Eine kritische Abrechnung

Daniel Rellstabs Monografie über "Charles S. Peirce' Theorie natürlicher Sprache und ihre Relevanz für die Linguistik" rechnet mit Vorurteilen ab

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Sprachwissenschaftler, der sich etwas intensiver mit Charles S. Peirce' Werk auseinandergesetzt hat, weiß, dass der Anspruch, eine ausführliche Monografie über seine Zeichen- und Sprachtheorie zu schreiben, ein nahezu unmögliches Unterfangen darstellt. Dies hängt vor allem mit der äußerst diffizilen Quellenlage zu seinem Werk zusammen: Peirce' Nachlass ist bis heute nur unzureichend gesichtet. Peirce, der zu Lebzeiten - mit Ausnahme seiner zahlreichen Lexikonartikel - kaum eine umfangreiche Arbeit publizieren konnte, hinterließ der Nachwelt ca. 80.000 unveröffentlichte handschriftliche Manuskriptseiten. Auch erfuhr der bisher gesichtete Teil des Nachlasses in der ausschließlich thematischen Gesichtspunkten folgenden, montagehaft zurechtgeschnittenen Publikation der "Collected Papers" eine rigorose Verstellung, die die deutschsprachige Ausgabe der "Semiotischen Schriften" aufgrund ihrer Kürze und das "Peirce Edition Project" wegen seiner derzeitigen Unabgeschlossenheit nur unmerklich beheben konnten.

Nun hat sich Daniel Rellstab in seiner kürzlich erschienenen Monografie zu "Charles S. Peirce' Theorie natürlicher Sprache und ihre Relevanz für die Linguistik" die schwierige Aufgabe gestellt, Peirce' Theorie natürlicher Sprache auszuarbeiten. Bisher wurde diese nur ansatzweise in der Forschung behandelt, was vor allem daran liegt, dass eine vollständige, im Zusammenhang erstellte Theorie von Peirce als solche nicht existiert, sondern nur über intensives Quellenstudium zu ermitteln ist. Auch gilt hier wie in anderen Arbeiten zu dem amerikanischen Logiker zu berücksichtigen, dass dessen Gesamtwerk ein "work in progress" war, die Manuskripte daher oftmals lediglich aus skizzenhaften Entwürfen bestehen und es keine autorisierte Version seiner Zeichentheorie gibt, auf die sich der Forscher berufen kann.

"Dass Peirce der Linguistik aber mehr als ein interessantes Zeichenmodell oder anspruchsvolle Zeichenklassifikationssysteme bieten könnte, dass er eine ganz spezifische Art, Sprache zu denken und zu analysieren, vertrat, die auch heute noch aktuell ist", sucht Rellstab darzulegen. Zudem - und dies ist in Anbetracht der bisherigen Forschungslage nicht weniger innovativ - intendiert Rellstab einen kritischen Gesamtüberblick über die Rezeptionsweise Peirce' in der Linguistik und ihrer Folgen. Der Hauptgliederung gemäß setzt die Arbeit folgende Schwerpunkte: den Gegenstand der Untersuchung bilden die linguistischen Peirce-Adaptionen, Peirce' unterschiedliche Schaffensphasen, seine Phänomenologie und Handlungstheorie, die Grammatik im Hinblick auf seine Zeichentheorie, seine Pragmatik und ihr formaler Aspekt. Abgeschlossen wird sie von einem vorläufigen Fazit zu Peirce' Philosophie und Linguistik.

