Seine Opernsujets erfand er nie selbst, er fand sie

Eine Puccini-Biografie von Dieter Schickling zum 150. Geburtstag des Komponisten

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was war dieser Giacomo Puccini doch für ein schwieriger, komplizierter, widersprüchlicher Charakter! Von einer entwaffnenden Naivität und zugleich ein Bohemien, wie er im Buche stand, naturverbunden und von einer geradezu manischen Technik-Besessenheit, von Melancholie und Verzweiflung geplagt und dann wieder leichtsinnig und übermütig bis zum Unverstand. Ein mit allen Eitelkeiten der Welt ausgestatteter Narzisst und zugleich besorgt und zu Tränen gerührt, wenn es um das Schicksal seiner Familie und seiner Freunde ging. Er besaß eine ausgeprägt romantische, zwischen Weichheit und Härte, Empfindsamkeit und Entschlossenheit wechselnde Künstlerpsyche und war zugleich ein Weltmann des Zivilisationszeitalters. Wie ein Wettkämpfer stürzte er von einem erotischen Abenteuer ins andere - und alle diese Eigenschaften und Exzesse eines ungewöhnlichen, intensiven Musikerlebens sind nicht vom Werk dieses Italieners zu trennen, das sich seit langem im Weltrepertoire der Oper einen festen Platz gesichert hat. Mit seinen Opernfiguren, vor allem mit seinen Opernheldinnen lebte und litt er, aber sie blieben Geschöpfe der Phantasie, nach biografischen Bezügen wird man meist vergeblich suchen.

Immer wieder haben Hilfeschreie an den Verleger Giovanni Ricordi seinen Schaffensweg begleitet: "Ich brauche dringend ein Libretto!" Denn seine Opernsujets erfand er nie selbst, er suchte und fand sie in den Texten der italienischen und internationalen Literatur, in bereits vorliegenden oder extra für ihn geschriebenen Libretti, die er ständig verwarf, wieder aufgriff, veränderte, bis er die Musik dazu gefunden hatte, die er dann beim Instrumentieren am Klavier wie besessen aufs Papier brachte.

Dieter Schickling - er hat das erste umfassende Werkverzeichnis Puccinis (2003) und die ersten wissenschaftlich-kritischen Ausgaben von Puccinis Musik überhaupt herausgegeben - ist ein exzellenter Kenner dieses nach Verdi wohl bedeutendsten italienischen Komponisten. Er hat sein biografisches Grundlagenwerk von 1979 auf den neuesten Forschungsstand gebracht, ein Standardwerk, das sowohl detailliert das Leben Puccinis ausleuchtet als auch sein Opernwerk intensiv behandelt und mit vielen Neudeutungen versieht.

Nach erfolgreicher Aufführung seiner ersten Oper "Le Villi" (1884) wurde es Puccini durch einen Vertrag mit dem Verleger G. Ricordi ermöglicht, sich ganz der Opernkomposition zuzuwenden. Nach "Edgar" (1889), einem missglückten Versuch in Wagner-Manier, schrieb Puccini mit "Manon Lescaut" (1893, Text von A. F. Prévost d'Exiles) sein erstes Meisterwerk. danach behandelte er im Grunde immer das gleiche Thema: den Zusammenstoß eines einsamen Menschen mit seiner Umwelt, die Erotik des Weibes, das für seine Liebe lebt und stirbt. Jede seiner nun folgenden Partituren hat ihr spezifisches Klima: das Parisische der "Bohème", das Römische der "Tosca", das Japanische der "Madame Butterfly". "La Bohème" beruht auf einer romantisch milieugerechten Story, "Tosca" ist Historie. Puccini war ein Meister der lokalen Beschreibung und der lyrisch-farbigen Kleinmalerei. Er betrieb ausgiebige folkloristische Studien der fernöstlichen Musik für "Madame Butterfly" und "Turandot".

Wollte Puccini mit "La Bohème" eine lyrische Oper oder einen vertonten Roman schreiben? Das Neue an dieser Oper ist der Wechsel zwischen geschmeidiger Sanglichkeit und Konversation, zwischen Kammermusik der intimen Szenen und kräftiger Prägung der Ensembles. Vom bezaubernden Dialogisieren zwischen Singstimme und Orchester aus hat Puccini den subtil-eleganten Stil seiner "Bohème" entwickelt. Hier liegt das Beispiel eines Werkes vor, dessen Dramaturgie für eine Reihe anderer Opern des Maestro Vorbild ist.

Im Dezember 1895 lag "La Bohème" fertig vor. Es ist nach den Schöpfungen Verdis das bedeutendste Werk der italienischen Oper. Das Urbild der italienischen Oper des ausgehenden 19. Jahrhunderts, lyrisch-sentimental und damit in entschiedenem Gegensatz zu Verdis heroischer Oper. Dagegen steht "Tosca" (1900) eher in der italienischen Tradition des 19. Jahrhunderts, sie gehört zu den zentralen Werken des Verismo. "Madame Butterfly" (1904) wird in ihre Melodik dann auch japanische Klänge aufnehmen.

Es gibt viele Einwände gegen den Menschen Puccini - und Schickling breitet sie schonungslos aus. Wie verträgt sich seine romantische Naturliebe mit der begeisterten Hingabe an das technische Zeitalter, mit seiner Leidenschaft für Autos und Motorboote? Aus seinen Opern können wir sie nicht ablesen. Aber welche Konsequenzen haben seine Beziehungen zu Frauen für sein Werk? Stil und Substanz seiner Kompositionen erheben sich über die Miseren des Privaten, schaffen sich ihren eigenen Raum.

Nach dem Erfolg seiner drei populären Opern der Jahrhundertwende, war es für Puccini an der Zeit, neue Wege einzuschlagen. "La Fanciulla del West" ("Das Mädchen aus dem goldenen Westen"), diese Liebesgeschichte der edelmütigen Räuberbraut Minnie, 1910 in New York unter A. Toscanini uraufgeführt, wird heute von nicht wenigen Puccini-Kennern als seine farb- und klangreichste, seine raffinierteste Partitur angesehen. Keine Western-Oper, meint Schickling. Das amerikanische Kolorit ist hier nur aufgesetzt, der gegenüber "Madame Butterfly" veränderte Tonfall der Musik beruht auf einem Stilwandel in Puccinis Komponieren: das Orchester "geht nicht mehr prinzipiell parallel mit den Singstimmen, entfaltet vielmehr ein intensives Eigenleben, ja ist sogar der eigentliche Träger des musikalischen Geschehens, während die Sänger überwiegend 'rezitativisch' dialogisieren". Damit gewinne Puccini den Anschluss an die zeitgenössische Opernmusik von Richard Strauß und Claude Debussy.

Nach "La Rondine" (1917), einem Abstecher in die Operette, schuf er drei Einakter, die er später unter dem Titel "Il Trittico" zusammenfasste. Ob die 350-Minuten-Einakter "Il Tabarro" ("Der Mantel"), "Suor Angelica" ("Schwester Angelika") und "Gianni Schicchi" überhaupt eine Einheit bildeten, fragt sich Schickling. Der gemeinsame Titel "Il Trittico" ("Das Triptychon") ist ihnen erst spät gegeben worden. Zwar wird die Einheit weder durch die Inhalte seiner drei Stücke noch durch eine gemeinsame kompositorische Motivik gestiftet, doch klingt Puccinis Musik in allen drei Opern stilistisch gleich, obwohl die erste, ein brutal-realistisches Pariser Flussschiffer-Drama der Gegenwart, die zweite, deren klösterlicher Stoff die "mystische" Ergänzung abgeben sollte, am Ende des 17. Jahrhunderts und die dritte, seine einzige komische Oper, am Ende des 13. Jahrhunderts spielt. "Gianni Schicchi", glänzend in der Ensemblekunst, von höchster kompositorischer Meisterschaft, voller Witz und dabei im Grunde tieftraurig wie alle großen Komödien der Weltliteratur, ist Puccinis größte Annäherung an den Gestus neuer Musikdramatik und zugleich die Summe seiner kompositorischen Technik, schreibt Schickling. Darüber konnte der Maestro nicht hinaus, und dieses Bewusstsein habe ihn in den letzten Lebensjahren gequält, als er sich um einen für ihn wiederum neuen Operntypus mühte, der ein ganz alter war: die "Große Oper", die er in der nicht mehr zu Ende gebrachten "Turandot" mit den Vokabeln seiner Musiksprache zu formulieren suchte.

Die Opern Puccinis wirken durch die von Verdi ausgehende dramatische Gestaltung des Stoffes, italienische Melodik verbindet sich in ihnen mit harmonischen und klanglichen Neuerungen des französischen Impressionismus (Quintenparallelen in "La Bohème", Ganztonleiter in "Tosca", impressionistische Dissonanzen in "Madame Butterfly") zur Schilderung der oft poetischen Atmosphäre. Schickling verweist auch auf die Kammer- und Kirchenmusik (Messe, 1888; Requiem, 1905), die Orgel- und Klavierwerke, die Chöre und Lieder, die Puccini komponiert hat.

In seinen letzten Lebensjahren war er von nervöser Lebensangst geschüttelt und diesem Dasein psychisch kaum noch gewachsen. Der nicht enden wollende Erste Weltkrieg lähmte ihn, selbst sein liebgewordenes Torre del Lago war ihm nun kein Idyll mehr. Der Einmarsch des Duce im Oktober 1922 in Rom hatte ihn mit Hoffnung erfüllt: "Möge er der sein, den wir brauchen". Als ihm Benito Mussolini im September 1924 den Titel eines "Senatore del Regno" vom König besorgte, quittierte er ihn gegenüber Freunden respektlos als "Sonatore del Regno" ("Musikant des Königreichs"). Eine vaterländische Hymne "Inno a Roma", die er 1919 als Gelegenheitswerk komponierte, erklärten die Faschisten drei Jahre später als eine ihrer offiziellen Hymnen. Als Puccini bei Mussolini eine Audienz erhielt, weil er ihn für den Plan eines nationalen Autorenfonds und eines staatlichen Opernhauses gewinnen wollte, wurde er höchst ungnädig entlassen.

Die Arbeit an seiner letzten Oper "Turandot" brach im Frühjahr 1924 ab, um die von "Eis umgürtete" Heldin, deren Herz er schmelzen lassen wollte, rang er bis zuletzt. Puccini litt an Kehlkopfkrebs, aber die Ärzte hielten eine Abhilfe durch eine Operation bzw. eine Radium-Bestrahlung für möglich. Doch der ärztliche Eingriff in Brüssel am 24. November 1924 beendete Puccinis menschliche Existenz, obwohl er danach noch fünf Tage am Leben blieb. "Turandot" wäre auch dann ein Fragment geblieben, wenn Puccini geheilt aus Brüssel zurückgekehrt wäre - da ist sich Schickling einigermaßen sicher. "Puccini war mit seinem Lebenswerk am Ende; er hätte neu beginnen müssen, um Turandots schreckliches Rätsel zu lösen, aber dafür war er zu alt. Sein Weg vom Rand der traditionellen italienischen Oper zu einem modernen Musiktheater mitten im 20. Jahrhundert war zu schmal geworden [...] Mit Puccinis Reise nach Brüssel endet definitiv eine Epoche: seine Epoche."


Titelbild

Dieter Schickling: Giacomo Puccini. Biografie. Erweiterte Neuausgabe.
Reclam Verlag, Stuttgart 2007.
463 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783150106488

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