Gewaltig ist das Leben

Zum 50. Todestag des entwurzelten Dichters Theodor Kramer

Von Günther DoliwaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Doliwa

Dem Herausgeber Erwin Chvojka/Wien für seine Sisyphusarbeit gewidmet

1. "Ein wunderbarer poetischer Zeitkritiker" (M. Reich-Ranicki)

Wer kennt ihn überhaupt in Deutschland? Wer noch kennt ihn in Österreich, aus dem er achtzehn Jahre verbannt war, solange in Deutschland und Österreich die braunen Horden regierten? Wer kennt den unverwechselbaren, unerhörten Ton des einmaligen jüdischen (Exil-)Dichters Theodor Kramer, der von 1897 bis 1958 lebte? Kramer gehört zu den ganz Großen in der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Anerkennung kommt mit Verspätung, aber sie kommt - sukzessive.

Franz Werfel sagte über ihn, er sei "eine ganz große Seltenheit in unserer Zeit, ein wirklicher, echter Dichter von ganz außerordentlichen Gnaden und Gaben". Stefan Zweig stellte fest: "... seine Versbücher gehören längst zum unzerstörbaren Bestand deutscher Lyrik, und es ist keiner unter uns, der für Theodor Kramer nicht die äußerste Bewunderung hätte." Carl Zuckmayer sah in ihm "den stärksten Lyriker Österreichs seit Georg Trakl". Thomas Mann setzte sich vergeblich für eine Einreise Kramers in die Vereinigten Staaten ein. "A distinguished Austrian poet" steht in seiner Fürsprache für Kramer.

Oskar Maria Graf, der 1933 über Österreich in die USA floh, kannte ihn. Hilde Spiel, Freundin und Gefährtin im Exil, schrieb später über ihn: "Theodor Kramer [...] war einer der letzten großen Volksdichter [...] Seine Naturgedichte berühren sich mit den schönsten von Peter Huchel, seine Frontgedichte aus Wolhynien haben uns zu Anfang der Dreißiger Jahre den Schützengrabenkrieg mit seinem Elend und Morast erschütternd nahe gebracht, seine Liebesgedichte sind von hautnaher Sinnenfreude, seine Emigrationsgedichte zerreißen uns das Herz." Erich Fried lernte Kramer durch seinen Deutschlehrer kennen und schätzen. Er wurde in England Kramers "junger Freund". Für die deutsche Reichsschrifttumkammer hingegen war er "schädlich und unerwünscht" (31.12.1938).

Elke Heidenreich empfahl Kramer in der ZDF-Sendung "Lesen" als Trostlektüre im besten Sinn: "Wer getröstet werden muss, und wer muss das nicht, der kann das in diesen Gedichten werden." Marcel Reich-Ranicki charakterisierte Theodor Kramer als einen "wunderbaren poetischen Zeitkritiker": "Sicher ist, dass der offensichtlich lebensuntüchtige und wohl etwas chaotische Kramer wie kaum ein anderer Autor dieser Epoche ein wunderbarer poetischer Zeitkritiker war. [...] ähnlich wie Brecht oder Kästner - immer wieder bereit, den Lesern menschenfreundlich und gelegentlich mit einem traurigen Lächeln entgegenzukommen. Doch war Kramer an politischer, an kämpferischer Lyrik überhaupt nicht interessiert. Er verstand sich vielmehr auf die österreichische Kunst, die Einsicht in das Elend der Menschen und in die Vergänglichkeit des Daseins auf freundlich-schwermütige Weise auszudrücken. Es wäre schön, wenn der unglückliche Dichter Theodor Kramer wieder ein Publikum finden könnte."

Kramer stammte aus Niederhollabrunn in Niederösterreich. Aus dieser Ecke der Welt stammt zufällig auch der große mittelalterliche Sänger Walther von der Vogelweide. Und auch Kramer war eine Art fahrender Sänger, ein lyrisches Genie. Seine Lyrik will "geben, was sonst der Roman gibt." "Seit Jahren arbeite ich ja bewusst anschaulich, so, dass ich alles belegen könnte [...] Das, was ein Gedicht ausmacht und es vom bloßen Bericht unterscheidet, liegt sozusagen zwischen den Zeilen, es liegt in der ganzen Anordnung des Gesagten, in seiner Ausgewogenheit und in seiner Musik." Er hielt sich unaufgefordert an die Maxime künstlerischer Freiheit, wie sie Hans Magnus Enzensberger formuliert hatte: "Dem Künstler ist es untersagt, harmlos zu sein, unauffällig, guter Ehemann mit regelmäßigem Einkommen. Der Künstler ist verpflichtet, unerträglich zu sein."

2. Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe (30.1.1952)

Mit dreizehn begann Kramer zu dichten, mystisch, wild individualistisch. Mit achtzehn musste er in den Krieg (Wolhynien, Karpaten, Italien), über den er erst zehn Jahre später schreiben konnte. Mit dreißig fand er seine Sprache, die nicht mehr ohne Glossar auskam, wegen der Nähe zum sozial Abwegigen. Seine Ortwahl bestimmte die Wortwahl. Er sah sich zwischen Trakl und Brecht.

Wer ihn je liest, bleibt nicht unberührt. Kramer fesselt. Er ist ein wahrer Orpheus, der von der "Unterwelt" zu singen weiß. Seine Gedichte sind serienweise Lieder. Unverzichtbar klingt die Ziehharmonika heraus und lässt eine versunkene Welt auferstehen. Seine Texte werden im Lesen Gesang in einem. Nicht nur mir ging es so. Im Nu ist bei seinen Gedichten eine "Melodie" da. Musikalische Poesie, poetische Musik.

Kramer selbst, der 1936 "Mit der Ziehharmonika" schrieb, wünschte sich Vertonungen, am liebsten in Zusammenarbeit mit Ebenbürtigen: "Ein großer Kummer von mir ist, dass meine Sachen nicht vertont wurden."

Er blieb beim Reim wie an einer imaginären Heimat hängen, auch als der Krieg den Reim zerbrach. Was immer man zu seiner konservativen Reimkunst sagen will, sie kommt Liedermachern entgegen. Vor über zwanzig Jahren war es das Duo Zupfgeigenhansel, das bisher unübertroffen Kramer vertonte. Inzwischen gibt es viele Interpreten, die sich an ihm versuchen: Eckhart Wenzel, das Duo Hahn/ Fuhr, das Duo Kellermann/ Rieck, das Duo Doliwa/Kravets. Man wird sehen, was davon bleibt.

Kramer kam vom Rand, sein Blickwinkel ist periphär, geschärft aus Erfahrung und versehen mit der Gewalt der Unmittelbarkeit: Ein "Dichter der armen Menschen" (Bruno Kreisky). Kramers lyrisches Personal ist individuell typisch und universell zugleich. Er hat ein Auge für diejenigen ohne Stimme. Lebte er heute, in Zeiten wüster Globalisierung, er hätte zu tun!

Seine Dichtung ist ein Schmelztiegel, und wie Österreich eine Mischung vom Gröbsten und Feinsten: ein Volks- und Kulturgemisch von melancholischen, witzigen, markanten (Rand-)Gestalten, denen stets der Tod über die Schulter schaut. Die Universität hatte er resigniert verlassen. Sein Personal ist universal. Sein Studium wurden die Außenseiter. "Und wär ich nicht darauf versessen, / stets zu vermerken was ich seh."

Kramers Dichtung ist ein multi-dimensionales Soziogramm aus prägnanten Lebensbildern kleiner Leute und armer Teufel: Er lässt sie alle leben, aufleben und hochleben in seinen Liedern: Verschwitzte, Packer, Huren, Hökerweiber. Er schreibt für die, "die ohne Stimme sind". Er kennt die Halbwelt.

Das Bordell ist eine "wohlbekannte Türe", auch an Weihnachten. Klein ist der Preis und kurz die Lust. "Und als ich ging mit ihren letzten Gästen, / rief auf der Stiege mich ihr Blick zurück; / und zwischen Christbaumschmuck und Kerzenresten / genoß gerührt ich unverdientes Glück."

Seine schockierende unbedingte Ehrlichkeit macht ihn auch heute, gerade heute lesenswert. Seine Sinnlichkeit, seine "starken Triebe" mögen die prüderen Bürger schockieren, doch sie machen gerade seinen Reiz und seine Haltbarkeit bis in unsere freizügigen Zeiten aus: "Was solln wir noch beginnen / mit dieser jungen Nacht? / Wir haben unsern Sinnen / bereits ein Fest gemacht...". "Kühle schwarze Tropfen schlichten / draußen das erschlaffte Gras; / nur drauf aus, sich zu vernichten, / ist der Liebe Übermaß." "Es neigten, zwei Monde, durchs offne Gewand / sich freundlich die Brüste mir her". Was er wie besessen reimt, bleibt ungereimt und doch stimmig für sich. "Alles klar und doch verzwickt".

