Ist die Evolutionstheorie atheistisch?

Bemerkungen aus Anlass von Richard Dawkins' Buch "Der Gotteswahn"

Von Karl EiblRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Eibl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufgeregtheit der Diskussion um Evolutionstheorie und Atheismus, die bislang vor allem für die USA kennzeichnend war, scheint nun auch den alten Kontinent zu erreichen. Ist die Evolutionstheorie atheistisch? Ja, insofern Gott kein Gegenstand dieser Theorie ist. Sie ist so a-theistisch wie die Automobilindustrie oder die zweite Lautverschiebung. Allerdings kommt es darauf an, welche Vorstellung man von Gott und seinem Verhältnis zur Welt hat. Wenn man etwa im Sinne der Cargo-Kulte mit der Auffassung zu tun hat, Automobile seien übernatürlichen Ursprungs, dann wird die Situation kritisch. Da kann dann der Nachweis, dass Automobile ihr Dasein menschlicher Ingenieurskunst verdanken, je nach Ausgangsposition für eine Widerlegung des Gottesglaubens oder für eine verdammenswerte Blasphemie gehalten werden. So ähnlich verhält es sich derzeit (wieder einmal) bei der Diskussion um Atheismus und Evolutionstheorie.

Einer der Fanfarenstöße, mit denen Verfechter der Evolutionstheorie ihre Überzeugung gern in die Welt posaunen, lautet: "Nothing in biology makes sense except in the light of evolution". Der Satz stammt von Theodosius Dobzhansky, einem der bedeutendsten Biologen des 20. Jahrhunderts und Mitbegründer der 'new Synthesis'. Ich weiß nicht, ob allen, die diesen Satz zitieren, bekannt ist, dass Dobzhansky sich in dem Aufsatz, der ihn als Titel trägt, zum Kreationismus bekennt. Zwar nicht zur Köhlerglauben-Version. Aber er meint: "It is wrong to hold creation and evolution as mutually exclusive alternatives. I am a creationist and an evolutionist. Evolution is God's, or Nature's method of creation. Creation is not an event that happened in 4004 BC; it is a process that began some 10 billion years ago and is still under way. "

Es geht also. Oder doch nicht? Mit seinem Hinweis auf die Dauer des Schöpfungsprozesses setzt Dobzhansky deutliche Distanz zu den Kurzzeit-Kreationisten, die den biblischen Schöpfungsbericht noch wörtlich nehmen. Die großen Kirchen haben ja seit jeher für alle Notfälle die allegorische Interpretation parat, so dass für sie in diesem Punkt kein Konfliktstoff mehr besteht: Die sieben Tage sind dann eben sinnlich-symbolische Formulierungen für sieben Stadien der Schöpfung. Gibt es dann überhaupt noch einen ernsthaften Dissens zwischen Evolutionstheorie und Religion?

Der Wiener Kardinal Schönborn hat im Sommer 2005 mit einigen Äußerungen Aufsehen erregt, die als Roll-back der bis dahin eher toleranten (oder indolenten) Haltung der römischen Kirche gedeutet wurden. In der New York Times hat er, mit Berufung auf Johannes Paul II. und Benedikt XVI., den Kern seiner Position formuliert: "Die Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen kann wahr sein, aber die Evolution im neodarwinistischen Sinn - ein zielloser, ungeplanter Vorgang zufälliger Veränderung und natürlicher Selektion - ist es nicht. Jedes Denksystem, das die überwältigende Evidenz für einen Plan in der Biologie leugnet oder weg zu erklären versucht, ist Ideologie, nicht Wissenschaft."

