Der siebte Tag des Sechstagekrieges

Die Folgen des Sechstagekrieges von 1967, in dessen Verlauf Israel die Westbank besetzte, sind noch heute zu spüren. Ein Interview mit Tom Segev über sein Buch "1967"

Von Ulrich GutmairRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Gutmair

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tom Segevs Buch "1967" beleuchtet anhand von Protokollen die Entscheidungsprozesse innerhalb der israelischen Regierung vor, während und kurz nach dem Sechstagekrieg. Der Band blieb monatelang in den israelischen Bestsellerlisten und sorgte für viele Diskussionen. Ein Gespräch mit dem Historiker und Journalisten über seine Forschungsergebnisse und die Folgen, die der Sechstagekrieg noch heute hat.

Ihr Buch über den Sechstagekrieg war ein großer Erfolg. Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Forschung?

Tom Segev: Erstens, dass es sich hier eigentlich um drei verschiedene Kriege handelte, einen mit Ägypten, einen mit Syrien und einen mit Jordanien, die nicht dieselbe Motivation hatten. Ich glaube, dass der Krieg mit Ägypten unvermeidlich war, und zwar nicht aus den diplomatischen Gründen, die man üblicherweise nennt, sondern weil die israelische Gesellschaft vor dem Sechstagekrieg aus einer ganzen Reihe von Gründen schon anderthalb Jahre lang sehr geschwächt war.

Als dann diese Krise ausbrach, wurde die Angst so groß, dass Israel eigentlich zu schwach war, diesen Krieg nicht zu beginnen. Wenn man die diplomatischen Abläufe betrachtet, sieht man: Hier war ein Vorschlag, da gab es einen Vorschlag, hier hätte man noch zwei Wochen warten können, hier verhandeln. Das war aber nicht möglich, weil die Gesellschaft in Panik geraten war, und zwar in eine Holocaust-Panik, die nicht etwa manipuliert war, sondern ganz echt.

Ich habe ungefähr 500 Briefe gesammelt, die Privatleute aus Israel an Freunde im Ausland geschickt haben. Man sieht da eine wirkliche Holocaustangst. Aus diesem psychologischen Grund war der Krieg unvermeidlich, auch wenn die Gefahr, die aus Ägypten drohte, durch die Bombardierung der ägyptischen Luftflotte innerhalb von 80 Minuten beseitigt war.

Daher glaube ich, dass die Eroberung der Westbank eine andere Erklärung braucht. Sie beruht in großem Maße auf einer Sehnsucht nach dem ganzen Land und nach den heiligen Plätzen. Die Möglichkeit hat sich geboten, weil der jordanische König Hussein Jerusalem angegriffen hat, das ist schon wahr.

Aber interessanterweise, und das ist eine der neuen Erkenntnisse in diesem Buch, hat Israel ungefähr sechs Monate vor dem Krieg etwas getan, was es nur selten tut: Es hat nachgedacht. Der Mossad, die militärische Aufklärung und das Außenministerium haben sich zusammengesetzt und sich überlegt, was eigentlich passiert, wenn König Hussein einmal abgesetzt wird, stirbt, oder ermordet wird: Gibt es Umstände, die uns zwingen könnten, die Westbank zu erobern? Und wenn wir sie erobern, was machen wir dann damit? Wir können sie wieder zurückgeben, wir können sie annektieren, wir können einen palästinensischen Staat bilden.

Alles ist dort sehr genau analysiert worden, und man kam zu dem Schluss, dass es keineswegs im Interesse Israels sei, die Westbank zu erobern. Der Grund ist die palästinensische Bevölkerung, die dort lebt.

Warum wurde die Westbank dennoch erobert und besetzt?

Sechs Monate später waren all diese Papiere, jegliche Rationalität, alle Interessen vergessen. Mein Buch basiert auf sehr vielen Regierungsprotokollen, die ich von Privatleuten bekommen habe. In den letzten Tagen sind jedoch einige offizielle Protokolle erschienen, weil das Staatsarchiv beschlossen hat, sie aufgrund des allgemeinen Interesses freizugeben. Wenn man sich nun etwa die Sitzung ansieht, auf der die Minister beschließen, Jerusalem zu erobern, zeigt sich folgendes Bild: Nicht einer von ihnen stellt die Frage, warum ist das eigentlich in unserem Interesse? Das könnte man doch erwarten von einem rationalen decision making.

Doch diese Frage stellt sich gar nicht, das ist selbstverständlich, diese Sehnsucht tragen sie in ihrem Herzen. Sie wollen Jerusalem und das wirkliche Jerusalem ist Ost-Jerusalem. Warum aber ist Ost-Jerusalem wirklicher? Warum ist das muslimische Minarett, das dort zu sehen ist, eigentlich ein Symbol des Zionismus geworden? Wir nennen es den Davidsturm, der hat mit David überhaupt nichts zu tun.

Das alles spielt sich also im Bereich der Mythen und Symbole ab. Man versteht unter diesen Umständen auch, warum sie die Westbank nicht sofort zurückgegeben haben: Die Eroberung der Westbank hat eine solche Euphorie hervorgerufen, die man allerdings nur verstehen kann, wenn man die Angst vor dem Krieg versteht. Beide Gefühle waren unberechtigt, aber rational nicht zu beherrschen.

Ich glaube nicht, dass sie damals versäumt haben, Frieden zu schließen. Ich habe viele Protokolle in meinem Buch zitiert über Gespräche mit König Hussein. Er hätte Frieden gemacht mit Israel, aber er wollte Jerusalem zurückbekommen. Damals hat man aber beschlossen, dass es zwei Gebiete gibt, die man den Arabern niemals zurückgeben werde: Jerusalem und Gaza, und beide hatten dieselbe Wertigkeit. Das war schon damals Wahnsinn und man hat das schon damals wissen können - und sie haben es gewusst. Das ist für einen Psychologen vielleicht besser zu verstehen als für einen Historiker.

Das Problem der Palästinenser konnte auf Dauer aber doch nicht ignoriert werden?

Das Interessante ist, wie oft und in welch schmerzlichen Diskussionen sie dennoch versucht haben, das Problem der Palästinenser zu lösen, die man damals noch vor allem als Flüchtlinge begriffen hat.

Ein Ausdruck des eben angesprochenen Wahnsinns ist, dass beispielsweise der damalige Ministerpräsident Levi Eschkol ernsthaft gedacht hat, man könne die Palästinenser im Irak ansiedeln und damit das Problem lösen. Er dachte, das sei sehr logisch: Wir haben 100.000 Juden aus dem Irak bei uns aufgenommen, sie können problemlos 200.000 Palästinenser bei sich aufnehmen, und alles ist gut. Sie waren vor und nach dem Krieg völlig wahnsinnig.

Ich glaube also nicht, dass sie es versäumt haben, Frieden zu schließen. Sie haben versäumt, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge zu lösen. Es gab den Vorschlag, die Flüchtlinge, die seit 19 Jahren in Gaza lebten, von dort in die Westbank umzusiedeln. Das wäre kein dramatischer Transfer gewesen, doch dann traten sofort die Nationalisten auf den Plan, Begin, Alon und auch Dayan, und sagten: Die Westbank muss von Juden besiedelt werden. Das Resultat war, dass nichts geschah, und so leben wir heute noch am siebten Tag des Sechstagekrieges, ohne dass die wirklichen Probleme gelöst worden wären.

Ich bin noch aufgewachsen unter dem Eindruck, dass der große Feind Ägypten ist. Das historische Problem sind aber immer die Palästinenser gewesen. Und es gab schon damals viele Versuche, das Problem anzugehen. Rabin etwa hat sofort nach Ende des Krieges gefordert, einen palästinensischen Staat zu errichten. Es gab viele Gespräche mit den Palästinensern, die in meinem Buch dokumentiert sind.

Das hat nicht sehr weit geführt, unter anderem weil diese sich selbst uneins waren. Sie hatten außerdem Angst, dass sie heute mit uns einen Vertrag mache, nach unserem Rückzug aber schon morgen die Jordanier wiederkämen. Im Zentrum stand aber immer wieder das Problem Jerusalem, für das wir bis heute keine Lösung gefunden haben. Und dann hat natürlich schon ganz am Anfang die Siedlungspolitik angefangen, die eine Weiterführung des ursprünglichen zionistischen Drangs war, zu besiedeln, was man besiedeln kann.

Sehr schnell hat dann aber auch die Diskussion begonnen, die wir heute noch führen. Seit Dezember 1967 hat eigentlich niemand etwas Neues gesagt. Alle Möglichkeiten liegen auf dem Tisch und sind diskutiert worden. Es gibt immer mehr Israelis, die 1967 nicht mehr als Jahr der Erlösung betrachten, sondern als Jahr, das die Existenz Israels zumindest nicht weniger problematisch gemacht hat.

Welche Quellen haben Sie für Ihr Buch genutzt?

Es beruht vor allem auf Protokollen und Briefen, die vorher nie veröffentlicht wurden. Auch jetzt ist lediglich ein Teil der Regierungsprotokolle zugänglich. Ich habe allerdings anhand der neuen Dokumente feststellen können, dass ich mich nicht geirrt hatte.

In Israel haben Regierungsbeamte die sehr lobenswerte Eigenschaft, geheime Dokumente mit nach Hause zu nehmen. Der israelische Historiker wird daher dadurch geprüft, ob er die Fähigkeit hat, die richtigen Witwen zu finden. Ich war schon mitten an der Arbeit am Buch, als eine Nachbarin hier im Haus gestorben ist. Sie war die Witwe des Generaldirektors des Büros des Präsidenten Herzog. Ich habe ihre Tochter auf der Straße getroffen und sie hat mich gefragt: Hast du Lust, dir die Gespräche anzusehen, die mein Vater mit König Hussein geführt hat?

Dann haben wir gesehen, dass er bei allen Regierungssitzungen teilgenommen und ein eigenes Protokoll geschrieben hatte. Das war also eine sehr große, wertvolle Sammlung von Regierungsprotokollen, die mir die Tochter überlassen hat. Mein Buch beruht zu einem großen Teil auf ihnen. Es ist hier sehr gut angekommen und war ein halbes Jahr auf der Bestsellerliste.

In seinen "Erinnerungen" berichtet Franz Josef Strauß davon, wie Mosche Dayan ihm in der Münchner Staatskanzlei folgende vier Punkte zur Lösung des Konflikts genannt hat: Erstens, ein Abkommen schließen, zweitens die Okkupation der Westbank beenden, drittens die Besatzungspolitik beenden und viertens die Siedlungspolitik beenden.

Dayan hatte genug Zeit, diese Politik zu machen. Aber das war nicht seine Auffassung, er hat überhaupt ständig seine Positionen gewechselt. Dayan hat nicht geglaubt, dass es möglich ist, das Palästinenser-Problem loszuwerden. Er dachte vielmehr, es sei möglich, sie dazu zu überreden, die israelische Präsenz und Herrschaft zu akzeptieren, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Aus dieser kolonialistischen Auffassung entstand die Idee der "wohlwollenden Besatzung".

Er hat nicht eingesehen, dass es hier dieselben nationalen Bestrebungen wie in Israel gibt. Das war ein bisschen überheblich, aber nicht feindselig. Dayan war der wahre Orientalist, er hatte furchtbar romantische Auffassungen vom Land, von der Landwirtschaft, vom arabischen Essen, von der Folklore. Er hat die Araber auch ein bisschen darum beneidet, dass sie wirklich hierher gehören. Er war ein Sohn von Immigranten und hat die Araber ganz romantisch als Teil des Landes und Teil der Erde gesehen.

Strauß hat als deutscher Verteidigungsminister in einer geheimen Aktion dafür gesorgt, dass Israel 1958 Waffen und Material in erheblichem Umfang von der Bundeswehr erhalten hat. Diese Militärhilfe hat möglicherweise mit den Ausschlag gegeben für die israelische Überlegenheit im Jahr 1967.

Auch Schimon Peres berichtet in seinen Memoiren von seiner Reise ins winterliche Rott am Inn. Strauß hatte viele Verbindungen mit dem israelischen Militär. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind schon sehr früh sehr normal geworden. Beide Länder haben das nicht zugeben wollen. Es ist in der Geschichte der Diplomatie ein sehr interessanter Fall, wie die Realität sehr anders ist als der Anschein. Peres war und ist ein sehr pragmatischer, unideologischer Mann, und Strauß war es wahrscheinlich auch.

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview erschien zuerst in der Netzeitung vom 26.01.2006. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Tom Segev (Hg.): 1967. Israels zweite Geburt.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Helmut Dierlamm, Hans Freundl, Enrico Heinemann.
Siedler Verlag, München 2007.
796 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783886807673

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