Theodor Kramers Blick ist wie ein Dichterblick sein soll: dicht, genau und unbestechlich, klar und hautnah am Leben, und - was ihn im Gegensatz zu anderen auszeichnet - ein Blick ins noch lebendige Innere seiner Figuren, seines unerschöpflichen sozialen Personals. Er stellt sich im kennzeichnenden Moment auf ihre soziale Stufe, in ihre Gefühlslage. So wird seine Lyrik im besten Sinn dramatisch, vertrackt melancholisch, lebensgierig und skeptisch in einem, fröhlich und depressiv im selben Atemzug. Die Welt, durch die er sehend ging, ist untergegangen. Die Welt, die er mit scharfen Konturen zeichnete, ist in die Dichtung gerettet, die er "durchaus österreichisch" nennt. Kramers Hoffnung ist, dass "dies und das davon" bleiben wird. Sein unverwechselbarer Ton wird bleiben. Viele seiner Lieder werden bleiben: Volkslieder (im besten Sinn), Sauflieder, Hurenlieder, Straßenlieder, Antikriegslieder, Kinderlieder, Alterslieder und zwischen allen, immer und immer wieder, unbeschreiblich schöne Lieder des Unbeschreiblichen, über die Liebe wie "Es ist schön".

Er schrieb wie ein Besessener vierzig Jahre lang fast täglich ein Gedicht. Er arbeitete zwei bis vier Stunden täglich an seiner Lyrik: Etwa 12.000 Gedichte schuf er, von denen nur 2.000 von seinem Nachlassverwalter Erwin Chvojka herausgegeben sind, dank der Begeisterung, die er auslöste. Es wäre töricht zu behaupten, dass da nur erstklassige Texte entstanden seien. Er war Dichter aus Besessenheit und Leidenschaft. Kramer sorgte sich früh um sein, dem Verstummen ausgeliefertes Werk.

Am 7. April 1954, vier Jahre vor seinem Tod, schrieb Kramer in England: "Seit sieben Jahren find ich nicht Gehör, / nicht beim Verleger noch beim Redakteur; / ich lieb die Lieder über alles Maß: / ich fräß dafür, daß man mich druckte, Gras." Und: "in zehn zwölf Bänden möcht ich drucken lassen, / was ich in zwanzig schweren Jahren schrieb." "Oft gebeugt schon, doch nicht untertänig, / konnt ich retten mich ins fremde Land". Er kämpft um sein "schmales Leben", "ein Dichter, karg, präzis, doch toll". "Um was ich schrieb, geht's!". "Ich singe und bin schon geschwunden". "Der letzte bin ich in der Reih der Sänger".

Sein Reichtum sind die Reime. Und die Wahrhaftigkeit darin: "denn mein leises Wort war immer wahr." Sein Werk wird sein "zweiter Leib". Er wirft sein Herz "gach ins Getös der Zeiten". "Die Laute, die ich schlag, sie wird / uns alle überdauern", hofft er.

Wird sein Wort überdauern? Kramers Wort, "Jahrzehnte überspringend" (so Erwin Chvojka), erreicht heute eine neue Generation: Es wird seinen Platz sowohl in der Literatur als auch in den Herzen der Menschen finden. Kramers Wirkungsgeschichte ist wahrlich rätselhaft. Kommt eine Kramer-Renaissance? Immer mal wieder! Kramer wirkt unterirdisch. Zwar fand er freundliche Aufnahme in die Literaturkritik und Anthologien, aber er wurde nie so populär wie etwa Erich Kästner, der zum Volksschatz gehört.

3. Kästner und Kramer

Sucht man als Deutscher einen vergleichbar eingängigen Volksdichter, fällt einem sofort Erich Kästner ein. Kästner liefert entfremdete Großstadtlarven der Zwischenkriegszeit (wie Peter Rühmkorf in einem Essay schreibt). Kramer liefert soziale Lyrik der Ärmsten der Armen, mit unverhohlener Sympathie für Menschen am Rand. Kästner bietet Gebrauchslyrik, Lächerlichkeit und Spott, nah am Zynischen, Kabarett. Kramer spottet nicht, er entlarvt durch klinische Überschärfe, bewahrt sich einen Wärmerest. Kästner liebt wechselhaft, zielsicher nur seine Mutter, der er täglich (!) schreibt. Kramer liebt die Menschen, die er beschreibt. Jede Zeile ein Lied. Er tritt ins Innere der Menschen, die er besingt, bevor er es einfühlsam in Worte bringt. Er macht in seinen Protagonisten (noch) eine liebenswerte Wesensgeste aus.

