Überlebenszeugnisse

Die Überlebenden Thomas "Toivi" Blatt und Jules Schelvis erzählen vom Aufstand im Vernichtungslager Sobibor

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas "Toivi" Blatt war 16 Jahre alt, als er 1943 mit den Eltern sowie einem Bruder aus dem polnischen Izbica in das Vernichtungslager Sobibor deportiert wurde. Dort wurde er zum Arbeitseinsatz selektiert, während die Angehörigen sofort in den Gaskammern ermordet wurden. Ein Aufschub, denn auch für ihn, wie für alle zum Arbeitseinsatz selektierten Menschen, hatten die Deutschen den Tod vorgesehen. Blatt jedoch entkam seinen Mördern. Er war an dem Aufstand der Häftlinge in Sobibor am 14. Oktober 1943 beteiligt, der 320 Menschen die Flucht aus dem Todeslager ermöglichte, in dem insgesamt über 250.000 Menschen ermordet wurden. "Ich habe Sobibor aufgrund dieses Aufstandes überlebt und habe seitdem immer das Gefühl gehabt, dass seine Geschichte und die von Sobibor als Ganzes erzählt werden muss".

Auf der Grundlage eigener Aufzeichungen sowie jahrelanger intensiver Nachforschungen berichtet Blatt über den "vergessenen Aufstand" in Sobibor. Wenn Blatt von einem "vergessenen Aufstand" spricht, so geht es ihm um die angemessene Würdigung der Ereignisse. Tatsächlich wurden die jüdischen Widerstandsktionen gegen die deutschen Mörder in der Forschung lange Jahre vernachlässigt. Die Vernichtungsgeschichte wurde aus der Perspektive der Täter und auf der Grundlage ihrer Hinterlassenschaften erzählt. In dieser Sichtweise dominierte das Bild wehrloser jüdischer Opfer, die ihr Schicksal widerstandslos hinnahmen. Unbeachtet blieb die Frage, welche Möglicheiten des Widerstandes für die Menschen überhaupt bestanden und wie sie diese hätten wahrnehmen können. Deutlich wurde erst allmählich, dass der massenhafte Mord etwa an den polnischen Juden auch deshalb möglich war, weil diese Menschen durch brutale Ghettoisierung und einer aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbaren Politik der Gewalt und Unterdrückung sowohl körperlich als auch seelisch entwürdigt und entkräftet waren. Wie sollten diese Menschen zu Widerstand fähig sein?

Umso bewunderungswürdiger ist es, dass sie es dennoch immer wieder waren. Der Aufstand in Sobibor ist unter diesen Umständen von besonderer Bedeutung, weil er "erfolgreich" war. Was das unter den gegebenen Umständen bedeutete, hat der französische Regisseur Claude Lanzmann 2001 in dem Dokumentarfilm "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" thematisiert. Im Mittelpunkt des Films stehen die bereits 1979 für den Film "Shoah" (1985) gedrehten Aufnahmen mit dem Holcaust-Überlebenden Yehuda Lerner. Dieser schildert, wie er als 16jähriger an dem Aufstand in Sobibor beteiligt war. Mit einer Axt spaltete er dem befehlshabendem Kommandanten des Lagers den Schädel und setzte so das geplante Signal für den Aufstand. In seiner Darstellung bestätigt Blatt diesen Ablauf. Diese Tat wird für Lanzmann zu einem "mythischen Moment", in dem die wehrlosen todgeweihten Menschen für einen Augenblick wieder zu Subjekten wurden, die ihr Handeln mutig und heroisch selbst bestimmten.

Der Kopf des Aufstandes, an dessen Beginn Lerners Tat stand, war Alexander Pechersky, genannt "Sasha". Gemeinsam mit dem Polen Leon Feldhendler hat er den Ausbruch geplant. Der Aufstand läuft präzise ab, weitere SS-Leute und Angehörige des ukrainischen Wachpersonals werden getötet, insgesamt über 300 Gefangenen gelingt die Flucht.

Die meisten der Flüchtlinge werden indes im Verlauf der nun einsetzenden Hetzjagd von den Deutschen getötet, einige werden von polnischen Einwohnern verraten, andere sterben im Untergrund oder werden noch nach der Befreiung von polnischen Antisemiten erschossen, wie Leon Feldhendler. Nur 53 der aus Sobibor geflohenen Menschen überleben. Sie sowie neun Häftlinge, deren frühere Fluchtversuche aus Sobibor erfolgreich waren, waren nach Kriegsende die einzigen Überlebenden aus Sobibor.

Blatt schildert den Verlauf des Aufstandes präzise und anschaulich. Seinen Bericht, der im Übrigen auch eine allgemeine Geschichte des Lagers Sobibor enthält, vervollständigen zwei Interviews. Das eine führte Blatt 1979 mit Alexander Pechersky, der bis zu seinem Tode im Jahr 1990 in der Sowjetunion lebte. Das andere Interview führte Blatt mit einem der Mörder aus Sobibor. 1983 traf er den ehemaligen SS-Scharführer Karl Frenzel. Der konnte bis 1962 unerkannt in der Bundesrepublik leben, wurde dann verhaftet und im Hagener Sobibor-Prozess 1966, über den der Beitrag "Sobibor im Spiegel bundesdeutscher Justiz und Medien" im Anhang des Buches berichtet, zu lebenslanger Haft verurteilt. Zu Beginn der 80er-Jahre strengte er ein neuerliches Verfahren in seiner Sache an, das aber 1985 abgelehnt wurde. Die lebenslange Strafe wurde bestätigt. Trotzdem kam Frenzel frei, weil das Gericht in der weiteren Inhaftierung eine gesundheitliche Gefahr für ihn anerkannte. Über die "Begegnung mit einem Mörder" schrieb Blatt einen Artikel, der 1984 im Stern erschien und hier nun in überarbeiteter Form wiedergegeben wird.

Ein anderer Überlebender aus Sobibor ist Jules Schelvis. Der 1921 in Amsterdam geborene Schelvis war 1943 in Amsterdam von den Deutschen ergriffen worden und über das Durchgangslager Westerbork mit 3.000 weiteren holländischen Juden nach Sobibor zur Vernichtung deportiert worden. Als einziger dieses Transportes überlebte Schelvis, weil auch er nach der Ankunft in Sobibor zum Arbeitsdienst selektiert wurde.

1993 veröffentliche der Autor in den Niederlanden das Buch "Vernichtungslager Sobibor". Das aus eigener Erinnerung, umfangreicher Recherche in Archiven und Gerichtsprotokollen sowie Interviews entstandene Werk wurde zu einem Standardwerk über des Vernichtungslagers. Vermittelt über das Bildungswerk Stanislaw Hantz in Kassel, das mit Schelvis bis heute Bildungsfahrten zu den ehemaligen Vernichtunglagern Treblinka, Sobibor und Belžek veranstaltet, veröffentlichte der Unrast Verlag das Buch 2003 in deutscher Sprache.

Zur Neuveröffentlichung des erstmals 2004 erschienenen Textes von Thomas "Toivi" Blatt stellt der Verlag sinnvollerweise auch das Buch von Schelvis wieder zur Verfügung.


Titelbild

Thomas Blatt: Sobibor - der vergessene Aufstand. Bericht eines Überlebenden.
Unrast Verlag, Münster 2008.
254 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783897718135

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Titelbild

Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibor.
Unrast Verlag, Münster 2008.
364 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783897718142

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