Glauben und Lesen

Neue Literatur aus dem Spannungsfeld von Literaturwissenschaft und Theologie

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Es hat heute den Anschein, als würden sich Theologie und Literaturwissenschaft aufeinander zubewegen. Auf theologischer Seite ist eine kulturwissenschaftliche Öffnung zu beobachten, besonders mit der Renaissance des Kulturprotestantismus sucht die Theologie Anschluss an andere Disziplinen. Schon seit einigen Jahrzehnten beschäftigen sich Theologen auf breiter Front mit Literatur, damit geht oft auch ein anderes Selbstverständnis einher, so dass Begriffe wie Metapher und Erzählung in der Theologie zunehmend eine Schlüsselrolle spielen. Auf Seiten der Literaturwissenschaft wächst in den letzten Jahren das Interesse an Religion, wie etwa die Konjunktur der politischen Theologie zeigt. Tatsächlich scheint ein solches Interesse überfällig, waren doch mit der kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Faches bereits vor längerer Zeit politische, historische, philosophische und zuletzt auch wissenschaftliche Texte zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Überlegungen geworden, so dass es nur konsequent erscheint, sich nun auch in Richtung religiöser Texte zu öffnen.

Die Annäherung führt aber keineswegs zu klaren Verhältnissen: Zunächst ist alles andere als klar, als was die jeweils andere Disziplin und deren Gegenstand jeweils wahrgenommen wird, inwieweit man auf den Reflexionsstand der anderen Disziplin eingeht und in welchem Maße eine Öffnung der Disziplinen diese selbst verändert. Gerade weil das Verhältnis zu anderen Wissenschaften auch diese selbst verändert, ist es interessant zu beobachten, wie jeweils mit dieser Grenze beziehungsweise ihrer Überschreitung umgegangen wird.

Schieflagen und Systematiken

Immer wieder wird in der Forschung eine ,Asymmetrie', ,Schief-' oder ,Schräglage' betont: dass nämlich das Interesse der Theologie an der Literatur das der Literaturwissenschaft an der Theologie weit überwiegt, so dass auch die meisten hier erwähnten Publikationen aus der Theologie hervorgehen. So stammt auch der einzige Versuch einer Gesamtdarstellung von einem Theologen. Georg Langehorsts "Theologie und Literatur. Ein Handbuch" will zugleich Forschungsbericht und systematischer Beitrag sein, es beginnt mit einer Geschichte der wichtigsten theoretischen Versuche des 20. Jahrhunderts, das Verhältnis der Disziplinen zu bestimmen: Nach einer ersten, von großen theologischen Systematisierungsversuchen etwa durch Paul Tillich und Hans Urs von Balthasar bestimmten Phase wird die Diskussion seit den 1970er-Jahren vom Paradigma des ,Dialogs' bestimmt, das die Eigenständigkeit beider Disziplinen betont und immer wieder hervorhebt, die Texte nicht theologisch vereinnahmen zu wollen. Allerdings, so konstatiert Langenhorst vollkommen zurecht, sei dieser Dialog immer ein asymmetrischer gewesen und habe letztlich dazu geneigt, die Literaturwissenschaft nur als Hilfsdisziplin zu behandeln. Im abschließenden dritten Teil des Buches, einem Ausblick auf die Zukunft des Forschungsfeldes, plädiert er denn auch radikal für die Abkehr vom Dialog-Paradigma, das er als "gescheitertes Gesprächsangebot" versteht und zurückzieht. Einigermaßen überraschend ist diese Abwendung aber nicht mit einer prinzipiellen Kritik an bisherigen Entwürfen und Forschungen verbunden, sondern nur mit der Rücknahme ihres Anspruches, mit der "klärenden Befreiung" von überzogenen Ansprüchen und mit der "Entlastung" von der Interdisziplinarität. ,Theologie und Literatur' meint jetzt also nicht mehr ein Spannungsfeld zwischen zwei Disziplinen, sondern eine Subdisziplin der Theologie, die theologische Interessen mittels literarischer Texte verfolgt.

Genau das habe die bisherige Forschung getan, legt jedenfalls der zweite Teil von Langenhorsts Buch nahe. Gegliedert nach den theologischen Disziplinen - Exegese, Systematische Theologie, Kirchengeschichte und praktische Theologie - wird hier die Einzelforschung dargestellt und teils recht kritisch bewertet. Dabei konzentriert sich Langenhorst wie auch der Großteil der Studien theologischer Herkunft auf die moderne deutsche Literatur. Literaturwissenschaftlich interessant wäre nicht nur der Vergleich mit älterer Literatur - etwa des Barocks -, in welcher die Theologie eine ganz andere Rolle gespielt hat, sondern auch eine genauere Untersuchung der Entstehung des modernen Dichtungsverständnisses um 1800, das ja in ,Kunstreligion' und ,Neuer Mythologie' ebenfalls zentral auf theologisches Denken rekurrierte. Aber letztlich scheint es dem überwiegenden Teil der theologischen Beiträge weniger um ein historisches Verstehen zu gehen als vielmehr um eine Auseinandersetzung mit den existentiellen und aktuellen Fragen, die eben in der Gegenwartsliteratur besonders ,unmittelbar' reflektiert werden.

Ein ähnlicher Versuch, sich dem Thema ,Theologie und Literatur' systematisch zu nähern, liegt vor in Jan Bauke-Rüeggs ambitioniertem, allerdings etwas unübersichtlichen Buch "Theologische Poetik und literarische Theologie?" Der Autor reflektiert zunächst über die methodologischen Probleme der "transdisziplinären Arbeit" im Feld von Literatur und Theologie. Er entwirft ein Viereck von Glaube - Theologie beziehungsweise Literatur - Literaturwissenschaft und weist zurecht darauf hin, dass in der Diskussion in der Regel nicht klar sei, wer eigentlich wem gegenüberstehe. In einem zweiten Teil fragt Bauke-Rüegg nach der theologischen Reflexion von Literatur. In einem breiten und genauen Überblick werden die theologische Literaturskepsis, die Heranziehung von Literatur in der Homiletik, die christliche Literatur und Literaturkritik untersucht und die Entwürfe einer poetischen Theologie untersucht. Seit Augustinus gibt es eine Tradition, Theologie und Poesie zusammenzudenken als eine Sprachwerdung des Sprachlosen, eine Figur, die voller Ambivalenzen steckt: So zeigt Bauke-Rüegg am Topos von ,Gott als Schriftsteller' differenziert, wie dieser bei Plato entsteht, bei Johann Georg Hamann ambivalent wird und von Søren Kierkegaard jetzt gegen die gottgleiche Anmaßung des modernen Schriftstellers gewendet wird. Dabei verschiebt sich die diffuse Rede von der poetischen ,Schöpfung? hin zu sehr viel moderneren und differenzierteren der Autorschaft.

Komplementär zu diesem theoretischen Teil untersucht Bauke-Rüegg in einem dritten Teil die Präsenz theologischen Denkens in literarischen Lektüren angesichts dreier umfänglicher, ausführlich die Fachliteratur verarbeitender Lektüren von Lars Gustafsson, Peter Handke und John Updike. Dabei arbeitet er etwa bei letzterem eine intensive theologische Reflexion heraus und interpretiert dessen Romane entlang von Fragen wie der nach dem Schöpfungsverständnis oder nach der Erkennbarkeit Gottes. Allerdings scheint dabei die ironische Brechung, der alle diese theologischen Referenzen unterzogen werden, ein wenig zu gering bewertet, ebenso wie formale Momente, die in einer literaturwissenschaftlichen Interpretation an erster Stelle stehen müssten (etwa die Tatsache, dass wir in "Das Gottesprogramm" eben laut Originaltitel nur "Roger's Version" lesen) - wieder zeichnet sich die Neigung theologischer Interpretationen ab, Texte auf inhaltlicher Ebene zu lesen. Bei aller Nützlichkeit zeigen die Bücher von Langenhorst und Bauke-Rüegg daher auch, wie weit die Disziplinen voneinander entfernt sind und wie sehr ihre Beziehung von Abgrenzungsproblemen und sterilen Methodenfragen bestimmt ist. Dass ein entsprechender Versuch seitens der Literaturwissenschaft fehlt, zeigt noch einmal die erwähnte Schieflage der Diskussion.

