächlich von Odysseus getroffene Wahl (Kirke weist ihn zwar auf die Alternative hin, rät ihm aber explizit nicht, welchen Weg er einschlagen soll) die weniger rationale gewesen sein soll, erhellt sich nicht. Dies zu behaupten ist aber notwendig, um der Argumentation Horkheimers und Adornos folgen zu können, die meinen, Odysseus' Entscheidung fuße darauf, dass "das Naturverhältnis von Stärke und Ohnmacht bereits den Charakter eines Rechtsverhältnisses angenommen" habe.

Dass Peter Beicken in seinem Beitrag zu "Kafkas Verkehrungen von Mythos und Geschlecht" unter anderem von Franz Kafkas kleinem Text über das "Schweigen der Sirenen" und somit ebenfalls von Odysseus' Vorbeifahrt an den Sirenen handelt, überrascht nicht. Beicken, der Odysseus' Begegnung mit den Sirenen in die "Ilias" verlegt, bietet ebenfalls keinen Hinweis darauf, dass der "listige Held" nicht selbst auf die Idee mit dem Wachs kam, sondern des Ratschlags einer Zauberin bedurfte. In seinem ansonsten durchaus lesenswerten Beitrag legt Beicken überzeugend dar, dass der Mythos für den Prager Autor ein "Denkmal patriarchalischer Macht" war, dessen Geltung er in seinen "Fiktionalisierungen" mit "Widerrede, Umgestaltung und Kritik" in Form "unfehlbarer Ironie" begegnete.


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Ortrun Niethammer / Heinz-Peter Preußer / Françoise Rétif (Hg.): Mythen der sexuellen Differenz - Mythes de la différence sexuelle. Übersetzungen, Überschreibungen, Übermalungen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
252 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783825352769

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