Besonders lohnenswert für einen Semiotikinteressierten erscheint Rellstabs Auseinandersetzung mit Roman Jakobsons Peirce-Rezeption. Obgleich diese überhaupt erst zu einer Verbreitung von Peirce' Ideen im Bereich der Sprachwissenschaft führte und diese ihm darüber hinaus selbst zu weiterer Bekanntheit verhalf, stellt sie eine der entschiedensten Fehlinterpretationen dar. So suggerierte Jakobson in seinem Essay "Quest for the Essence of Language" (1965), Peirce sei eigentlich ein Strukturalist gewesen, um diesen als Autoritätstopos für seine strukturalistischen Studien zu missbrauchen. Entsprechend erfolgte seine Auseinandersetzung mit der peirceschen Zeichentheorie nur partiell. Indem er die Referenz ausblendete, stutzte Jakobson Peirce' dreistellige Zeichenkonzeption zugunsten des Oppositionsprinzips, dem er Folge leistete, auf eine zweistellige zurecht. Zugleich verschränkte er den Begriff des Ikonischen mit dem des Symbolischen zu 'ikonisches Symbolisches', wo Peirce zwischen zwei Zeichenereignissen distinguiert. Ein weiteres Problem stelle beispielsweise auch Jakobsons unpräziser Rückgriff auf Peirce' Interpretantentheorie zum Zwecke seiner Zwei-Achsen-Theorie dar sowie seine Gleichsetzung von Interpretant und Code. Gleichzeitig erkennt Rellstab jedoch an, dass Jakobson der erste war, der auf Peirce' Vorstellung von natürlicher Sprache einging und diese in Relation zur Linguistik stellte.

Zur Rekonstruktion von Peirce' Sprachverständnis beschäftigt sich Rellstab eingehend mit den unterschiedlichen Schaffensphasen, die auch seine Vorstellung von natürlicher Sprache veränderten. Dabei sucht er den Bezug zu Karl-Otto Apels Studien. Im Unterschied zu Apel, dessen Forschung die peirceschen Schriften aus dem Zeitraum der 1860er- und 1870er-Jahre zur Basis hat und diesen ausschließlich vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Kant las, konzentriert sich Rellstab zur Erfassung von Peirce' Theorie natürlicher Sprache auf den späten Peirce, das heißt auf seine Arbeiten nach 1900. Diesen Schwerpunkt begründet er unter anderem mit dem Vorhandensein einer umfassenden Ausarbeitung der Zeichentheorie mitsamt der drei Zeichentypen, der Integration handlungstheoretischer Aspekte in seine Theorie, der Hinwendung zu einer funktionalen Zeichendefinition sowie der Entwicklung einer grafischen Logik, die Peirce zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternahm. Als weitere Gründe führt Rellstab an, dass die Beschäftigung mit pragmatischen Ideen zu diesem Zeitpunkt von höherer Intensität ist und die Phänomenologie um die Jahrhundertwende zum neuen Fundament von Peirce' Philosophie geriert. Zudem bilde die Phänomenologie "einen wichtigen Referenzrahmen für die Analyse der natürlichen Sprache: Sie ist die Basis der peirceschen Pragmatik genauso wie seines Pragmatismus".

Innerhalb des vierten Hauptgliederungspunkts ("Peirce' Grammatik") widmet sich Rellstab unter funktionalem Gesichtspunkt Peirce' Zeichenbegriff sowie dessen beständiger Weiterentwicklung und Ausweitung, die von seinen frühen Arbeiten hin zu seinem Spätwerk erfolgt. Im Rahmen dieses Kapitels werden die einzelnen Trichotomien mitsamt ihren Unterklassifizierungen besprochen. Auch versäumt Rellstab es nicht, auf Bezüge aufmerksam zu machen, die bei Peirce' umfangreicher Konzeption der Grammatik vom Mittelalter zu Thomas von Erfurts "Grammatica Speculativa" bis hin zum frühen und späten Ludwig Wittgenstein reichen. Peirce' Grammatik der Zeichen trägt für Rellstab einen dialogischen Charakter, die sich in ihrer Erfassbarkeit des Zusammenspiels von "Regel und Anwendung, [...] Sprecher und Interpret, [...] gelingender und misslingender Zeichenverwendung" äußert.