Kästner kommt an, darf - trotz verbrannter Bücher - veröffentlichen, hat Erfolg als Kinderbuchautor. Kästner kann die Sparte wechseln, schreibt Romane, Kinderbücher, Drehbücher, Stücke, fürs Kabarett. Kramers Stern hingegen fällt, ja stürzt rasant ab, er darf nichts mehr veröffentlichen, hat immer weniger "Erfolg" - bei steigender Produktion. Kramer ist "nur" Dichter, einzig der Lyrik verschrieben.

Und was die Schicksale völlig unterscheidet: Kästner überlebte im Land der Nazis, wenn auch in gewisser innerer Emigration. Kramer musste, um als Jude sein Leben zu retten, ins englische Exil fliehen und wurde seines Sprach- und Mutterbodens beraubt. Durch den Verlust von Land und Leuten und seine Vereinsamung im Exil wurde auch Kramers Sprache deformiert.

Beide, Kästner wie Kramer, schauen dem Volk aufs Maul, treffen die Sprache der Milieus, formulieren flüssig und eingängig, so dass sofort ein Klang überspringt. Kramer ist ein Volksdichter, dessen Schatz leider noch, hoffentlich nicht mehr weiterhin, im Verborgenen liegt. Er kann Kästner das Wasser reichen, besser den Heurigen. Der Feurigere ist überdies - Kramer.

Es ist ein besonderes Vergnügen, mit Kramer zu trinken, zu gaunern, herumzuspazieren, im Waldviertel ebenso wie auf dem Asphalt von London, in Stundenhotels zu liegen, zu huren, Slums zu betreten, zu lieben bis ins hohe Alter, mit allen Zweifeln geschlagen und gesegnet zu sein, ja dem Nichts gegenüber zu sitzen.

"Es ist schön", wie eins seiner zauberhaftesten Liebeslieder singt, um das ihn jeder heutige Dichter beneiden muss. Es ist schrecklich schön zu leben, denn "gewaltig ist das Leben." Oft ist es auch einfach nur schrecklich: Im Kriegsmorast zu liegen. Den Jubel der Hakenkreuzritter zu ertragen, vor der Gestapo zu zittern, vor Grenzen abgewiesen zu werden, über Grenzen zu fliehen, auf der Flucht zu sein, die die Entwurzelung besiegelt. Der Mensch ist zu Ungeheuerlichem fähig. Bei Kramer klingt das so: "Auch ich trank gern und hab nicht viel gebetet, / ich kann verstehn, daß man das Messer zückt, / doch wie ihr kalten Bluts die Menschen tretet, / darüber werd ich einmal noch verrückt."

Die christlich-soziale Reichspost in Wien attackiert seinen ersten Gedichtband "Die Gaunerzinke". Den Lyrikpreis der Stadt Wien von 1928 gönnen sie ihm nicht: "Kramer ist Verherrlicher der ,Roten Armee' und im jüdischen Jargon sehr zu Hause; so konnte es doch nicht anders sein, dass gerade er für dieses Werk den Literaturpreis der Stadt Wien erhielt."

1915, mit achtzehn, musste Kramer in den Krieg. In Wolhynien, in Polen, wurde er schwer verwundet: Schlund-Oberkiefer-Schulter-Durchschuss. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Nachher reichte es gesundheitlich nur noch dazu, in Ungarn italienische Kriegsgefangene zu bewachen. Zehn Jahre braucht er, um überhaupt darüber schreiben zu können.

Dass seine Kriegsgedichte "Wir lagen in Wolhynien im Morast" als ahnungslos ästhetisch und konterrevolutionär missverstanden wurden, auch in seinen Kreisen, kränkt ihn tief. Kramer ist "Chronist" geworden, nicht Revolutionär. Gerade in seiner Nüchternheit, fern aller Glorifizierung, liegt seine Stärke. Allein die Gedichtanfänge sprechen als genaue Ortsangaben für sich: "Wir lagen auf kühlen Fliesen, im Viehwaggon, in Reserve vor den Föhren, schon seit Früh in seichten Gruben der dritten Stellung, in geräumiger Kaserne auf Pritschenreihn, eingegraben, unterm Bogen der Nacht, in Wolhynien im Morast, im Brachland vor dem Drahtverhau, (,mit Grunzen schlugen die Granaten ein'), Handgranaten flogen übers Ohr, ,daß sehr uns fror.' Wir irrten, wir lagen in verschneiter Bergesenge, wir lagen als Posten zwischen Front und Nachschubland, als Schauflerposten im verschneiten Land (,es orgelten die schwarzen Föhren'). Wir schwangen uns in den Schlitten, wir dösten auf den Pritschen der Baracken, im schmalen Hof, in der Pinienebene (,und wir sangen tausend deutsche Lieder')". Zum Kriegsende spricht ein Beraubter: "unsre Zeit, die keine war, ist um."

