Schamlose Verschämtheit

Kinderbücher über sexuelle Aufklärung halten selten, was sie versprechen

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Kind danach fragt, wo die Babys herkommen, will es dann wirklich nur das wissen - oder zielt seine Frage immer schon ab auf das, von dem es noch nichts weiß, was ihm auch weiter noch entzogen werden wird, von dessen Existenz es aber doch eine Ahnung empfängt durch die Unruhe, die seine Frage bei den Erwachsenen auslöst? Weil die Frage aber auch streng biologisch-wissenschaftlich verstanden werden kann, deswegen kann man es sich so einfach machen, auf sie nur anatomisch und physiologisch zu antworten. Aber selbst mit den harten Fakten wird gegeizt, denn "es gibt eine Pädagogik", so Karl Kraus, "die sich schon zu Ostern entschließt, die Jugend schonend darauf vorzubereiten, was im geheimnisvollen Zimmer am Christbaum hängt". Auch die aufgeklärte sexuelle Aufklärung von heute spricht lieber von der Leibesfrucht als von der Auferstehung des Fleisches. Natürlich grenzt man sich von der früheren Prüderie ab und verlacht die Geschichten vom Klappperstorch, findet aber seine eigenen wolkenreichen Umgehungswege.

Als Kinder zeugende Protagonisten wählte "Wo kommen die kleinen Kinder her?" den rundlichen, 'gemütlichen' Typ, den man aus der volkstümlichen Musikszene kennt und der für den Verklemmten den Vorteil hat, eher possierlich auszusehen denn sexuell. Die Frau ist von erdrückender Mütterlichkeit, der Mann geht offensichtlich gerade vom Rentner- ins Greisenalter über. Das, "was du über dich wissen musst", das sind zunächst die körperlichen Unterschiede von Mann und Frau. Man beschränkt sich auf die Benennung und Außenansicht der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Du Frau hat eine "Anhebung", die man auch "Busen" nennen kann, die körpereigene "Milchbar" der Frau, und dann noch einen körpereigenen Brutkasten, genannt die "Hüften". Mann und Frau haben beide "weiter runter" "viele Haare", "das Wichtigste" aber, "was man da sieht", das "hängt dem Mann zwischen den Beinen."

Und was hat die Frau? Eine "kleine Öffnung", über die man nichts weiter erfährt. "Dieses baumelnde Ding" aber kann sich verändern, nämlich dann, wenn Mann und Frau "miteinander im Bett" liegen, wo es "kuschelig, nett und bequem ist". Er kann größer werden. Aber warum? "Weil er jetzt gleich etwas zu tun kriegt."

Und das ist für Kinder ja auch plausibel: wenn in der Schulklasse Arbeit zu vergeben ist, dann richten sich die Streber auch auf und rufen "Hier!". "Hier werden Babys gemacht", informiert eine Zeichnung, auf der man zwei debil linsende Kürbisköpfe auf einem monströs gewölbten Federkissen über einer schweren doppelten Bettdecke in einem von viel massiver Eiche eingefassten Bett sieht, welches "so beherrschend ins Zimmer gestellt" ist, so der Kritiker Hans Sahl in seinen Memoiren, "als hätte es nie eine Neurosenlehre gegeben".

Mann und Frau haben Geschlechtsverkehr, weil man sich nahe sein wolle und dies widerum, weil man sich so sehr möge. Beim Sex habe man ein Gefühl wie "Kitzeln". Wer gekitzelt wird, der zappelt, und "deshalb zappelt es da unten auch am meisten", als hätte man ein paar Fische oder Eidechsen ins Bett geworfen. Der Vergleich mit dem Kitzeln gefällt Thaddäus Troll gut: Geschlechtsverkehr, das ist, wenn man "die beiden kitzligen Stellen aneinander rubbel[t]. Das ist, wie wenn man sich beim Jucken kratzt." Damit die derart angeheizten Kinder nun nicht für tagelange Orgien im Bett verschwinden, weist man schnell noch darauf hin, dass man vom Geschlechtsverkehr "sehr müde" wird; "wie seilhüpfen" könne man es "nicht den ganzen Tag lang tun".

Zurecht bezeichnete Karl Kraus sexuelle Aufklärung schon vor fast hundert Jahren als "jenes hartherzige Verfahren, wodurch es der Jugend aus hygienischen Gründen versagt wird, ihre Neugierde selbst zu befriedigen". Wer aufgeklärt ist, der soll es hoffentlich nicht mehr tun zu brauchen, außer um die Gattung zu reproduzieren. Wesentlich kürzer als Thaddäus Troll drückt sich Willi aus "Willi will's wissen" - einer merkwürdigerweise recht erfolgreichen Serie aus dem Kinderfernsehen - ums Thema herum. Genießt Troll es, Sex ausgiebig mit kugeligen Kulissen der Harmlosigkeit zuzustellen, so bringt Willi es lieber schnell hinter sich. Auch hier "kommt das Baby in den Bauch", indem man sich "ganz doll lieb" habe. Schnell frotzelt man noch über den verklemmten "Dr. Klapperstorch", der nicht so recht raus will mit der Sprache, dann aber geht es ab: "Also, dann steckt der Mann sein Glied in die Scheide der Frau und sein Samen fließt hinein." Alles klar: man stellt eine Steckverbindung her und dreht dann den Hahn auf. Und wenn die Übertragung geklappt hat, dann sind wir schon beim Sport, der seit eh und je zur Abwehr leiblicher Gelüste empfohlen wurde, denn "nun beginnt ein Wettschwimmen der besonderen Art", bei dem viele Samenzellen ein Ziel haben. Und dann ist man schon bei Genetik und Zellteilung.

"Wie kommen die Babys auf die Welt?" sieht natürlich moderner aus als "Wo kommen die kleinen Kinder her?". Es ist bunt und grafisch vielfältig, wie im "Focus" blättert man sich durch ein Foto-, Schemata- und Zeichnungen-Gewitter. Der Zugriff auf das Thema ist stark medizinisch, viel erfährt man über Geburtshäuser und -arten, Hebammen, Untersuchungen während der Schwangerschaft, Schwangerschaftsgymnastik et cetera. Immerhin wird hier gesagt, wo das Baby raus kommt, nämlich aus der "Scheide" (was man aber nicht sieht), und nicht "durch" die namenlose "Öffnung zwischen ihren Beinen" wie bei Troll. Im Übrigen ist Willis Buch komplett in Rosa gehalten, wohl kaum unwichtig in Zeiten, da die Geschlechtszuschreibung unglaublicherweise derart massiv mit dem Blau-Rosa-Schema vorgenommen wird. So wird sublim aufgenommen, dass das Aufdieweltkommen von Babys Mädchen- respektiv Frauensache sei. Hierzu passt, dass in beiden Büchern zwar gesagt wird, dass beim Sex der Penis hart wird, man aber nicht erfährt, was sich bei der Frau verändert! Sexuelle Aufklärung war für Karl Kraus immerhin "insoweit berechtigt, als die Mädchen nicht früh genug erfahren können, wie die Kinder nicht zur Welt kommen", aber auch hierüber ist in beiden Büchern nichts zu erfahren!

Ganz anders ist dies glücklicherweise in dem von Holde Kreul herausgegebenen Aufklärungsbuch ab fünf Jahren, von dem es auch noch Ausgaben für Kinder ab sieben, ab neun und ab elf Jahren gibt. In dem vierten ("Wo kommst du her?") der fünf Kapitel geht es um die Zeugung von Kindern, welches weder die oben genannten Mängel noch Lücken aufweist. Vor allem aber geht es hier nicht nur um physiologische Fakten, die dann hilflos mit ein wenig Sentiment lasiert werden sollen, sondern um Sexualität und Fortpflanzung im individuellen wie sozialen Kontext. Im ersten Kapitel ("So mutig bin ich!") wird mit großen Zeichnungen und wenig Text beispielhaft gezeigt und in der Ich-Perspektive gesagt, was ein Kind kann, was es sich traut, was es mag - und was nicht, und was andere Menschen. Es sind Artikulationsangebote dafür, sich bewusst zu machen, was einen bewegt, was in einem steckt. Selbstwahrnehmung und dann Selbstbewusstsein sollen gefördert werden. Das Ich wird in Abgrenzung wie in Beziehung zu anderen dargestellt.

Dies ist besonders wichtig für das Anliegen des zweiten Kapitels, "Mein Körper gehört mir!". Ich bin Ich, mein Körper ist meiner, ich habe eine Ich-Identität, die ich nicht als starre Gleichheit mit mir selbst erlebe, sondern als Identität in und durch den Wandel meiner selbst. Wieder wird eine Vielzahl von Artikulationsangeboten dargestellt, diesmal zu dem Thema, welche Berührungen ich mag und welche nicht, von wem und wann. Ausgehend von diesem Bewusstsein von und über sich selbst soll das Selbstbewusstsein, also die Courage, begründet und gefördert werden, "Nein!" sagen zu können.

Auch das Kapitel "Ich und meine Gefühle" stellt eine ganze Palette von Gefühlen vor, thematisiert sie aber dann in ihrer Perspektive auf andere und zu anderen. Meine Gefühle können andere verletzen; andere können mir aber bei meinen Gefühlen helfen; und wenn ich mir über meine Gefühle im Klaren bin, dann kann ich anderen auch bei ihren Gefühlen helfen.

Am Ende des vierten Kapitels wird die Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind als "Familie" benannt, aber schon hier wird darauf hingewiesen, dass diese Kleinfamilie nur eine Form von Familie ist. Im fünften Kapitel ("Meine Familie, deine Familie") bemüht man sich weitergehend darum, dass die Gleichwertigkeit verschiedener Lebensformen anerkannt wird. Eine Oma und ihr Enkel warten auf den Besuch zu ihrem Geburtstag. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, schauen sie sich das Familienalbum an, wodurch sie rekapitulieren können, wer zur Familie gehört und wie relativ dies ist, wer neu dazu kam, wer sich löste, sich neu band und neue Familienmitglieder mitbrachte.


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Holde Kreul (Hg.): Mein erstes Aufklärungsbuch.
Gestaltet von Dagmar Geisler.
Loewe Verlag, Bindlach 2007.
136 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-13: 9783785560846

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ulrike Gerold: Willi wills wissen: Wie kommen Babys auf die Welt?
Baumhaus Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
48 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783833927140

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Titelbild

Thaddäus Troll: Wo kommen die kleinen Kinder her? Ein Aufklärungsbuch für junge Menschen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
48 Seiten, 6,95 EUR.
ISBN-13: 9783455380217

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