Selbst die 'gemeinsame Abstammung', konkret: dass der Mensch vom Affen abstammen könnte, gesteht er zu. Das ist ein recht geschickter Schachzug. Hatte doch Sigmund Freud, diese Vorstellung ähnlich geschickt neben der Kopernikanischen Wende und seiner eigenen Psychoanalyse als eine der drei großen Kränkungen der Menschheit in der Moderne bezeichnet, so dass jeder Widerstand sogleich dem Verdacht des Ressentiments ausgesetzt wurde. Der Kardinal aber erweist sich nun als erhaben über einen entsprechenden Verdacht. Vielmehr tritt er, nicht ohne einen spöttischen Nebenton, als Verteidiger der Vernunft gegen schlechte Wissenschaft auf. Der Schöpfungsplan ist für ihn eine Art Postulat der Vernunft. Er kann sich dabei auf den Katechismus der Katholischen Kirche berufen, der mit auffälliger Redundanz betont: "Die Kirche vertritt die Überzeugung, dass die menschliche Vernunft Gott zu erkennen vermag." (Absatz 39) "Durch seine natürliche Vernunft kann der Mensch Gott aus dessen Werken mit Gewissheit erkennen" (Absatz 50) und, vom Kardinal ausdrücklich zitiert: "Das Dasein eines Schöpfergottes lässt sich dank dem Licht der menschlichen Vernunft aus seinen Werken mit Gewissheit erkennen" (Absatz 268, das Zitat allerdings ohne "aus seinen Werken" - weshalb?).

Die Erkenntnis Gottes aus seinen Werken dank dem Licht der Vernunft - das bedeutet, dass der Kardinal und die Verfasser des Katechismus immerhin um 1768 angekommen sind. Aus diesem Jahr stammt nämlich mein persönliches Katechismus-Exemplar, die "Erklärung der Catholischen Glaubens-Bekenntnüß, aus der heiligen Schrift und der Vernunft", erschienen zu Arnsberg, in dem es heißt: "Der Mensch kann erkennen, und muß glauben, dass ein GOTT sey [...] Diß sagt einem jeden das natürliche Licht der Vernunft." Das 18. Jahrhundert war die hohe Zeit des physiko-theologischen Gottesbeweises, dem im Zeitalter der Vernunft gerade die progressiven Denker anhingen. Gott war ihnen als erste Ursache, als Schöpfer eine unentbehrliche Größe. Es wimmelte damals nur so von 'rationalen' Nachweisen der Weisheit des Schöpfers aus der Zweckmäßigkeit aller möglicher Naturerscheinungen. Kant versuchte diesen 'teleologischen' Gottesbeweisen zwar ein Ende zu machen, aber das war vergebliche Mühe. Der heutige Hauptadressat des Gedankens ist eigentlich ein Spät-Physiko-Theologe, William Paley, der in seiner "Natural Theology, or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity collected from the Appearances of Nature" von 1802 meinte, wenn man bei einem Spaziergang durch die Heide eine funktionierende Taschenuhr daliegen sehe und nach der Herkunft oder Ursache frage, dann werde man von der Komplexität und Funktionsweise dieses Gegenstandes notwendigerweise auf den Handwerker schließen, der ihn geschaffen hat. So sei es auch mit der Welt insgesamt.

Man kann dann gleich noch ein Stück zurückschreiten, in die materialistische Naturphilosophie der Antike, die sich um die Namen Leukipp, Demokrit und Epikur rankt. Schon dieser Materialismus oder Atomismus hatte ein schwieriges Problem nur unzureichend zu lösen vermocht: Wie kann es geschehen, dass die Materieteilchen sich zusammenschließen und so organisieren, dass daraus Ordnung entsteht? Die Frage des Zusammenschließens wurde durch einige Zusatzhypothesen gelöst, etwa dass die Atome Klebeflächen hätten oder dass sie bei ihrem unendlichen Fall durch den leeren Weltraum Abweichungen und Verwirbelungen erleiden, so dass sie aneinandergestoßen und zu Konglomeraten verschmelzen. Aber auch diese etwas kuriose Vorstellung konnte das Problem nicht lösen, wie aus diesem Gewirble und Geklebe so etwas wie Ordnung entstehen konnte, eine Blume, eine Hand, ein Gestirn. Diese Erklärungslücke schrie förmlich nach einer begrifflichen Füllung durch Konzepte wie 'Entelechie' oder 'Form' oder 'Kraft' - oder eben nach einem 'Gott'.