Poetische Theologie

Wie Bauke-Rüegg betont, gibt es in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance des Ästhetischen und Poetischen in der Theologie. In ihnen stellt sich die Frage, inwiefern theologisches Denken selbst auf literarischen Praktiken gründet oder sich selbst bedient, inwiefern umgekehrt literarische Praktiken wie das Erzählen und das Lesen immer auch theologisch aufgeladen sind. Um nur drei Autoren zu nennen: Hermann Timm untersucht schon seit langem die theologischen Hintergründe literarischer Praktiken und versucht, den Johanneismus der deutschen Denktradition herauszuarbeiten; Oswald Bayer hat ausgehend von Hamann versucht, einen poietischen Gottesbegriff zu denken, der die Breite des Sprach- und Schrifthandelns miteinbezieht, Alex Stock schreibt seit Jahren an einer vielbändigen "Poetischen Dogmatik", die sich auf die Suche nach den vielfältigen poetischen Mustern in den liturgischen und paraliturgischen Gebräuchen der katholischen Kirche macht. Bei allen dreien wird der Zusammenhang von Theologie und Literatur nicht als Zusammenhang zweier Disziplinen, sondern als ursprünglichere Bezogenheit von Glaubensmodi und poetischen Verfahren betrachtet. Das könnte vielleicht eine andere, grundsätzlichere und fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den Disziplinen eröffnen als die Beschäftigung mit moderner Literatur aus theologischem Erkenntnisinteresse.

Diese Hoffnung weckt auch die jüngst erschienene dreibändige "Ästhetische Theologie" von Klaas Huizing, auf die hier ein genauerer Blick geworden werden soll. Huizing rekurriert ausgiebig auf die zeitgenössischen literatur-, medien- und kulturtheoretischen Diskurse, um eine anthropologisch verstandene Ästhetik des sinnlichen Menschen als "Elementarwissenschaft der Theologie" zu reformulieren. Der erste Band ("Der erlesene Mensch") will das Christentum als Lesereligion verstehen und untersucht, wie Texte die Dinge zur Anschaulichkeit bringen und kreatürliche Erfahrung ermöglichen. Theologie wird hier zur Leitdisziplin einer Anthropologie des Lesens, die sich aller möglichen Anregungen bedient, vor allem aber auf das Porträt Christi hin orientiert ist, das die urchristlichen Schriften entwerfen, etwa in den synoptischen Gleichnissen, die den Leser affektiv berühren und in ihm selbst ein Wiedergeburtsdrama auslösen können.

Der zweite Band "Der inszenierte Mensch" geht einen Schritt weiter und widmet sich den audiovisuellen Medien, die Huizing in Anlehnung an Jochen Hörisch als die zeitgenössischen Produzenten von Präsenz versteht. Er versucht anhand medialer Heiligenlegenden herauszuarbeiten, wie religiöse Virtuosen ihre Inhalte medial kommunizieren; das literarische Porträt im Gleichnis wird dabei durch die Geste und die Legende ersetzt, die Huizing im Hollywood-Film und Video-Clips wiedererkennt. Denn für Huizing ist die christliche Kunst nicht eine der Problematisierung, der Negation, sondern eine des Gelingens - ohne Scheu vor dem Kitsch, der immer in der Nähe ist, stürzt er sich in die Welt der Populärkultur, der Videoclips und Unterhaltungsromane.

Der dritte Band schließlich, "Der dramatisierte Mensch", versteht das Theater als Realisation zweiter Potenz, in der die Gleichnishaftigkeit des Verstehens und die mediale Gestik selbst noch einmal dargestellt werden. Dazu wird noch einmal die ganze Geschichte des Verhältnisses von Christentum und Theater aufgerollt, die romantische Theorie der Darstellung als mögliche Form der Vermittlung angeführt und schließlich ein eigenes Theaterstück integriert. Mehr und mehr überwiegt die Lust am Lesen dabei allerdings die theoretische Perspektive: Je länger er schreibt, desto mehr wird sein Buch zu einer idiosynkratischen Konfession, die uns immer wieder sagt, was er wann, wo und wie gelesen oder gesehen hat. Den betont ausschweifenden und zunehmend subjektiven Duktus des Zugriffs kann man mögen oder nicht, jedenfalls drängt sich oft der Eindruck auf, weniger wäre hier mehr gewesen und die Evokation des Systematischen (drei Bände, viele Unterkapitel und Gliederungen) vertrage sich nur bedingt mit der essayistischen Schreibweise.

Biblisches

Es gibt einen Bereich, wo sich Literaturwissenschaft und Theologie immer schon berührt haben: die Bibel. Die Theologie hat in ihrer Exegese zumindest seit der Neuzeit auf textwissenschaftliche Methoden zurückgegriffen, für die Literaturwissenschaft gehört die Bibel als zentraler Referenztext abendländischer Literatur zum selbstverständlichen Handwerkszeug - oder sollte es jedenfalls. Allerdings relativiert sich diese zu erwartende Nähe, jedenfalls mit Blick auf die deutsche Wissenschaft: Hier hat die Bibelwissenschaft bis vor kurzem wenig mit der Literaturwissenschaft anzufangen gewusst, umgekehrt hat das Thema Bibelrezeption in der Literaturwissenschaft eine eher marginale Rolle gespielt. Einige neuere Publikationen scheinen dafür zu sprechen, dass sich diese Situation nun ändert.

Bertram Kirchers Anthologie "Die Bibel in den Worten der Dichter" entwirft eine "Dichterbibel", die, gegliedert nach den wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte, eine Fülle von deutschsprachigen literarischen Texten sammelt, die sich auf die Bibel beziehen oder sich mit ihr auseinandersetzen. Die Auswahl reicht vom Mittelalter bis in die Gegenwartsliteratur und umfasst Lyrik, Prosa und Drama. Aus naheliegenden Gründen dominieren dabei kürzere Texte - Lyrik macht den größten Teil aus - und Texte, die sich eher direkt auf die Bibel beziehen und sie literarisch ,nacherzählen?, weil komplexere Figurationen schwer auf begrenztem Raum darstellbar sind: Stark vertreten sind etwa Johann Peter Hebels "Biblische Geschichten" oder Louise Rinsers "Mirjam", dagegen fehlt die Kreuzigungsparodie aus Karl Philipp Moritz' "Andreas Hartknopf" oder die Adaption des verlorenen Sohnes in Friedrich Schillers "Die Räuber". Groß ist der Anteil der christlichen Literatur aus dem 19. Jahrhundert, so stehen etwa zwei Liedern von Paul Gerhard sechzehn von Karl Gerok gegenüber; die Illustrationen von Schnorr von Carolsfeld passen sehr gut zu diesem leicht biedermeierlichen Eindruck. Misslich für den Literaturwissenschaftler sind die ungenauen Nachweise der Texte, die meist nur aus Hinweisen auf (oft veraltete) Ausgaben ohne Band- und Seitenangaben bestehen (für Johann Wolfgang Goethe etwa pauschal "Sämtliche Werke, Stuttgart 1902-1907") - das Suchen bleibt einem also nicht erspart. Insgesamt ist diese Anthologie aber ein schönes Buch, das zum Blättern reizt und auch eine Fülle von überraschenden Entdeckungen enthält - etwa Wilhelm Buschs Gedicht "So nicht" über Kain, der lausbubenhaft versucht, mittels einer Leiter die Paradiesmauer zu übersteigen.

Von den von ihrem Anspruch her literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Bibel ist ein großer Teil motivgeschichtlich ausgelegt. So behandelt etwa Magda Motté in ",Judiths Tränen, Esthers Tapferkeit? Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts" die literarische Rezeption einzelner Frauenfiguren in der Reihenfolge ihres biblischen Auftretens. Die dem Band beigegebene tabellarische Aufstellung der wichtigsten deutsch- und fremdsprachigen literarischen Texte und ausgewählter Forschung macht dabei deutlich, dass die Beschäftigung mit biblischer Weiblichkeit tatsächlich eine Leerstelle der Forschung darstellt. Allerdings legt Motté dabei weder ein irgendwie theoretisch gefasstes Genderkonzept zugrunde, noch beschäftigt sie sich mehr als in Seitenbemerkungen - etwa über die "androzentrische Weltsicht der biblischen Redaktoren"- mit dem biblischen Text selbst, obwohl es dazu inzwischen eine Fülle hochinteressanter Beiträge feministisch-literarischer Exegese gibt. Auch ist sie selbst zurückhaltend, was den ,Wert? der von ihr untersuchten Literatur angeht: Sie betont, dass die meisten Texte nicht "zur epochemachenden ,großen? Literatur zählen, sondern höchstens Achtungserfolge erzielen. [...] Es fehlt ihnen an Souveränität im Umgang mit der Vorlage, an neuen Einfällen und vor allem an ironischer Distanz zum Stoff. Das liegt insbesondere daran, dass die meisten tendenziös eine religiöse Intention verfolgen, sei es im Sinne der Bibel, sei es in kritischer Gegenreaktion. Doch hat die gute Meinung dem Kunstwerk meist geschadet." Hier wird, durchaus typisch für die Forschung, ein Gegensatz zwischen einem traditionellen, an der Kunstautonomie orientiertem, Literaturverständnis und der ideologischen Intention vorausgesetzt. Er erschwert es, etwa die Frage nach einer Kulturgeschichte der Weiblichkeit zu stellen und die Literatizität auch von solchen Texten zu untersuchen, die eben kein ,Kunstwerk? sein wollen.

Die andere methodische Option neben der motivgeschichtlichen ist die autormonografische. Solche Studien über ,das Gottesproblem bei X?, ,die Psalmen bei Y? machen - das zeigt etwa der Überblick bei Langenhorst - den größten Teil der Forschung aus. Auch hier überwiegt die Gegenwartsliteratur: während es etwa zu Friedrich Gottlieb Klopstocks Verhältnis zur Bibel neben der profilierten Studie von Gerhard Kaiser nur wenig Forschung gibt, häufen sich die Veröffentlichungen zu Rainer Maria Rilke oder zu Heinrich Böll. Aus der sehr umfassenden Literatur seien nur zwei Veröffentlichungen herausgegriffen. Christoph Gellner hat in "Schriftsteller lesen die Bibel" eine Reihe von Einzelporträts zu modernen deutschen Autoren vor allem der Nachkriegsliteratur zusammengefasst: Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Wolfgang Hildesheimer, Erich Fried, Heinrich Böll, Günter Grass, Ingeborg Bachmann unter andere. Allerdings ist der Zusammenhang dieser Autoren eher unbestimmt. Dass der Großteil der behandelten Autoren jüdischer Herkunft ist, wird explizit reflektiert, ohne dass Gellner freilich auf die höchst problematische Rezeption dieses ,Jüdischen? im Diskurs der Deutschen Gegenwartsliteratur eingeht. Die Darstellungen bewegen sich dabei zwischen Lebens- und Werksgeschichte und umfassen mal detaillierte Lektüren, mal eher grob paraphrasierende Übersichten über die Werke. Sie sind dichter als die motivgeschichtlichen Studien, aber ebenfalls eher entfernt von technischen und poetologischen Fragen; sie sind meist nicht thesen- oder problemgeleitet, sondern sie entwerfen eher Einzelporträts der jeweiligen Autoren. Gemeinsam sei den Autoren, so Gellner einleitend, dass sie alle Projekte des Neu-, Gegen- und Weiterschreibens der Bibel betrieben, dass für sie die Bibel aber auch eine besondere Autorität habe und ,mehr als ein Buch' sei - diese Formulierungen bleiben aber, gerade weil ihnen kein Bemühen entspricht, sie methodisch-theoretisch in (gar vergleichende Textanalysen) umzusetzen, doch sehr unbestimmt.

Ähnlich werkbiografisch, aber in einem umfassenderen historischen Horizont orientiert sich der von Jan Rohls und Gunther Wenz herausgegebene Sammelband ,Protestantismus und deutsche Literatur'. Er widmet sich weniger der Gegenwartsliteratur als den Autoren der Empfindsamkeit und der Romantik sowie der klassischen Moderne. So zeigt etwa Walter Sparn, dass Klopstocks Dichtung nicht einfach als Bewegung von der Theologie zur Literatur (als ,Poetisierung der Bibel') verstanden werden kann, sondern dass der hier stattfindende Wandel des Dichtungsverständnisses einhergeht mit einer Transformation des Christentums. Ähnlich interpretiert Ulrich Barth Wackenroders Kunstfrömmigkeit als durchaus bewusste Reaktion auf die sich um 1800 abzeichnende Verschiebung des kulturellen Stellenwertes von Kunst und Religion. Materialreich untersucht Rohls die verschiedenen Stadien (feuerbachianisch beeinflusster Anarchismus, Schopenhauer-Rezeption, Parsifal) von Richard Wagners ambivalentem Verhältnis zum Christentum, wobei sich immer wieder eine Reserve gegenüber dem massiven Gebrauch christlicher Figuren verbindet. Die Stärke dieser Untersuchungen ist nicht nur, dass sie sich der diskursgeschichtlich entscheidenden Epoche der Transformation der christlichen (insbesondere pietistischen) Religiosität in ,Dichtung' und bürgerliche Ideologie widmen, sondern auch, dass sie die großen Fragen von ,Säkularisierung' und ,Modernisierung' mit detaillierter Textlektüre verbinden. Dabei werden auch jene Fragen und Konzepte einer Kritik unterzogen. Denn gerade für jene Sattelzeit um 1800 gibt es zwar eine Forschung von hoher Qualität (insbesondere die Arbeiten von Albrecht Schöne, Joachim Dyck, Gerhard Kaiser und Hermann Timm), die aber durch die festgefahrene ideologische Debatte über ,Säkularisierung' blockiert worden ist. Es wäre zu wünschen, dass dieses Feld durch konzeptuell anspruchsvolle und ideologisch uninteressierte Lektüren weiter erschlossen würde.

Ausnahmen: Bibel als Literatur und dichte Lektüren

Schließlich seien einige Arbeiten erwähnt, die sich in keine der hier erwähnten Rubriken einordnen lassen - und gerade deshalb vielleicht zukunftsweisend sind. Eine Ausnahme stellt Hans-Peter Schmidts ,Schicksal - Gott - Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk' dar, weil es sozusagen die umgekehrte Perspektive einnimmt: Hier beschäftigt sich nicht ein Theologe mit moderner Literatur, sondern ein moderner Literaturwissenschaftler mit der Bibel. In einer Reihe von Einzellektüren werden an Schlüsselszenen des biblischen Textes die Geschichte des Schuld- und Schicksalskonzepts in der Bibel, der Rolle der Weiblichkeit, die Frage der Herrschaft et cetera untersucht und besonders die Leistung der literarischen Mittel betont: So erlaube die Kunst der Andeutungen dem biblischen Erzähler immer wieder, besonders komplexe ideologische Aussagen zu machen, wie auch die komplizierte epistemologische Konstruktion (ein Erzähler, der sich in der Nähe des göttlichen Allwissens bewegt, aber doch von Gott unterschieden ist) eine wichtige Funktion für die biblischen Erzählung habe. Es sei, so Schmidt, die genuine Leistung der Fiktion, verschiedene einander widersprechende Aussagen zugleich vorzubringen, etwa ein Gottesbild zu entwerfen, das ganz verschiedene Eigenschaften miteinander vereine und das gerade in seiner Menschlichkeit dem Menschen oft unverständlich erscheinen muss.

Schmidts Buch ist unakademisch, hat keine Scheu vor großen Thesen und spart mit Einzelnachweisen oder Auseinandersetzungen mit der Fachliteratur. Aber hinter ihm steht, wie das Literaturverzeichnis und auch eine ebenfalls von Schmidt betreute Homepage (http://www.aroumah.net/) zeigen, die Diskussion über bible as literature, die im angloamerikanischen Raum längst zum eigenständigen Forschungsbereich geworden ist, Deutschland aber noch kaum erreicht hat. Die detaillierten Untersuchungen aus diesem Forschungszusammenhang ermöglichen eine differenzierte Lektüre der biblischen Texte. Gerade ihre oft technische Ausrichtung erlaubt es, die Komplexität der Texte angemessen zu beschreiben, ohne gleich interpretatorisch zu entscheiden zu müssen, worum es hier nun letztlich gehe, sei es theologisch oder kulturgeschichtlich. Darüber hinaus sind sie in engem Zusammenhang zu theoretischen Überlegungen entwickelt worden - etwa bei Northrop Frye zur Anthropologie, bei Kenneth Burke zur Rhetorik, bei Harold Bloom zur Dekonstruktion - und haben daher das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft entscheidend beeinflusst: Interessant sind sie nicht als Versuche, die Bibel in den Kanon der Literatur einzubeziehen, sondern von der Bibel her das klassische Literaturverständnis (Kunstautonomie, Harmonie und so weiter) aufzubrechen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Diskussionen endlich auch in Deutschland rezipiert werden und damit eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel möglich ist, die nicht mehr zwischen einer vermeintlich naiven Erstlektüre und den geläufigen Vorurteilen schwankt.

Ebenfalls eine Ausnahme bildet Gregor Gumperts Untersuchung "Lust an der Tora", eine dichte Untersuchung verschiedener Übersetzungen und Interpretationen von des ersten Psalms durch Theodor Tagger, Hermann Cohen und Martin Buber. Gumperts Arbeit ist ihrem Selbstverständnis nach weder motivgeschichtlich noch autorbiografisch, sondern ,auslegungsgeschichtlich', das heißt sie untersucht die verschiedenen Lektüren in ihrer konkreten Auseinandersetzung mit dem biblischen Text und den verschiedenen Auslegungstraditionen - von der midrachischen Exegese bis zur Bibelwissenschaft. Sie vollzieht sich also stets in doppelter Auseinandersetzung mit dem biblischen Text und mit dem Gesamtwerk des jeweiligen Autors, wobei sowohl die Überlegungen zum Psalm selbst als auch zu seinen Übersetzern und Auslegern von ausgesprochener und vorbildlicher Vorsicht und dem Wissen über die Grenzen der eigenen Methode geprägt sind und sich aller allgemeinen philosophischen und theologischen Spekulationen enthalten. Die Konzentration auf einen einzelnen Psalm lässt den philologischen Apparat handhabbar und erlaubt es, in der Lektüre der Übersetzungen immer auch über den Psalm selbst zu sprechen. Gumpert beansprucht dabei zurecht, damit nur das offenzulegen, was in der Auslegung und Übersetzung, zumal der jüdischen, immer schon geschieht, die den biblischen Text nicht als etwas fixes auffasst, sondern nur als eine Stimme im Strom der Überlieferung.

Damit entwirft Gumpert ein Modell der Lektüre, das die Texte und die Interpretationen als einheitlichen Zusammenhang begreift und also nicht mehr zwischen ,Motivspender' und ,literarischer' (oder ,auslegender') ,Verarbeitung' unterscheidet, sondern beides zusammen als Prozess der Deutung und des Weiterschreibens versteht - ein Verfahren, dass sich (so Gumpert jetzt wiederum mit Rekurs auf die bible as literature-Debatte) gerade bei solchen Texten aufdrängt, die wie der erste Psalm selbst bereits Auslegung der Heilsgeschichte sind. Diese auslegungsgeschichtliche Lektüre eröffnet nicht nur einen vorsichtigen und reflektierten Zugang der Literaturwissenschaft zur Bibel selbst, sondern macht auch deutlich, dass die Bibel immer wieder anders gelesen worden ist beziehungsweise dass das, was wir uns unter der Bibel vorstellen, von bestimmten Deutungen und Lektüreformen abhängig ist.

Umgekehrt formuliert: Eine Literaturwissenschaft, die sich für die Geschichte von Deutungsmustern und Lektüreformen interessiert, täte gute daran, sich für die Auslegungsgeschichte der Bibel zu interessieren. Die Zurückhaltung von Literaturwissenschaftlern in diesem Gebiet zeigt, dass hier noch einiges zu leisten ist. Die Kritik an den überwiegend theologischen Arbeiten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auf Seite der Literaturwissenschaft nicht besser aussieht. Gerade die kulturwissenschaftliche Erweiterung des Faches hat nicht selten zu einer gewissen Naivität geführt, die über große Fragen spricht, als sei darüber noch nichts gesagt, faktisch aber von alles andere als selbstverständlichen Deutungen abhängt, ohne es überhaupt zu merken. Das betrifft etwa das immer noch stark nachwirkende Erbe der dialektischen Theologie (dass etwa Religion ,eigentlich' nichts mit Literatur zu tun habe), aber auch die kursierenden Verallgemeinerungen über das Judentum und das Christentum in kulturwissenschaftlichen Arbeiten. Es wäre hier unabdingbar auch für die Literaturwissenschaft, sich intensiver und offener mit theologischen Reflexionen auseinanderzusetzen und diese nicht einfach nur als Material für die eigene Theoriebildung zu verwenden.

Grundsätzlich zeigt die Divergenz und Problematik der Arbeiten zwischen Theologie und Literaturwissenschaft, dass dieser Bereich in Bewegung ist. Eine einfache und universell verwendbare Methode der interdisziplinären Zusammenarbeit zeichnet sich dabei nicht ab - und ist wohl auch gar nicht sinnvoll. Denn Interdisziplinarität auf der Ebene allgemeiner methodologischer Reflexionen bleibt meist steril. Fruchtbar und spannend ist sie dann, wenn in der konkreten Arbeit an den Gegenständen - die immer innerhalb einer Disziplin beginnt - Perspektiven anderer Disziplinen aufgenommen werden, wenn also aus der Disziplin heraus diese geöffnet und dadurch geändert wird. Von literaturwissenschaftlicher Seite aus bleibt zu hoffen, dass das Interesse für religiöse Gegenstände und für das Nachleben der Religion zu einer solchen Beunruhigung durch die theologischen Disziplinen führt.

Anmerkung der Redaktion: Eine ausführliche Fassung dieses Textes erschien in Weimarer Beiträge Nr. 53 (2007), S. 129-140.Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Literatur

Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2005

Jan Bauke-Rüegg: Theologische Poetik und literarische Theologie? Systematisch-theologische Streifzüge, Zürich: Theologischer Verlag 2004.

Klaas Huizing: Ästhetische Theologie, Bd. 1-3, Stuttgart: Kreuz Verlag 2000-2004

Bertram Kircher (Hg.): Die Bibel in den Worten der Dichter, Freiburg: Herder 2005.

Magda Motté: "Judiths Tränen, Esthers Tapferkeit". Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2003.

Christoph Gellner: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2004.

Jan Rohls, Gunther Wenz (Hg.): Protestantismus und deutsche Literatur, Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht 2004.

Hans-Peter Schmidt: Schicksal, Gott, Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk, Paderborn: Schöningh 2005.

Gregor Gumpert: Lust an der Tora. Lektüren des ersten Psalms im 20. Jahrhundert, Würzburg: Ergon Verlag 2004.