Fremde Stimmen und die Grenzen der Schrift

Ethnologische Anregungen für eine postkoloniale Literaturwissenschaft

Von Sven WerkmeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Werkmeister

Die Frage nach der Darstellbarkeit fremdkultureller Begegnungen leitete Mitte der 1980er-Jahre eine grundlegende Selbstreflexion der Ethnologie als wissenschaftlicher Disziplin ein. Die Writing Culture-Debatte erkannte in der Frage nach den Möglichkeiten und Problemen sprachlicher Repräsentation fremder Kulturen das zentrale epistemologische und poetologische Problem der ethnografischen Praxis. Das Interesse der interkulturellen Germanistik an dieser Debatte lag auf der Hand. Die Ethnologen der Writing Culture-Debatte beriefen sich in ihren Beschreibungen des Ethnografen als Schriftsteller nicht nur auf literarische und literaturwissenschaftliche Gewährsleute, sie betrachteten ihre eigene Wissenschaft auch aus explizit philologischer Perspektive. Anknüpfen an die ethnologische Diskussion konnte nicht nur die kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik im Allgemeinen, sondern auch und gerade die an postkolonialen Fragestellungen interessierte Literaturwissenschaft.

Die Aufmerksamkeit für das textuelle Othering im Prozess ethnografischen Schreibens übersetzte die postkoloniale Diskurskritik - wie sie die postcolonial studies zur gleichen Zeit diskutierten - in ganz praktische Fragen von konkreten Schreibverfahren und Poetologien. Auch der ethnologische Diskurs verknüpfte dabei die zwei grundlegende Dimensionen postkolonialer Theoriebildung: Die deskriptive Beschreibung historischer Beziehungen von Wissenschaft, Kultur und Kolonialismus auf der einen Seite und das programmatische, politisch-emanzipatorische Projekt einer post-kolonialen, traditionelle Hierarchien aufbrechenden wissenschaftlich-kulturellen Praxis auf der anderen.

Hier knüpfen auch die folgenden Überlegungen an, die noch einmal das Potential ethnologischer Theoriebildung für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit postkolonialen Fragestellungen fokussieren. Dabei geht es allerdings nicht um die Diskussion der bereits breit rezipierten Writing Culture-Debatte, als vielmehr um zwei im Kontext postkolonialer Literaturwissenschaft bisher kaum wahrgenommenen Akzente der ethnologischen Diskussion.

Der erste Aspekt bezieht sich auf das Projekt einer "inversiven Ethnologie", wie sie von Ethnologen wie Fritz Kramer, Thomas Hausschild oder neuerdings von Kulturwissenschaftlern wie Iris Därmann und Erhard Schüttpelz (Därmann: Fremde Monde der Vernunft. München 2005; Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. München 2005) angeregt wurde. Der zweite Aspekt betrifft die im weitesten Sinne medientheoretische Fragestellung von Oralität und Literalität. Diese in der Ethnologie seit den Forschungen von Jack Goody und Ian Watt in den 1960er-Jahren diskutierte Frage nach der Bedeutung von medialer Differenz zwischen verschiedenen Kulturen auch und gerade im Kontext des europäischen Kolonialismus wurde in der postkolonialen Literaturwissenschaft bisher nur zögerlich - zum Beispiel bei Tzvetan Todorov oder Stephen Greenblatt - aufgegriffen.

Beide Akzente aus der ethnologischen Diskussion verschieben die Perspektive ein wenig von der engen Bindung der postcolonial studies an Dekonstruktion und historische Diskursanalyse und fokussieren zum einen die explizit ethnografische Dimension von kolonialer und postkolonialer Literatur, zum anderen die Frage nach deren medialen Bedingungen. Die folgenden Bemerkungen sind daher weniger als Alternative, sondern vielmehr als Anregung und Ergänzung diskurshistorischer Untersuchungen gedacht.