Für Rellstab sind es gerade die handlungstheoretische Ausrichtung und die phänomenologische Basis seiner Sprachtheorie, die Peirce zu einem "Vorläufer der Pragmatik" machen. Dies käme vor allem in seiner Type-Token-Unterscheidung zum Ausdruck. Rellstab sucht die Bezüge in Peirce' Werk zur Forschungsrichtung der 'Pragmatik' aufzudecken, indem er unter anderem auf dessen spekulative Rhetorik näher eingeht. Unter den Anregungen, die das Werk für die Linguistik bietet, verweist Rellstab auf die sprachliche Indexikalität, die der empirischen Arbeit nützlich sein könne. Sowohl Begriff und Theorie böten dem bisher noch nicht vollständig erforschten Feld der Indexikalität einen idealen theoretischen Ausganspunkt. Im Zuge der Untersuchung der peirceschen Pragmatik macht Rellstab darauf aufmerksam, dass Peirce' Bezug auf die natürliche Sprache und menschliche Kommunikation lediglich zur Veranschaulichung seiner umfassenden Konzeption der Zeichenprozesse diene. So sei auch Kommunikation für Peirce "kein simpler Austausch von Informationen, sondern immer Bestimmung eines Geistes". Die Interpretationsressourcen - beispielsweise die Triangulation - sowie seine Forschungen zu Sprechakten und seine Ausführungen zu den Kommunikationsaspekten des Sagens, Meinens und Verstehens, werden von Rellstab ausführlich und kritisch beschrieben. Dass das Problem des Verstehens bei Peirce "als Problem des abduktiven Erschließens von Sprecherintentionen" interpretiert werden könne, bildet hierbei eine von Rellstabs Ausgangsthesen. Entsprechend widmet Rellstab der Abduktion ein Sonderkapitel, in dem er der Frage nachgeht, inwieweit Abduktion Verstehen modelliert.

Der letzte thematische Schwerpunkt hat Peirce als formalen Pragmatiker zum Gegenstand. In diesem Kapitel bespricht und veranschaulicht Rellstab detailliert die Relevanz des von Peirce nach der Jahrhundertwende entwickelten logischen Notationssystems, seine so genannten 'Existentiellen Graphen', womit eine Bedeutungsanalyse von geäußerten Sätzen ermöglicht wird.

Als Gründe für die fortwährende Aktualität von Peirce' Sprach- und Kommunikationstheorie verweist Rellstab auf die Relevanz der Reflexion über den sprachlichen Zeichenbegriff innerhalb der Grammatik und Pragmatik. In einem Vergleich zwischen Peirce' und Ferdinand de Saussures Zeichenbegriff begründet er den Vorzug von Peirce' trichotomischen Zeichenkonzept gegenüber dem dyadischen des Schweizer Linguisten mit dem Verschwinden des "Menschen als Produzenten und Interpreten von Aussagen" in de Saussures Konzeption und dem dynamischen Aspekt des Interpretationsprozesses, den allein Peirce' Darstellung berücksichtigt. Zudem plädiert Rellstab für eine historische Perspektivierung Peirce', dessen Studien in der Zeit des Übergangs zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert entstanden und den (zeitgenössischen) Diskurs mit der Philosophie, Logik, Psychologie und der vergleichenden Sprachwissenschaft suchten.

Mit Ausnahme eines Gliederungsfehlers sowie zwei vereinzelt auftretender grammatikalischer Fehler, die jedoch kaum ins Gewicht fallen, gibt es an dieser umfassenden Arbeit nichts zu beanstanden. Auch die Bemerkungen innerhalb der Fußnoten sowie das Literaturverzeichnis zeugen von Rellstabs intensiver Beschäftigung mit der Materie.

Peirce' Theorie der natürlichen Sprache zu erschließen, setzt - wie bereits erwähnt - ein intensives Quellenstudium seiner zahlreichen Manuskripte und - neben den publizierten - auch unpublizierten Schriften voraus, die den zahlreichen Ausführungen nachgeht, diese verortet und in einen Zusammenhang stellt. Eine solche Erschließung scheint Rellstab mit seiner Studie gelungen zu sein. Sie stellt, ohne zu übertreiben, eine enorme Bereicherung für die Peirce-Forschung dar.


Titelbild

Daniel H. Rellstab: Charles S. Peirce' Theorie natürlicher Sprache und ihre Relevanz für die Linguistik: Logik, Semantik, Pragmatik. Logik, Semantik, Pragmatik.
Gunter Narr Verlag, Tübingen 2007.
340 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783823363095

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