Cicero (De natura deorum, 2,93f.) meinte - William Paley und den teleologischen oder physikotheologischen Gottesbeweis vorwegnehmend -, wenn man den Kosmos für das Ergebnis des zufälligen Aufeinandertreffens (concursio fortuita) von Atomen hielte, dann könnte man auch die Annalen des Ennius als Ergebnis des Zusammenwürfelns der 24 Buchstaben des Alphabets erklären (oder, wie Robert Spaemann zweitausend Jahre später meinte: Durch bloßes Ausschütten eines Sackes von Buchstaben ein Hölderlin-Gedicht herstellen.) Ein beliebtes Beispiel für literarisch Desinteressierte: Wenn man einen Wirbelsturm durch einen Schrotthaufen fahren lässt, entsteht auch nach Jahrhunderten keine Boing 747. Man muss zugeben: Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war ein konsequenter Materialismus eine intellektuell unbefriedigende Position. Da konnte ein planender, zwecksetzender Wille tatsächlich als ein Postulat der Vernunft durchgehen.

Und heute? Die Erklärungslücke, der das physiko-theologische Gottespostulat seine Plausibilität verdankt, ist geschlossen, und zwar durch die Evolutionstheorie. Der Kardinal hat deren beide Prinzipien durchaus richtig wiedergegeben: Die Evolution sei "ein zielloser, ungeplanter Vorgang zufälliger Veränderung und natürlicher Selektion". Also nicht purer Zufall, wie Cicero und Spaemann und viele andere Evolutionskritiker behaupten, sondern Zufall und Selektion, und zwar Selektion ohne selegierendes Subjekt. Was nicht zusammenpasst, verschwindet, und was zusammenpasst, das bleibt (vorläufig). Damit ist keineswegs Gott abgeschafft, jedenfalls nicht der Gott Dobzhanskys. Aber erledigt ist der teleologische Gottesbeweis. Wer so penetrant auf der Beweisbarkeit des Gottesglaubens durch die Vernunft beharrt, darf sich nicht beschweren, wenn ihm sein Beweis mittels der Vernunft entwendet wird. Seit Darwin ist der planende Schöpfergott nicht mehr vernunftnotwendig. Eine andere Frage ist, ob er nicht weiterhin gemütsnotwendig blieb. Denn die Vorstellung vom planenden Schöpfergott erbrachte noch einige weitere Leistungen, sie war quasi nur der rationalistische Deckel auf einem ganzen Leistungspaket, das denn auch als Motiv wirksamer gewesen sein dürfte als das Bedürfnis nach rationaler Erklärung. Es braucht hier nicht weiter erörtert zu werden, dass eine von einem guten Hausvater geordnete Wohnung vertrauenerweckender sein kann als eine, die von den anonymen und abstrakten Prinzipien Zufall und Selektion geschaffen wurde. So sind denn die Widerstände gegen die Evolutionstheorie auf allen intellektuellen Ebenen anzutreffen, von den Kurzzeit-Kreationisten, die sich ihre Mirakel nicht nehmen lassen wollen, über die Prüden, die das mit dem Affen peinlich finden, bis hin zu jenen idealistischen Denkern, die um die Rechtfertigung ihrer eingeborenen Ideen fürchten müssen, wenn keine höhere Macht oder Vernunft mehr für ihre Richtigkeit garantiert.

"Da steht Gott im Titel, also schicken wirs einem Religionsheini". Diese Prognose von Richard Dawkins zum Umgang der Redaktionen mit seinem Buch scheint zumindest für die großen Zeitungen zu gelten. In der "Zeit" meint Thomas Assheuer (auf der Website des Münsteraner Forums für Theologie und Kirche wird er als "kath. Journalist" geführt): "Als Genforscher, der er auch ist, verfolgt Dawkins ganz eigene Interessen. Weil seine Forschungsdisziplin endlich frei schalten und walten möchte, Pardon: weil sie selbst Gott spielen will, ist ihr der Gott der Moral massiv ein Dorn im Auge." Ein Genforscher ist Dawkins gewiss nicht - der katholische Rezensent hatte wohl einen ähnlichen katholischen Religionsunterricht wie ich; das Motiv für Unglauben, so hieß es da, sei entweder Unwissenheit oder Sittenlosigkeit, und nach diesem Rezept kann man schnell Motive selbst zusammenspinnen.

