Vergleichen, aber nicht gleichsetzten
Horst Möllers Sammelband zur Schwarzbuch-Debatte
Von Oliver Georgi
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas "Schwarzbuch des Kommunismus", das 1997 in Frankreich erschien und zum ersten Mal eine seriöse, historiographische Bestandsaufnahme der im Namen des Kommunismus verübten Verbrechen und Massenmorde veröffentlichte, gab den Anstoß zu einer der größten öffentlichen Debatten der letzten Jahre, die durch ihre gesamteuropäische Dimension den deutschen Historikerstreit der 80-er Jahre an Schärfe und Heftigkeit noch übertrifft.
Das Schwarzbuch, eine gemeinsame Veröffentlichung verschiedener französischer Historiker und Kommunismus-Spezialisten, präsentierte erstmalig Opferzahlen der kommunistischen Verbrechen und schloss darüber hinaus Artikel über die spezifischen Genozid-Formen in Ländern unter kommunistischer Herrschaft wie der Sowjetunion, China, Kambodscha oder Polen ein. Besonders das Vorwort des Herausgebers Stéphane Courtois, in dem dieser die Opferzahl des Kommunismus auf ca. 85 - 100 Millionen, die des Nationalsozialismus auf ca. 25 Millionen Tote schätzte und darin eine Vergleichbarkeit beider Herrschaftsregime erkannte, indem er dem "Rassengenozid" Hitlers den "Klassengenozid" Stalins gegenüberstellte, gab Anlass zu heftigsten Diskussionen in den Reihen der Historiker und Politiker. Stimmen wurden laut, die der Meinung waren, ein Vergleich der Verbrechen des Kommunismus mit den Schrecken des Nationalsozialismus sei fragwürdig, da die Herrschaft des Kommunismus 75 Jahre, die des Nationalsozialismus dagegen nur zwölf Jahre angedauert habe; darüber hinaus werde die Singularität des Holocaust als des schrecklichsten Verbrechens unserer Zeit untergraben und verharmlost. Andere, bevorzugt linke Historiker sind der Auffassung, die beiden Regime ließen sich gerade durch ihre unterschiedlichen Zielsetzungen nicht miteinander vergleichen: die massenhafte Vernichtung, die Auslöschung bestimmter Volksgruppen sei das ideologisch untermauerte, erklärte Ziel des Nationalsozialismus gewesen, der Kommunismus dagegen habe anfangs das Gute zum Ziel gehabt. Somit seien die verübten Verbrechen nicht ideologisch begründet, sondern als repressive Maßnahmen zur Erhaltung der staatlichen Macht notwendig gewesen. Schon anhand dieser verknappten, konträren Auffassungen wird die Komplexität der öffentlichen Diskussion, die so wichtig ist für eine Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit, deutlich.
Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, hat nun einen Sammelband vorgelegt, in dem er zahlreiche Zeitschriftenbeiträge, Interviews und Essays bekannter Historiker zu dieser Problematik vereint. Ein besonderes Augenmerk legt der Band auf die Reaktionen auf das "Schwarzbuch des Kommunismus" in verschiedenen Ländern. Speziell auf den französischen Historikerstreit und die Rezeption des Kompendiums in Italien und den osteuropäischen Ländern geht er in Beiträgen näher ein. Besonders interessant wird gerade die Textsammlung zum französischen Historikerstreit vor dem Hintergrund der noch heute gesellschaftlich wie politisch sehr bedeutsamen kommunistischen Bewegung Frankreichs, zeigt sie doch die dort immer noch weitverbreitete Weigerung, sich objektiv und ohne ideologische Färbung mit den historischen Tatsachen auseinander zu setzen. Dieses zeigt schon Lionel Jospins Aussage aus dem Jahre 1997, die Französische Kommunistische Partei habe nie irgendwelche Freiheiten beeinträchtigt, und er sei stolz darauf, die KPF in seiner Regierung vertreten zu sehen. Somit ermöglicht Möllers Band unter anderem die Einsicht in ein weites Spektrum der öffentlichen französischen Meinung.
Ebenfalls sehr aufschlussreich ist Jens Petersens Aufsatz über "Das Schwarzbuch des Kommunismus und Italiens Kultur", in dem er auf die, wie er meint, befreiende Wirkung des Schwarzbuches für die überfällige Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit in Italien eingeht. Ergänzt und komplettiert wird Möllers Sammelband durch Beiträge zur historischen wie politischen Rezeption des "Schwarzbuches des Kommunismus" bei Historikern und der intellektuellen Öffentlichkeit, die in ihrer Meinungsvielfalt eine wohltuende Bandbreite erreichen und den Band zu einer kritischen, nicht ideologisierenden Stimmensammlung machen. Weiterhin finden sich politiktheoretische Texte wie der Beitrag zum Totalitarismus von Alexander Schuller, die eine sinnvolle Hintergrundergänzung darstellen. Die Aufnahme eines Vortrages von Stéphane Courtois an seine Kritiker vor der Alfred Herrhausen-Gesellschaft für Internationalen Dialog in das Buch rundet darüber hinaus die Darstellung der Debatte ab.
Wichtig und bemerkenswert wie die Beiträge selbst ist die in den Texten immer wieder angesprochene Entstehungsgeschichte des Schwarzbuches, sagt sie doch viel über die Bereitschaft der politischen Gesellschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Kommunismus aus. Sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang das Interview mit Jean-Louis Margolin, Mitautor des Schwarzbuches, der einen der Streitpunkte zwischen Stéphane Courtois und sich selbst darlegt: Courtois sei im Gegensatz zu ihm der Auffassung, die Verbrechen gegen die Masse seien das entscheidende Markenzeichen des Kommunismus; dadurch sei dieser vergleichbar mit dem nationalsozialistischen Regime. Er vertrete dagegen die Auffassung, jene Verbrechen seien nicht Markenzeichen, sondern eine "einzelne Dimension der verschiedenen Repressionsstrategien", der Kommunismus als Ideologie sei davon zu unterscheiden.
Diese Fragestellung indes mag zwar historisch interessant und darüber hinaus bezeichnend für die in Möllers Band dargestellte öffentliche Diskussion sein, den Kern der Sache trifft sie meines Erachtens jedoch nicht, denn in beiden totalitären Regimes, sowohl im Nationalsozialismus als auch im Kommunismus/Stalinismus, wurden ungeheure Verbrechen verübt, die sich in Brutalität und Menschenverachtung kaum nachstanden. Angesichts dieser Opferzahlen darum zu streiten, ob der Terror nun als charakteristisch für den Kommunismus gelten könne oder nicht, oder ob er, im Unterschied zum Nationalsozialismus, "lediglich" ein Teil der Machterhaltungspolitik des Regimes und damit eine Repressionsmaßnahme war, ist unangemessen. Wie im Schwarzbuch des Kommunismus schon anklingt: es darf nicht darum gehen, die Toten beider Regime gegeneinander aufzurechnen; darüber hinaus darf der Respekt vor den Toten und die Fassungslosigkeit im Angesicht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nicht durch fragwürdige Vergleiche und Rechtfertigungsversuche relativiert werden. Die "Singularität von Auschwitz", die im Rahmen des Historikerstreites ja einst von Ernst Nolte bestritten wurde, wird durch diese Feststellung nicht in Frage gestellt, die Regime werden in ihrer Bösartigkeit nicht skaliert und hierarchiert. Treffend ist in dieser Hinsicht Joachim Käppners Aufsatz über die Vergleichbarkeit der Verbrechen von Kommunisten und Nationalsozialisten, in dem er die Schlussfolgerung zieht, diese ließen sich vielleicht vergleichen, nicht jedoch gleichsetzen. Es darf also keineswegs allein um die Aufrechnung der Toten der totalitären Regime und damit um eine zu simplifizierte Nebeneinanderstellung gehen, sondern es muss uns vielmehr darum zu tun sein, beide Systeme in ihren jeweiligen Strukturen und Auswirkungen zu bewerten. Und in diesem Sinne sind das Schwarzbuch des Kommunismus und der vorliegende Sammelband von Horst Möller sehr wichtig und notwendig, um eine Bewusstwerdung und damit auch Bewältigung der gerade in Hinblick auf die Verbrechen des Kommunismus so lange kaum beachteten Problematik zu ermöglichen und diese eminent wichtige Debatte erhellend weiterzuführen.
Horst Möller (Hg.): Der rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das "Schwarzbuch des Kommunismus".