Auf den Spuren des Schneeleoparden

Tschingis Aitmatow kehrt mit seinem neuesten Roman in seine kirgisische Heimat zurück

Von Ruth WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Jeder Kreatur bleibt das eigene Schicksal verschlossen. Niemand weiß, was ihm bevorsteht. Erst der Gang des Lebens zeigt an, was uns von Geburt an vorbestimmt ist, sonst gäbe es das Schicksal nicht." Wiederum erzählt Tschingis Aitmatow von Kirgisien, dem Schauplatz fast aller seiner Romane und Erzählungen, nachdem er sich in seinem 1994 erschienenen Roman "Das Kassandramal" einem globalen Thema über die Bedrohung der Welt zugewandt hatte.

In dem 1987 in der Zeit der Perestroika erschienenen Roman "Die Richtstatt" hatte Aitmatow aktuelle gesellschaftliche Probleme und Missstände aufgegriffen, um damit die Bemühungen Gorbatschows um eine Umgestaltung der Sowjetunion zu unterstützen. Doch er hatte sich nicht nur literarisch für die Perestroika eingesetzt, sondern wurde auch politisch aktiv, indem er 1986 das "Issyk-Kul-Forum" ins Leben gerufen hat, eine Konferenz von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern aus der ganzen Welt. 1989 wurde er Berater Gorbatschows und ging 1990 als Botschafter der Sowjetunion nach Luxemburg. Heute ist er Botschafter der Republik Kyrgyzstan (Kirgisien) in Brüssel.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kirgisien nach dem Ende der Sowjetunion bilden den Hintergrund des Romans "Der Schneeleopard". Er zeigt den Zorn und die Trauer Aitmatows angesichts der zum Teil katastrophalen Verhältnisse in seinem Heimatland, in dem die Oligarchen die Macht haben, und die Mehrheit der Bevölkerung sich mehr schlecht als recht mit allerlei Gelegenheitsjobs durchschlägt. Alles, wofür man in der Perestroika gekämpft hat, ist von der Welle des Kommerzes hinweggeschwemmt worden - zuvörderst die Kultur, über die das Show-Business triumphiert.

In der "Richtstatt" hatte Aitmatow das tragische Schicksal einer Wolfsfamilie mit der des Schafhirten Boston verknüpft; in seinem neuesten Roman wird das Schicksal des Schneeleoparden Dschaa-Bars, der "Großmächtige", parallel zu dem des Journalisten Arsen Samantschin erzählt. Am Ende des Romans werden beider Schicksale auf tragische Weise miteinander verbunden.

Im ersten und dritten Kapitel des Romans wird zunächst das Leben des Schneeleoparden Dschaa-Bars aus dessen eigener Sicht erzählt, der mit seinen Artgenossen im Hochgebirge des Tientschan, nahe der chinesischen Grenze lebt. Dschaa-Bars ist das Leittier im Rudel der Schneeleoparden, das größte und kräftigste Tier, allen anderen überlegen. Allmählich jedoch beginnen seine Kräfte zu schwinden. Bei der Jagd auf Steinböcke und Ziegen hat er keinen Erfolg mehr und muss sich mit kleinen Tieren begnügen. Sein Weibchen hat sich einem Jüngeren zugewandt, und sein Versuch, ein anderes Weibchen für sich zu gewinnen, misslingt. Er wird vom Rudel ausgeschlossen. Da macht er sich auf, eine Höhle jenseits des Passes zu suchen, um dort sein Ende zu erwarten - aber es gelingt ihm nicht, den Pass, der ohnehin nur für kurze Zeit im Sommer passierbar ist, zu überwinden.

Aitmatow gelingt es, das Leben des Schneeleoparden Dschaa-Bars in seinen verschiedenen Stadien vor der Kulisse des Hochgebirges auf eindrückliche Weise darzustellen - parallel zum Schicksal des Schneeleoparden wird im zweiten und vierten Kapitel des Romans das Schicksal des unabhängigen Journalisten Arsen Samantschin erzählt, der in den Zeiten der Perestroika eine wichtige spielte: Er hatte auf Kongressen und im Fernsehen gesprochen und war ein allseits geachteter Mann gewesen. Aber nun hat man ihn beiseite geschoben. Auch seine geliebte Aidana, eine begabte Opernsängerin, hat sich von ihm abgewandt. Ertasch Kurtschajew, ein mittelmäßiger Schauspieler, hat es verstanden, ein gutgehendes Showgeschäft aufzuziehen und Aidana zum gefeierten Popstar aufzubauen. Um ihr nahe zu sein und vielleicht wieder in Kontakt mit ihr zu kommen, besucht Arsen gelegentlich ihre Show in einem Luxushotel. Hier wird ihm an einem Abend nachdrücklich klargemacht, dass er nicht erwünscht ist: Er wird vor die Tür gesetzt und auf dem Heimweg von zwei Bodyguards des Showmasters massiv bedroht und beschimpft. Der Gedanke, dass Aidana selbst hinter diesem Komplott stehen könnte, bringt ihn fast um den Verstand. Er hat nur noch einen Gedanken: jenen Kurtschajew als Verursacher seines Unglücks und danach sich selbst zu töten - aber wie kann er an eine Waffe gelangen?

In einer Rückblende erinnert sich Arsen an die Zeiten ihrer Liebe, vor allem an die Tage in Heidelberg, wo die Idee der Oper von der "Ewigen Braut" geboren wurde. Sie waren gemeinsam nach Deutschland gereist, wo Aidana in einem exklusiven Konzert auf Einladung eines Zirkels von Musikfreunden aufgetreten war. Der Erfolg des Liederabends war überwältigend. Am Abend noch stiegen sie beide zum Heidelberger Schloss hinauf. Hier erzählt Arsen ihr die im kirgisischen Volk lebendige Legende von der "Ewigen Braut": Aus Bosheit und Missgunst wird die Liebe zweier Menschen zerstört, die füreinander geschaffen waren. Man entführt die Braut am Tag der Hochzeit und erklärt dem Bräutigam, sie sei mit einem früheren Liebhaber geflohen. Daraufhin wendet sich der Bräutigam zutiefst gekränkt ab und verschwindet für immer in den Bergen. Die Braut kann sich aus der Hand ihrer Entführer befreien und begibt sich auf die Suche nach ihrem verlorenen Bräutigam, ohne ihn freilich jemals zu finden. Die "Ewige Braut" gilt im kirgisischen Volk als das Sinnbild unverbrüchlicher Liebe und Treue. In bestimmten Nächten entzünden die Bewohner ein Feuer auf den Bergen, um der "Ewigen Braut" bei ihrer Suche zu helfen - und wohl auch, um stellvertretend ihrer Reue über die lange zurückliegende Untat Ausdruck zu geben.

Diese Legende erzählt Arsen seiner geliebten Aja. Er möchte eine Oper daraus machen, zu der er das Libretto und ein befreundeter Komponist die Musik schreiben will. Aidana soll mit ihrer wunderbaren Stimme die "Ewige Braut" singen und deren Schicksal allen Menschen, die diese Musik hören, nahebringen. Arsen steigert sich derart in diese Vorstellung hinein, dass Aidana ihn erst wieder auf den Boden der Tatsachen zurück holen muss: Solch eine Opernaufführung kostet viel Geld, das niemand zur Verfügung hat. Gleichwohl ist es für beide eine unvergessliche Nacht - der Höhepunkt ihrer Liebe, umso schmerzlicher ist die allmähliche Entfremdung.

Mit der Legende von der "Ewigen Braut", die hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden konnte, hat Aitmatow wiederum eine der ihm von seiner Kindheit her vertrauten Legenden des kirgisischen Volkes aufgegriffen und in eine Romanhandlung einbezogen, wie er es mehrfach getan hat, am eindrücklichsten wohl in der Legende von der "Gehörnten Hirschmutter" in dem Roman "Der weiße Dampfer". Seine Absicht ist es, diese Legenden und Überlieferungen vor dem Vergessen zu bewahren und durch sie bestimmte Einsichten zu vermitteln.

Während der erste Teil der Romanhandlung in der kirgisischen Hauptstadt spielt, ist der Ort der Handlung im zweiten Teil das unterhalb des Tienschangebirges gelegene Ail Tujuk-Dschar, das auch das Heimatdorf Arsens ist. Hier lebt sein Oheim, sein Bektur-Aga, der früher ein erfolgreicher Kolchos-Vorsitzender war; jedoch lässt sich mit der Landwirtschaft kein Geld mehr verdienen, weshalb jener Oheim ein gutgehendes Jagdgeschäft aufgezogen hat, das den Dorfbewohnern wenigstens einen bescheidenen Verdienst ermöglichen soll. Nun steht ein besonderes Ereignis bevor: Zwei arabische Prinzen hatten sich angesagt, um den Schneeleoparden zu jagen. Dazu braucht der Oheim die Hilfe Arsens, der als einziger über ausreichende Englischkenntnisse verfügt. Er soll nun die arabischen Prinzen empfangen und ihr ständiger Begleiter und Dolmetscher sein. Arsen freilich ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass die Schneeleoparden, deren Bestand bereits dezimiert ist, nunmehr zum Abschuss freigegeben werden sollen. Immerhin jedoch lenkt ihn die Vorbereitung für die Ankunft der Prinzen heilsam von seinen eigenen trüben Gedanken ab. Er wird gegen seinen Willen in ein Komplott verwickelt, das Taschtanafghan geplant hat, ein ehemaliger Schulkamerad, der in der Roten Armee in Afghanistan kämpfte. Er will zusammen mit vier anderen Schulkameraden die Prinzen als Geiseln nehmen, sie in einer Höhle versteckt halten und nur gegen Zahlung eines horrenden Lösegeldes freilassen. Doch sind auch sie auf die Englischkenntnisse Arsens angewiesen, um sich mit den Prinzen verständigen zu können. Arsen versucht, die Männer von ihrem verhängnisvollen Vorhaben abzubringen; doch setzen sie ihn so unter Druck, dass er keinen Ausweg mehr sieht und sich in sein Schicksal fügt.

In dieser ausweglosen Lage begegnet ihm Elesa; mit ihr erlebt er noch einmal ein Liebesglück, das ihn die Erinnerung an die Untreue Aidanas vergessen lässt. Aber dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Zunächst verläuft alles nach den Plänen des Bektur-Aga:

Auf Befehl des Taschtanafghan soll Arsen die Prinzen bis an die Höhle heranführen, in deren Nähe sich der Dschaa-Bars, der mächtige Schneeleopard, versteckt halten soll; tatsächlich jedoch sollen sie, die Prinzen, in dieser Höhle gefangengehalten werden. Arsen reitet los, um die Prinzen zu holen. Unterwegs aber hält er an, nimmt sein Megafon und schreit auf russisch, kirgisisch und englisch: "Hände weg von unserem Schneeleoparden! - Verschwindet auf der Stelle! - Ihr werdet unsere Wildtiere nicht vernichten!" - als Antwort beginnt im gleichen Moment ein Beschuss von verschiedenen Seiten. Auch Arsen wird getroffen und schleppt sich mit letzter Kraft in die Höhle. Dort erblickt er die langsam erlöschenden Augen Dschaa-Bars. So hat es das Schicksal gefügt, dass sie beide in ihrer letzten Stunde vereint sind. Mit seinen letzten klaren Gedanken wendet sich Arsen an die Menschen, über die er mit seinem Tun Unglück gebracht hat - aber es gab keinen anderen Ausweg, um die Geiselnahme abzuwenden und die Schneeleoparden zu schützen.

Die Dorfbewohner verfluchen Arsen, weil er sie um ihren Lohn gebracht und das Jagdgeschäft des Oheims zerstört hat. Arsen wird trotzdem auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Elesa folgt als selbsternannte Witwe seinem Sarg. Sie fühlt sich der "Ewigen Braut" aus der Legende in ihrem Schmerz sehr nahe.

Als man den toten Schneeleoparden begraben will, findet man ihn nicht mehr in seiner Höhle. Dschaa-Bars war spurlos verschwunden.

Der Roman endet mit einem Epilog, einer Erzählung Arsen Samantschins über "Töten und Nichttöten", die Elesa unter den Papieren Arsens gefunden hat. Die Erzählung ist eine nachdenkliche Reflexion eines jungen Soldaten auf der Fahrt an die Front im Zweiten Weltkrieg über das Töten im Krieg.

Der Roman will zum einen auf die teilweise katastrophalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Kirgisien nach dem Ende der Sowjetunion - über die in Westeuropa wenig bekannt ist - und zum anderen auf die Bedrohung der Natur durch die zum Teil aus der Not heraus geborene Ausbeutung aufmerksam machen. Aitmatow selbst ist Vorsitzender einer Vereinigung zum Schutz der Schneeleoparden, von denen es nur noch etwa 260 gibt.

Die Kritik einiger Rezensenten, Aitmatows Stil wäre einerseits rührselig, anderseits ungeschlacht und roh, ist, betrachtet man das Gesamtwerk, nicht zu halten. Auch die oft konstatierte psychologische Konturlosigkeit der Figuren ist in keinster Weise festzustellen. Gewiss sind etwa die Reaktionen der Dorfbewohner auf die vereitelte Jagd maßlos und übertrieben, doch sind die einzelnen Personen durchaus differenziert dargestellt.

Einzig Aitmatows ständige Beschwörung des Schicksals, das die Menschen bestimmt, kann kritisiert werden, doch auch das ist eine Frage der Weltanschauung.


Titelbild

Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.
Unionsverlag, Zürich 2007.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783293003705

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