Die FAZ bietet den Theologen Hermann Häring von der Universität Nijmwegen auf, der als Gegenmittel Hans Küng anpreist. Und die "Süddeutsche Zeitung" vertraut der vielfach ausgewiesenen Kompetenz des Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der Dawkins vorhält, dass er sich nicht auf dem Reflexionsniveau der neueren Theologie bewege. Dass die Bibel nicht von Gott geschrieben wurde, sondern von unterschiedlichen Autorenkollektiven und Individuen, das wisse "man" ja nun schon seit 300 Jahren. Wer ist "man"? Alle von Graf als relevant erachteten evangelischen Theologen oder auch George W. Bush und seine Wähler? (Und die Aktivitäten von und um Grafs Kollegen Walter Künneth sind auch etwas weniger als 300 Jahre alt.) Gewiss, wenn man den Gottesbegriff mit Graf erst einmal zur allseits konsensfähigen "Transzendenzchiffre" abstrahiert hat, dann lassen sich viel kultviertere Gespräche über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion führen. Aber der Motor für Dawkins' Argumentation ist die blutige Spur dieser Chiffre durch die Geschichte.

Doch ist der Mangel an Unterscheidungen schon durch Dawkins' Buch vorbereitet. Da es nichts in der menschlichen Welt gibt, das nicht mit Religion in irgendeinem wörtlichen oder übertragenen Sinn zu tun hat oder haben kann, kann er ohne große Mühe ein abscheuliches Monstrum herstellen, dessen Kopf der Papst, dessen Hufe Folterer und Selbstmordattentäter und dessen Rumpf Voodoo-Gläubige, Klitorisbeschneider und Vollidioten sind. Ob das Strategie ist oder schlicht argumentative Disziplinlosigkeit, lässt sich schwer entscheiden.

Es sind mindestens drei Themenkreise, über die Dawkins schreibt: Die Dummheiten und Gräuel, die im Namen von Religionen verübt wurden und werden, das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben und die evolutionsbiologischen Ursachen von Religiosität. Natürlich hängt das alles miteinander zusammen, aber gerade deshalb wäre eine klare Argumentationslinie zu wünschen. Bezeichnend für den Habitus bedenkenlosen Schwadronierens ist eine Formulierung gleich zu Beginn. Da lässt uns Dawkins eine Welt ohne Religion imaginieren, da gäbe es keinen 11. September, keine Aufteilung Indiens, keine öffentliche Enthauptung von Ketzern, und in dieser langen Reihe steht denn auch: "keine Zerstörung antiker Statuen durch die Taliban". Die 'antiken' Statuen, das zur Erinnerung, waren Buddha-Statuen - in einer Welt ohne Religiosität hätte es die gar nicht erst gegeben. Aber wer wird wegen so einer Kleinigkeit auf eines von 18 Beispielen verzichten?

Es ist vor allem die Sündenliste der monotheistischen Religionen, insbesondere des Christentums, die wieder einmal heruntergebetet wird, und das ist angesichts der Penetranz, mit der Rom sich mittlerweile als Erfinderin der Aufklärung zu profilieren versucht, nicht ganz überflüssig. Der zweite Themenkreis, das Verhältnis von Wissenschaft und Religion, hebt immer wieder den Ausschließlichkeitsanspruch der wissenschaftlichen Position hervor. Dawkins zielt offenbar eine wissenschaftliche Weltanschauung mit Alleinvertretungsanspruch an. Aber das ist natürlich wissenschaftlicher Unsinn.

Ich gebe zu, ich habe da auch meine Dogmen. Eines dieser Dogmen besagt, dass all unser Wissen immer nur vorläufig ist. Ich lasse mir nicht gern vom Pfarrer sagen, wie die Welt insgesamt beschaffen ist, auch nicht vom Philosophen, aber auch nicht vom Naturwissenschaftler oder von einem, der die Autorität der Naturwissenschaften in Anspruch nimmt. Es gibt da gewiss einen Punkt, in dem die Wissenschaft der Religion überlegen ist: Religionen sind ohne eine gewisse Prätention der Allwissenheit kaum denkbar, und deshalb ist es meistens mit großen Opfern, seelischen wie körperlichen, verbunden, wenn eine Religion etwas hinzulernen soll. Wissenschaft hingegen lebt vom Pathos des Nochnichtwissens. Auch sie kennt natürlich die Antizipation, die als Vermutung über das Ganze auftritt, aber dabei handelt es sich nur um Antizipation der Richtung des nächsten Schritts, der jederzeit revisionsoffen bleiben sollte. Die Überlegenheit der Wissenschaft besteht also gerade darin, dass sie keine Allwissenheit prätendiert. Und da hapert es bei Dawkins gewaltig. Er ist ja so klug zuzugeben, dass das Scheitern aller Gottesbeweise nicht bedeutet, dass es Gott nicht gibt. Er sagt nur, "dass es mit ziemlicher Sicherheit keinen Gott gibt". In einem Interview hat er die Wahrscheinlichkeit gar auf 98% beziffert. Aber unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaft wären gerade 2% Unsicherheit wesentlich aufregender als 98% Sicherheit. Das Beiseiteschieben restlicher Ungewissheiten ist eher ein Verfahren des religiösen Dogmatismus. Da gerät Dawkins' Position dann tatsächlich in Konkurrenz zu anderen Religionen.