1. Das Projekt einer inversiven Ethnologie

Es sind bezeichnenderweise gerade jene Ethnologen, die sich gegen die Außenwahrnehmung der Ethnologie als "postmoderner Selbstreflexionsmaschine" wehren, die auf die spezifischen Leistungen und Möglichkeiten ethnografischer Verfahren auch und gerade aus postkolonialer Perspektive verwiesen haben. Der theoretische Einsatz dieser seit Fritz Kramer vor allem unter dem Stichwort der inversiven Ethnologie geführten Diskussion ist dabei ein doppelter: Erstens geht es darum, einer dekonstruktivistischen Perspektive, die europäische Darstellungen des Fremden von vorne herein als eigenkulturelle Konstruktionen und koloniale Imaginationen entlarven möchte, die Wirklichkeit und Wirksamkeit fremden kulturellen Wissens entgegenzusetzen, das heißt den Fokus auf die wie auch immer vermittelte und übersetzte Präsenz von fremdem Wissen im europäischen Text zu richten. Zweitens geht es um das in solchen fremden Subtexten begründete kolonialkritische Potential von wissenschaftlichen wie literarischen Texten. Nicht in der Selbstdekonstruktion europäischer Diskurse von Innen sind demnach die subversiven Momente kolonialer Redeweisen zu finden, sondern in der ethnografischen Vermittlung von "fremden Fremderfahrungen", das heißt dort wo die Fremderfahrungen der Kolonisierten, ihre Wahrnehmung der Europäer zum Thema werden. Das postkoloniale Potential der Ethnografie liegt mithin - wie der Ethnologe Richard Rottenburg formuliert - gerade darin, dass "sie einen Blick aus der Ferne auf das Eigene ermöglicht, den man sich innerhalb des Eigenen nicht hätte ausdenken können." (R. Rottenburg: Marginalität und der Blick aus der Ferne. In: H. Behrend (Hg.): Geist,Bild und Narr. Berlin 2001).

Inwiefern kann diese ethnologische Diskussion Anregungen für postkoloniale Literaturwissenschaften geben? Es lassen sich mindestens drei Ebenen unterscheiden:

1. Gegenstandsbereich: Greift man die Frage nach fremden Fremderfahrungen im Kontext literarischer Texte auf, so kommen neben dem Genre der Persischen Briefe, das den ethnografischen Perspektivwechsel explizit zum literarischen Verfahren erhebt, besonders jene Texte in den Blick, denen konkrete Erfahrungen solcher fremden Fremdwahrnehmungen zugrunde liegen, das heißt vor allem das weite Feld der Reisetexte und der literarischen Ethnografien von Georg Forster bis Hubert Fichte. Mary Louise Pratt hat mit dem Begriff der Transkulturalität bereits auf die Bedeutung von fremdkulturellem Wissen in solchen Texten aus den contact zones kolonialer Begegnungen verwiesen.

2. Methode: Fragt man nach den Spuren fremder Fremderfahrungen in literarischen Texten, so erweist sich ein Entweder/Oder zwischen naivem Glauben an die Möglichkeit objektiver Darstellung auf der einen und der Behauptung uneingeschränkter Herrschaft kolonialer Diskurskonstruktionen auf der anderen Seite als ungenügend. In den Blick zu nehmen sind aus dieser ethnologischen Perspektive vielmehr - wie man mit einem Begriff Bruno Latours formulieren könnte - die Übersetzungsketten, das heißt jene ineinandergreifenden Stufen der Übertragung, Übersetzung und Umschreibung, über welche fremdes Wissen Eingang in europäische Texte gefunden hat. Selbst reine "Bibliothekstexte" wie beispielsweise Alfred Döblins Amazonas-Trilogie lassen sich aus dieser Perspektive auf solche, über ethnologische Literatur, Museen et cetera vermittelten, fremdkulturellen Einschreibungen hin untersuchen.

3. Politische Implikationen: Das ethnologische Beharren auf der Anwesenheit von fremden Wahrnehmungen und fremdem Wissen und der Fokus auf die Übersetzungketten, über welche fremde Stimmen in den europäischen Diskurs gelangen, kann der postkolonialen Literaturwissenschaft einen Weg aus der Sackgasse europäischer Selbstdekonstruktion zeigen. Fremde Perspektiven in europäischen Texten, die man sich "innerhalb des Eigenen nicht hätte ausdenken können", verweisen auf einen Subtext, der das postkoloniale writing back der Kolonisierten bereits vorformuliert.