4. Kramer und der Nationalsozialismus

Zwischen 1929 und 1933 hatte Kramer im deutschen Sprachraum großen Erfolg. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften, von Wien bis Hamburg, von Prag bis Königsberg. Kramer hatte Erfolg und Anerkennung von Thomas Mann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer, Stefan Zweig. Trotzdem: Wovon er leben soll, ist ihm oft "unerfindlich".

In Kramers Aufsatz vom 25.12.1931 im Berliner Tagblatt mit dem Titel: "Der Lyriker kalkuliert" ist zu lesen: "Das lyrische Schaffen allein nimmt mir zwei bis vier Stunden im Tag. Ich arbeite nämlich - mit Ausnahme von Sonntagen, Urlaub und Krankheit - täglich. Dies mag merkwürdig scheinen, doch ist es so; vielleicht brauche ich diese Tätigkeit, wie sie sie Pianisten, Artisten, Tennisspieler auf ihrem Gebiete brauchen.

Zwei weitere Stunden des Tages sind dem Vertrieb gewidmet, den ich gar nicht wichtig genug nehmen kann. In erster Linie bin ich natürlich darauf aus, bei einem großen Blatt oder bei einer Zeitschrift einen Erstdruck zu placieren [...]

Nach Bestreitung der hierfür nötigen Auslagen - für Einladungen usw. - bleibt kaum ein Verdienst. Resümee: Ich habe bisher einige Gedichtbände veröffentlicht, werde ständig von den größten Blättern des In- und Auslandes gedruckt, bringe seit Jahren meine Gedichte im Rahmen von Autorenabenden zum Vortrag, der Rundfunk räumt ihnen einen wichtigen Platz ein -: ohne Nebenbeschäftigung, auf welchem Gebiete auch immer, ist es mir effektiv unmöglich, auf eigenen Füßen zu stehen."

1933 heiratet Theodor Kramer die Rezitatorin und Schauspielerin Inge Halberstam (geboren am 20.9.1894 in Baden bei Wien). Sie lernen sich 1929 kennen, weil sie seine Gedichte öffentlich vortragen will. Mit Hitlers Aufstieg jedoch schwindet Kramers öffentliche Wirkung. In Österreich wird er "immer mehr geschnitten". Seine Gedichte werden nicht mehr angenommen. Aus Deutschland zieht er alle seine Arbeiten zurück. Jetzt erweist sich Kramers Haltung als Dichter der Zeit als Segen für die Literatur. In seiner Vorrede zur letzten Lesung in Wien, im Modernen Theater am Schwarzenbergplatz, ohne zu ahnen, dass er erst 1958, zwanzig Jahre später, zurückkehren wird, liest man:

"Der Dichter wird Vorkämpfer und Partisan seiner Zeit, er wird Verkünder und Seher, er wird Bewahrer und Gestalter des Zeitlosen genannt [...] ich möchte nur mit einigen Worten bescheiden festlegen, was ich selbst gern sein und wofür ich gehalten werden möchte. Gern möchte ich ein Chronist meiner Zeit sein."

Kramer, geübt im täglichen Notieren, angeregt oft durch Zeitungsberichte oder alltägliche Beobachtungen, erfasst die Vorgänge jener Zeit wie ein Seismograf. Kramers Lyrik wird politisch, so politisch wie Kästner nie werden wird. Die Zeiten haben sich total geändert: sie sind totalitär geworden. Adolf Hitler kommt 1933 in Deutschland an die Macht.

Theodor Kramer - "Zutiefst war ich Rebell" (3.3.1932) - analysiert unbestechlich und klar: "Der Führer redet wichtig auf uns ein." (Im Arbeitslager/11.5.1933) Man treibt uns "eckig in die Reihe." (Lagerlied / 29.5.1935) Die Braunhemden (bei ihm "Grünhemden") stehen "für Unterwerfung, blinden Drill und Schritt." "Die Schar, die sich mit Blut besäuft" (Lied für Verbannte / 18.5.1942). Die Bande "zieht zum Morden aus." (Vater und Sohn / 1942) Die tun ihr Wesen ab, "um selbst ein Bruchteil der Gewalt zu sein." "Viel Blut wird fließen rings wie warmer Regen..." (Das grüne Hemd / 1942) Faszinierend präzise auch seine Diagnose: "Sie sind zu schwach fürs Leben / Drum trommelt's euch zum Aufbruch in den Tod." (Vater und Sohn). "Die so geschwächten Seelen / Sind lüstern nach Befehlen." (Lied für Verbannte / 1942) Gehört einer zu den Geraden, dann ist Vorsicht geboten: "Sie werden dich wittern, sie werden dich kriegen, / sie werden dich zwacken, sie werden dich biegen / und werden dich zwingen zuletzt." (Im Finstern/24.8.1934)

Hellsichtig auch diese Worte: "Böse Jahre werden kommen, / keiner wird dem andern traun; / immer werden nur beklommen / wir uns in die Augen schaun." (Deine kleinen Hände / um 1935) Mit kalter Wut beschreibt er den Zwang in seinem Gedicht: "Im Konzentrationslager" (9.4.1933) "Den einen wird man packen und erschlagen, / wenn er vor früh auf die Latrine geht; / den andern wird man erst ins Ruhrhaus tragen, / wenn kalt der Schweiß ihm auf der Stirne steht. / Kann sein, sie werden einen von uns biegen... / Es braucht vielleicht ein Menschenleben lang; / Doch nichts kann auf die Dauer unterkriegen, / was in uns lebt; wach hält es schon der Zwang."

Im Gedicht "Wann werden wir wieder so sitzen" (2.8.1933): "Sie werden vielleicht uns noch holen/ Heut abend; dein Zug geht heut nacht, / der deine am Morgen nach Polen, / und ich - hab noch gar nichts gemacht. / Von mir will ich gar nicht erst reden, / ich zeichne nur auf - und geschehn / ist viel, nicht nur uns, nein, für jeden; / Wer könnte es ganz schon verstehn?!" Kramer, der Chronist, zeichnet auf. Er datiert fast jedes Gedicht als Wegmarke. "Daß weiter zu unserer Sache / wir stehn, ist nicht alles schon, nein, / an uns ist es, nicht zu verflachen / und allezeit wachsam zu sein. / Das Herz und die Sinne stets offen / Fürs Leben, so lasst uns heut gehen, / das äußerste tun und nichts hoffen, / auch nicht, dass wir je uns noch sehn." Er verzeichnet erfreut, an Fronleichnam, wie wohl es tat, "dass selbst in diesen Tagen / irgend etwas manchen heilig war."

Für Kramer als Sozialist und Jude hieß Hitler selbstverständlich: Berufsverbot, Verlust der Wohnung. Zwei Umzüge folgten. Wie durch ein Wunder entging er der Verhaftung und Verschleppung. Seine Lage wurde unhaltbar, schon seit 1937 war er immer mehr (ab-)geschnitten. Er wird übel behandelt in einer SA-Kaserne. Beim Anstellen um eine Bescheinigung tritt ihm ein SA-Mann in den Knöchel.

Am 12. März 1938 marschiert Hitler in Österreich ein und wird auf dem Wiener Heldenplatz frenetisch bejubelt. Kramer notiert hellwach: "Draußen bauschte sich das Kreuz der Lüge." Er stellt die Gewissensfrage bis heute: "verlangt man, daß ihr Fahnen hißt und schreit"? Die Angst griff um sich. In Panik verbrannte Kramer seine Bücher und Schriften. Kramer ist wahrlich ein Chronist seiner Zeit geworden: Er leidet chronisch an ihr. Der Gedichtzyklus "Wien 1938" entsteht - mit meisterhaften, epochalen Gedichten. Allein für sein Gedicht "Wer läutet draußen an der Tür?" (vom 18. 6. 1938) verdient Kramer einen Ehrenplatz in der Literatur.

Sein unbändiger Schaffensdrang, seine unbedingte Ehrlichkeit haben ihren Preis: Die Kräfte gehen ihm aus. Er geleitete einen Freund zur Bahn. Dieser darf ausreisen, Kramer nicht. Er winkte ihm stumm nach und ist "wie erschlagen." Er liebte sein Land und musste es doch verlassen. "Andre, die das Land so sehr nicht liebten", taten sich vielleicht leichter damit. Er aber musste "mit dem Messer seine Wurzeln aus der Erde drehn." Seine Anhänglichkeit an seine Heimat kostete ihn beinahe das Leben. Es gab keinen Dank dafür, dass er im Krieg für dieses Land seine Gesundheit opferte, denn: Er war Jude!

Hitler machte mit seinem bejubelten Einmarsch in Österreich mit einem Schlag 220.000 Juden rechtlos. Kramers Schriften wurden verboten. Er legte auf sein Judentum zwar keinen großen Wert, aber plötzlich war er wegen seiner Religion ein Verfolgter. Er hatte das Leben und Reden der Jüdisch-Nationalen als geistige Vergewaltigung erlebt. Doch das spielte alles keine Rolle: Ob orthodox oder liberal oder distanziert: Er war in Lebensgefahr. Er stand (im Gegensatz zu seiner Frau) der katholischen Religion näher als der jüdischen. Er erwägt kurz sogar eine Taufe, um Schwierigkeiten zu umgehen. Doch das war kein Weg für ihn.

Kramer versuchte, eine Einreisegenehmigung in ein Asylland zu erhalten. Die Schweiz, bald vollständig gesperrt, verweigerte die Einreise, da die "Weiterreise nicht gesichert ist". Das Land der Freiheit, die USA? Trotz aller Gutachten namhafter Schriftsteller scheiterte das Ansuchen Kramers. Eine Schiffspassage nach Shanghai oder in die Dominikanische Republik war ihm unmöglich. England? Die Ausreise verzögerte sich wegen fehlender Arbeitserlaubnis beziehungsweise verspäteter Bürgschaftserklärung.

1938 hatte Kramer einen Nervenzusammenbruch. Am 20. August 1938 versuchte er sich in seiner Verzweiflung das Leben zu nehmen. Er überlebte zum Glück. Sein Bruder Richard schaffte im Januar 1939 die Ausreise über Großbritannien in die USA. Seiner Frau, Inge Halberstam, gelang die Flucht nach England am 6. Februar, mit einer Dienstboten-Erlaubnis.

Kramers Mutter blieb in Wien und wurde nach Theresienstadt deportiert. Er sollte sie nie wieder sehen. Im späteren Exil plagte ihn die Ungewissheit um ihr Schicksal. Nach dem Krieg erfuhr er: Sie starb im KZ am 26. Januar 1943.

Sein Vater starb bereits 1935: "Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater, dass du starbst, bevor die Horde kam, die mich schrubben ließ". Theodor Kramer heißt ab 1. April 1939 "vor Behörden und im Geschäftsverkehr" Theodor "Israel" Kramer. Entwurzelung beginnt mit solchen Stempeln.

Wenn man von den vergessenen Dichtern spricht, so gehört Theodor Kramer unbedingt dazu. Man findet bei ihm Gedichte über die Terrorherrschaft der Nazis und über den Krieg wie man sie bei Kästner oder anderen Großen vergeblich sucht. Zwei Einschnitte charakterisieren Kramers Leben. Hatte der Erste Weltkrieg seine Gesundheit zerrüttet, so sprach ihm das erzwungene Exil sein Heimatrecht ab: "ich habe einfach keinen Raum zum Leben." (Die Wahrheit ist / 13.7.1938). Am 20. Juli 1939 verließ Kramer das Deutsche Reich über Dover nach London. Eine Weiteremigration in die USA ist unmöglich. Seine Exilzeit: geschlagene achtzehn Jahre!

5. Kramer in England, späte Rückkehr nach Österreich

Zunächst lebte Kramer in London, dann in einem Landstädtchen, danach wurde er bis 1941 mit 4000 Insassen aus Deutschland und Österreich in einem Lager bei Liverpool interniert. Später lebte er im Kohlerevier von Birmingham. Schließlich erhielt er einen Bibliothekarsposten in einem Flecken namens Guildford, vierzig Kilometer vor London.

Das Jahr 1942 war ein Wendejahr: Kramers Ehe ging in die Brüche. Es gab nie eine Scheidung. Nach der Trennung von seiner Frau häuften sich seine Besuche "in verrufenen Gassen" in Londons Stadtteil Soho. Im Schoß der Frauen schmolz sein Kummer. "Vereinsamt in London". Tramplied: "nachts ist ganz London mein". Trinken: "Ich trink, um als Skalpell mein Wort zu führen". Fremde Frauen als Trost. " Manchmal streich ich abends durch die Gassen, / daß mich ein bemaltes Ding erhör / denn nur wenig kann ich springen lassen - / und mir hilft, daß ich mich selbst zerstör."

War Kramer in Wien und Österreich schon am Rand, in England fühlt er sich krank und "ausgesetzt": "Fremd für immer bleib ich hierzuland." Etwas in ihm ist wie ein Tier "ins Nichts verkrallt". "mir ist von allem nichts geblieben", "dem Verbannten / dem Habe und Schriften sie drüben verbrannten". "Nie war die Nacht so blank, dein Haar so seiden, / und so zu Nichts zerstoben, was ich ließ; / zu fühln das Leben, doch nicht dran zu leiden, / so muß es, Liebste, sein im Paradies." Krisen schüttelten ihn: "denn nun erwart ich alles nur/ vom Äußersten, vom Nichts." Er kotzt der verdammten Stadt "vor sonntags noch schnell" ins Gesicht. "Die Stadt ist dem eigenen Volk viel zu groß" (Von der Größe Londons, II, 139).

Die Expansion der Nationalsozialisten überspannte sich. Bis alles einstürzt im Bombenrausch. Der Zweite Weltkrieg tobte noch schlimmer als der erste. "Viel Eisenregen fiel vom schwarzen Himmel." "Flammenregen bringen die metallenen Schwingen", "und Hakenkreuze rings zur Schau gestellt". Sein Pass wird nicht verlängert. "Ich werde nicht mehr lang hier bleiben...". Eine Hoffnung, die trügerisch war.

Was in den Kriegsjahren in England im Exil entstand, ohne Chance auf Veröffentlichung, ist so chaotisch bunt, ungefeilt und ungeordnet wie das Leben, dessen frische Quelle überall sprudelt. Mitten im Krieg - das ist mitten im Leben. Immer den Tod, das Nichts vor Augen. Gleichsam erst um zu sterben kehrt Kramer nach Österreich zurück.

6. Der Zug hinter dem Unbestechlichen

Was soll Kramer nicht alles gewesen sein? Offizier und Buchhändler, Kaffeehaushocker, ein stinkendes Scheusal, eine halbgescheiterte Existenz. Ein bürgerliches Leben war ihm nie möglich. Keine Ehe auf ewig, keine Kinder, keine dauerhafte Bleibe, kaum Preise, kein geregeltes Einkommen. Die Angst zu hungern bis zum Ende. Als Sozialist war er nicht linientreu. "Ich bin Demokrat, aber kaum im Parteisinn Sozialist; Marxist war ich nie." "Obwohl ich ein notorischer Feigling bin, würde ich in meiner Eigenschaft als Dichter meine Haut gegen j e d e Diktatur zu Markte tragen." Er war "kein Held", aber auch "keiner, der säuselt". Einen Buckel machte er nie. Ein Schriftsteller ist "sein eigenes Gewissen." "Der letzte bin ich in der Reih der Sänger...Doch mein leises Wort war immer wahr."

Geschockt von privaten und amtlichen Enttäuschungen starb Theodor Kramer am 3. April 1958 in Wien. Kaum dreißig Menschen gingen hinter seinem Sarg. Der Literaturpreis der Stadt folgte ihm am 17. Mai ins Grab. Immer wieder klingt in Kramers Werk durch, wie einsam, zerrissen, gebrochen, verzweifelt er war. Bisweilen auch naiv, gefährlich beharrend, monomanisch. Vergeblich suchte er Anschluss, lebte aber als Sonderling zurückgezogen und verschroben. Seine Freunde müssen es nicht leicht gehabt haben mit ihm.

An Theodor Kramer erinnern heißt also unserer Vergesslichkeit ein Schnippchen zu schlagen. "Sachor!" Sagen die Juden. Das heißt: Erinnere dich, damit du Mensch bleibst! Rassenfeindlichkeit und Antisemitismus kommen heute wieder unverhohlen daher. Zivilcourage darf da nicht aussterben.

Kramer schrieb als Mahnung und Warnung vor aller Menschenverachtung: "Wie könnten wir vergessen, /was überm Meer geschah, / schon steht, geduckt, vermessen / das Böse wieder da. / Wir kennen seine Sache, / sie greift von selbst um sich; / und wolln wir keine Rache, / wir ziehn auch keinen Strich."

In der Begegnung mit Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Otto Schwerdt fällt eines auf: Da ist kein blinder Hass, aber ein abgrundtiefer Schmerz. Den gilt es zu achten. Die Opfer wollen keine Abrechnung, aber auch keinen Schlussstrich! Damit hätten die Barbaren gesiegt.

Theodor heißt "Geschenk Gottes". Theodor Kramer ist ein Geschenk. Nicht nur an Österreich, das ihn auf die Fürsprache seiner Freunde hin eigentlich zu spät ehrte. Theodor Kramer ist uns allen geschenkt. Kaum dreißig Menschen folgten seinem Sarg. Aber unübersehbar ist der Zug der Menschen, die er in seinen Gedichten gewürdigt und verewigt hat.

Anmerkung der Redaktion: Der Autor dieses Beitrages hat viele Gedichte Theodor Kramers vertont (Konzept, Gesang, Gitarre). Mit dem Akkordeon wird er begleitet von Juri Kravets. Hier die Vertonung des Gedichts "Wer läutet draußen". Weitere Lieder sind über die Web-Seite des Autors zugänglich.