Nun also zum dritten Themenkreis, der evolutionsbiologischen Begründung von Religiosität. Es gibt da seit ein paar Jahren Aktivitäten, die unter dem Spitznamen der 'Neurotheologie' laufen, Versuche einer neurophysiologischen Erklärung religiöser Erfahrung. Diese zuweilen etwas bizarren Unternehmungen lässt Dawkins ganz beiseite, und dafür wollen wir ihm dankbar sein. Er setzt auf zwei speziell evolutionsbiologische Konzepte, das des Nebenprodukts und das des Mems.

Wenn Religion tatsächlich so schädlich und schändlich ist, wie Dawkins meint, stellt sich für den Biologen unabweisbar die Frage, wieso es sie dann überhaupt gibt. Eine Adaptation können sie wegen ihrer Schädlichkeit nicht sein, also bliebe nach der korrekten Methodik evolutionärer Deutung nur, dass es sich um das Nebenprodukt einer oder mehrerer Adaptationen handelt. Die leitende Adaptation für das Nebenprodukt Religion wäre nach Dawkins die Neigung der Kinder, alles zu glauben, was Autoritätspersonen, insbesondere die Eltern, ihnen erzählen. Nebenprodukt: Sie glauben auch den Unsinn, den man ihnen erzählt. Das ist nun von verblüffender Einfachheit. "Das Kind kann nicht wissen, dass 'Plansch nicht in einem Teich voller Krokodile' ein guter Ratschlag ist, während 'Du sollst bei Vollmond eine Ziege opfern, sonst bleibt der Regen aus', im besten Fall eine Vergeudung von Zeit und Regen ist."

Wie haben wir uns das vorzustellen? Die Eltern führen die Kleinen an der Nase herum und lachen sich scheckig, wenn die den ganzen Ziegenvorrat verfeuern? Das wohl kaum. Das Problem ist doch eher, dass auch die Eltern den Unsinn glauben. Dass solche Vorstellungen von einer Generation zur anderen tradiert werden, ist sicherlich eine notwendige Voraussetzung von Religion - von Kultur überhaupt. Aber für spezifisch religiöse Vorstellungen reicht das als Erklärung bei weitem nicht aus. Dawkins schiebt entsprechend auch allerlei weitere Erklärungsansätze, eigene und fremde, nach - Religion als Nebenprodukt einer angeborenen Teleologie, eines instinktiven Dualismus', Nebenprodukt der Unterstellung von Intentionalität, sogar unserer irrationalen, doch reproduktiv sehr nützlichen Neigung, uns zu verlieben, der Überlebensdienlichkeit von Selbsttäuschungen...

Diese Zusatzüberlegungen erscheinen mir weit vielversprechender. Allerdings bringt die impressionistische Addition ein hohes Maß an Beliebigkeit in die Erklärung. Da Dawkins nie so recht damit herausrückt, was er nun eigentlich unter Religion versteht oder von welcher Komponente der komplexen Phänomens Religion er gerade spricht, bleibt das alles eine chaotische und beliebige Addition von Stichwörtern. Ich vermute zwar auch, dass es eine biologische Basis von Religion gibt. Aber wenn man diese Basis a priori als Nebenprodukt sucht, wird man natürlich nur Nebenprodukte finden. Vielleicht hülfe es, wenn man bei der Frage ansetzte: Wie gehen wir mit Unbekanntem um? Das ist vermutlich ein artspezifisch menschliches Problem, und die artspezifisch menschliche Lösung (Adaptation) lässt sich als Religion bezeichnen. Andere Primaten wissen überhaupt nicht, dass es Unbekanntes 'gibt'. Oder ganz vorsichtig gesagt, damit ich nicht die Affenfreunde an den Hals kriege: Sie kommunizieren darüber nicht in einer beobachtbaren Weise.