2. Die Frage der Schrift

Eine zweite theoretische Anregung aus dem Kontext ethnologischer Forschung ist im Kontext postkolonialer Studien bereits breiter diskutiert worden: die medien- und kulturtheoretische Diskussion um die Unterscheidung von oralen und literalen Kulturen. Jedoch hat sich überraschenderweise gerade die Literaturwissenschaft der medialen Dimension kolonialer Beziehungen bisher nur in Ansätzen gestellt, obwohl die Unterscheidung von schriftlichen und nicht-schriftlichen Völkern bereits seit dem späten 16. Jahrhundert eine der wichtigsten europäisch-kolonialen Differenz- und Hierarchiebildungen zwischen Eigenem und Fremdem gewesen ist. Während die Ethnologie die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit spätestens seit den 1960er-Jahren intensiv diskutiert, wurde die koloniale Hypothek des literarischen Mediums im postkolonialen Diskurs der Literaturwissenschaften bisher nur in vereinzelten Studien zum Thema gemacht.

Ohne noch einmal auf die Argumente der bis heute kontrovers geführten ethnologischen Debatte einzugehen (siehe Peter Probst: Die Macht der Schrift. In: Anthropos 87 (1992) S. 167-182), sollen hier nur zwei Hinweise gegeben werden, inwiefern eine fundiertere Reflexion von Fragen der Schriftlichkeit die postkoloniale Diskussion in den Literaturwissenschaften ergänzen und erweitern könnte.

1. Kaum in den Blick genommen wurde bisher die Frage, wie sich koloniale oder postkoloniale Literatur zu ihren medialen Bedingungen verhält. Dabei finden sich gerade in der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts - zur Hochzeit des deutschen Kolonialismus also - zahlreiche Beispiele für eine explizite Reflexion der Literatur und ihres Mediums der Schrift, die unmittelbaren Bezug auf Kolonialismus und Fremderfahrungen nehmen. Exemplarisch lässt sich nicht nur auf die exotistischen Lautgedichte des Dadaismus verweisen, sondern auch auf Autoren wie Robert Musil oder Alfred Döblin, die sich bei der Auslotung der Möglichkeiten des literarischen Mediums gleichermaßen auf moderne Medien(-theorien) (vor allem den Film) wie auf ethnografische Theorien über die nicht-schriftlichen Völker beriefen. Béla Balázs, auf den Musil direkten Bezug nahm, feierte das neue Medium Film als primitive Überwindung des europäischen Mediums der Schrift. Das Ineinander von kolonialen und kolonialkritischen Dimensionen in diesen schrift-, medien- und literaturtheoretischen Debatten bietet ein interessantes, noch kaum behandeltes Untersuchungsfeld für eine an kolonialen Differenzen und Hierarchien interessierte Literaturwissenschaft.

2. Neben einer solchen Analyse moderner Selbstreflexion der medialen Bedingungen von Literatur als einer spezifisch europäischen Kulturpraxis kommt die Medienfrage noch auf einer anderen Ebene zum Tragen. Wurde in der postkolonialen Diskussion immer wieder nach der spezifischen Stimme der Literatur im Konzert kolonialer Kulturphänomene gefragt, so scheint die Medienfrage in diesem Zusammenhang bisher noch kaum diskutiert. Insofern aber gerade das 19. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert des Kolonialismus, sondern auch das Jahrhundert der neuen technischen Medien war, stellt sich die Frage nach den spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen von Literatur im kolonialen Zeitalter als einem Medium unter anderen. Eine fruchtbare Ergänzung der Analyse der spezifischen Position von Literatur im Kontext kolonialer Diskurse wäre mithin der vergleichende Blick auf konkurrierende mediale Praktiken und deren historischen Wandel.