Aber Dawkins hat offenbar überhaupt kein besonderes Interesse daran, Religion als genuin biologisches Phänomen zu erklären. Er wechselt hinüber zur kulturellen Einheit des 'Mem'. Das Mem ist eine Kreation aus Dawkins' erstem Erfolgsbuch "Das egoistische Gen". Es ist die kleinste fortpflanzungsfähige kulturelle Einheit, das Kultur-Analogon zum "Gen". Gemeint sind Gedanken, Dogmen, Melodien, Speisen oder auch Computerviren, und dabei natürlich auch religiöse Vorstellungen. Ihre Fortpflanzungsfitness bestimmt sich wie die der Gene nach dem Passen zur Umwelt und nach dem Passen zu den Nachbarmemen. Damit kann man Befunde der Evolutionsbiologie recht elegant per Analogie in die Kultur projizieren. Es bleiben aber drei massive Probleme. Erstens das der Referenzialisierung. Während Gene vergleichsweise (!) stabile und abgrenzbare körperliche Einheiten sind, sind Meme äußerst 'flutschige' gedankliche Konstruktionen, die keine argumentative Stabilität gewinnen. Zweitens gibt es nun Fortpflanzung mit allem Drum und Dran auf zwei in irgendeiner Weise interagierenden Ebenen, auf der genetischen und auf der memetischen, deren letztere vermutlich noch in eine Unzahl weiterer interagierender Institutionen mit je eigenem Mempool aufgespaltet werden müsste. Der schöne Handlichkeitsgewinn der Mem-Analogie droht damit unterzugehen in der Komplexität des Wirklichen. Das dritte Problem ist die spezifisch Dawkins'sche Mitgift der Analogie: Nicht nur des Gen wird als 'egoistisch' konzipiert, sondern auch das Mem. Nun hatte schon das egoistische Gen zu manchen argumentativen Seltsamkeiten geführt, aber spätestens bei der Konzeption von selbstständigen, egoistischen gedanklichen Einheiten, die die Gehirne der Menschen beherrschen und sich epidemisch fortpflanzen, geraten wir in die Welt der Gespenster oder der Aliens - in eine neue Mythologie also, die man als einen Rückfall weit hinter die von Dawkins bespöttelte polytheistische Heiligenwirtschaft der Katholiken auffassen kann. Es hätte nun sehr spannend werden können zu sehen, wie Dawkins bei einer memetischen Analyse der Religion mit diesen drei Problemen umgeht. Aber er sieht sie offenbar gar nicht. Die Gen-Analogie des Mems wird vielmehr fusioniert mit einer anderen Analogie, der des Virus oder des Bakteriums, und so kann er, auf 'biologischer' Grundlage, Religion als eine Art von infektiösem Irresein beschreiben.

Das geschieht durch Ausbreiten einer Fülle von Anekdoten über dumme oder auch grausame Gläubige. Die dauernde Katzbalgerei mit Kreationisten, Design-Anhängern und Gouldianern ist dem Niveau von Dawkins' Argumentationen nicht sehr gut bekommen. Seine ersten beiden Bücher, das berühmte "Egoistische Gen" und das leider nicht ins Deutsche übersetzte "Extended Phenotype" bestachen nicht nur durch Eleganz und rhetorische Brillanz, sondern auch durch theoretische Originalität und Ambition. Jetzt, so hat es den Anschein, verlässt er sich auf die Automatismen seiner vieljährigen polemischen Routine. Der "Gotteswahn" ist ein Produkt von ungebremster Redseligkeit, ein Stenogramm von Mensa-Geplauder und Hotelbar-Anekdoten mit gelegentlichen Anwandlungen von heiligem Zorn. Es ist deutlich sichtbar das Produkt eines erfolgreichen Publizisten, dem es an Freunden fehlt, die ihn korrigieren. Immerhin, als Atheistenbrevier mit Erbauungsfunktion lässt sich der Wälzer vermutlich gut verwenden. Aber wenn man nach einer wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens Religion sucht, wird man enttäuscht.


Titelbild

Richard Dawkins: Der Gotteswahn.
Ullstein Verlag, Berlin 2007.
575 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783550086885

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch