Vom Heimat-Roman zur Auschwitz-Novelle

Arno Surminski erweitert sein Repertoire

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Darf so einer das? Kann er das? Arno Surminski hat eine Novelle über Auschwitz geschrieben, nachdem er in den letzten dreißig Jahren mehrere Heimat- und Vertriebenen-Romane publizierte. Er wurde 1934 im ehemaligen Ostpreußen geboren und wuchs nach der Vertreibung durch die Rote Armee in Schleswig-Holstein auf. Seine Bücher haben Titel wie "Kudenow oder An fremden Wassern weinen" (1978), "Fremdes Land oder Als die Freiheit noch zu haben war" (1980), "Grunowen oder Das vergangene Leben" (1989), wurden bei Ullstein verlegt und in den 1980ern hin und wieder vom ZDF verfilmt. In ihnen geht es um die Vertreibung selbst, um die Probleme der Vertriebenen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, um das Leben in den Nachkriegsjahren allgemein, um Liebe über Regimegrenzen hinweg, um die Suche nach dem in der Sowjetunion gefallenen Vater und so fort.

Seine Romane und Erzählungen gelten als sentimentale Erinnerungen an die Heimat als Landschaft und Gegend, werden aber als politisch harmlos eingeschätzt. Für "Sommer vierundvierzig oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen" (1997) erhielt er 2004 den "Friedrich Schiedel-Literaturpreis" der Stadt Würzburg. Hier wurde er dafür gelobt, dass es ihm gelungen sei, Ostpreußen "als ein verwundetes Land ohne Rachegedanken in der Erinnerung zu bewahren." In dem durchwachsenen Sammelband "Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948" (Ellert & Richter, 2004) ruft er zu Wachsamkeit auf, damit der von ihm begrüßte neue, stärker gewordene Diskurs über deutsche Vertriebene sich nicht "in trüben, rechtsradikalen Seitenarmen verliert".

In der vorliegenden Novelle hat er eine wahre Begebenheit verarbeitet. Der Ornithologe Günther Niethammer kam 1940 / 41 und im Sommer 1942 als SS-Mann nach Auschwitz. Er erwirkte, dass er vom Dienst freigestellt wurde, um die Vogelwelt in der Gegend um Auschwitz zu erkunden. Seine Forschungsergebnisse publizierte er als wissenschaftlichen Aufsatz mit dem Titel "Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz" in Band 52 (1941) der Fachzeitschrift "Annalen des Naturhistorischen Museums in Wien". Ausgehend von diesen Tatsachen macht Surminski aus Niethammer Grote, und stellt ihm einen Häftling, Marek Rogalski, als Helfer zur Seite. Zusammen durchstreifen sie die Gegend und zählen Vögel.

Surminski hat schon mehrere tausend Seiten den Leiden der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, in dieser Novelle jedoch verhindert er, dass Geschehen und Beteiligte Gestalt annehmen. Von dem Umfeld des ihn inspirierenden konkreten historischen Falls hat er sich schon immer weit entfernt. Bereits auf den ersten drei Seiten konzentriert er sich auf eine ganz bestimmte Semantik, mit der er den Ton für das Buch setzt. Krakau als die "alte Königsstadt am Ufer der Weichsel" zu umschreiben, das klingt zunächst nur nach Gutsherrenprosa, die die Allgemeinbildung aktiviert und mit Ledereinband ins Kaminzimmer passt. Aber mit diesem Ton kann man auch all dem aus dem Weg gehen, was irgendwie an Tat und Täter erinnert, so beispielsweise wenn man statt "Auschwitz" der "Ort zwischen Sola und Weichsel" sagt. Das sprachliche Ornament simuliert gediegene Prosa, dient aber nur der Verschleierung. Wo Landschaft herrscht und Flüsse ziehen, da bestimmt ein unbestimmtes Schicksal die Wege der Menschen, da wird aus Verbrechen ein Ungemach. Marek wurde aufgrund von "kriegerischen Umständen in ein Gefangenenlager gebracht", nicht von Deutschen, die einen Krieg gegen Polen begannen, für den sie sich lange gerüstet hatten und den sie dann als Vernichtungsfeldzug gegen die polnische Intelligenz und die Juden führten. Den Umständen wird in den nächsten Zeilen mit "diesen Umständen" dann auch noch der Krieg abgenommen und sukzessive treiben sie ins Sagenhafte ab, von dem man nur noch gehört hat, wenn sie zu den "erwähnten Umständen" werden. ,Der Krieg' ist bei Surminski das Subjekt des Geschehens: er ,tobt sich aus' und ,weitet sich aus'. Manchmal gibt der Krieg das Szepter aber auch an ,die Welt' ab, die laut Surminski "im September 39 [...] in Polen [...] untergehen wollte". Durch den Wahl des Schauplatzes dieses Welt-Suizids wird der Krieg schließlich zu einem polnischen, der im "polnischen Unglücksjahr 39" begann. Zwar lässt Surminksi selbst Marek Einspruch gegen ebendiese entpersönlichende Redeweise bei Grote erheben, nur bei ihm selber fällt sie ihm nicht auf.

Was aber geschieht den Menschen in diesen ,Umständen'? Menschen, die wie Marek in ein Konzentrations- und Vernichtungslager kamen, werden "in Verwahrung genommen", etwa bei einer "Aktion zur Einsammlung polnischer Intellektueller". Wer aber führt diese Niedlichkeiten durch? Man wird es nie erfahren, weil die Täter das Personalpronomen der dritten Person Plural nie verlassen: "sie" haben ein Lager errichtet, "sie" haben Häftlinge "ins Lager überstellt". Es müssen Deutsche sein, denn auch Grote ist "einer von denen", den "Uniformierten", aber Surminski gibt gut acht, dass kein Tropfen Blut auf Deutsche oder Deutschland zurückfällt. Niethammer war SS-Obersturmbannführer, was in der SS-Hierarchie in der oberen Mitte liegt, Grote hingegen ist stets nur "Wachmann", als wäre er ein Objektschützer aus dem Security-Gewerbe oder allenfalls ein Gefängniswärter. Und schließlich wird aus Niethammer, der sich um die Aufnahme bei der SS bemühen musste, nur der Grote, "den der Krieg in diese Uniform und in dieses Lager verschlagen hatte" und das auch noch "zufällig".

Darüber hinaus nutzt Surminski natürlich die Symbolik von Vögeln: Freiheit und Sehnsucht. Sie sind im Gegensatz zu den Häftlingen nicht an Zäune gebunden. Er nutzt - wie schon im Titel - auch den sich anbietenden und Aufmerksamkeit heischenden Gegensatz von beschaulicher Natur und Tod, von feinfühligem Interesse für Vögel einerseits und Morden andererseits. Aber wozu? Um damit etwas über die Korruptheit von Naturschönheit zu sagen? Die Vögel, die Marek beneidet, stören sich nicht an Tod und Vernichtung. "Flötend" sitzen die Amseln "auf dem Galgen" und "betrachten" den Mann, "der unter ihnen hängt". Die Scharen von Krähen profitieren als Aasvögel von den Leichen. Oder möchte er etwas über das Gemüt der Täter sagen? Menschen werden getötet, zu Vögeln aber ist man gut, menschliche Leichen werden verbrannt, tote Vögel aber präpariert. Grote möchte das Gebiet erforschen, um "diesen weißen Fleck auf der deutschen Landkarte mit Leben zu erfüllen". Das sind gelungene Stellen, andere Einfühlungen in die Täter-Seelen misslingen, wie unter anderem die, dass die SS-Männer freundlicher zu den Häftlingen werden, wenn bessere Nachrichten von der Front kommen. So menschlich verhalten sich vielleicht andere, Deutsche hingegen - Überlebendenberichte können hier erhellend sein - werden auch von Hochstimmung zu Misshandlungen angestachelt. Man merkt fast nichts davon, dass die Handlung in Auschwitz stattfindet. Auch wenn es Marek als polnischer und nicht-jüdischer Häftling besser erging als den jüdischen, und auch wenn er als Helfer eines SS-Mannes privilegiert war, so ist Surminskis Auschwitz doch gefährlich harmlos dargestellt. "Die größte Sorge bereitete ihm die Zeit" und "unerbittlich" ist hier nur "der Zeiger der Lageruhr", der "seine Runden" dreht und "ihn älter werden" lässt. Bei solchen Sorgen kann jeder wohlig mitseufzen.

Die Streifzüge durch die Natur nutzt Surminski für kleine Gespräche, die auch dazu dienen, die verborgene empfindsame Seele der Deutschen durch die Augen ihrer Opfer zu entdecken. Marek muss mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass Grote "nicht so" ist "wie die anderen", dass er "lacht wie ein normaler Mensch" und dass auch er Frau und Kinder hat. Da schau her. So einfach ist es nämlich nicht mit den Deutschen. Seiner Verlobten schreibt Marek, dass die "Gottlosigkeit" an den Verbrechen der Deutschen schuld sei. "Im Grunde" sei Grote "ein anständiger Mensch". Der Meinung seines Mithäftlings Jerzy, dass man sie SS hassen müsse, mag er sich deswegen nicht anschließen und entscheidet, Grote nicht zu töten, um fliehen zu können. Das Opfer hat nur eine Chance, wenn es vor der Moral dieser Geschichte bestehen will: es reicht nicht, nur aus besseren Gründen schlecht zu handeln als der Täter, es muss nicht nur besser sein als er, sondern makellos rein. Es muss seinen Opfergang demütig durchstehen. Denn wer einen SS-Obersturmbannführer umbringt, der ist "wie die, die durch die Welt marschieren und ohne Grund töten". Nicht die Täter sind schuld, denn, so betet er Grote nach, "es liegt nur an den Befehlen. Was der braune Götze befiehlt, setzt sich fort in vielen Unterbefehlen, am Ende des schrecklichen Wortes liegen nur Massengräber". Wörter töten und die Umstände korrumpieren alle: das Lager "macht alle, die damit zu tun haben, schlecht und schmutzig"; und das Lager scheint ein perpetuum mobile zu sein. Leidet nicht auch Grote unter dem Lager, weswegen er, "um Auschwitz zu ertragen, [...] sich aufs Studium der Vögel verlegt" hat?

Nachdem Surminski die Deutschen unter Missbrauch ihrer Opfer rehabilitiert hat, ist Mareks Klage, dass Deutsche sich nicht entschuldigen könnten, nur noch dazu da, diesen einzigen Makel umso strahlender zu zerstäuben - denn wer wollte das nach der Vergangenheitspolitik der letzten zwanzig Jahre noch behaupten?


Titelbild

Arno Surminski: Die Vogelwelt von Auschwitz. Novelle.
Buchverlage LangenMüllerHerbig, München 2008.
191 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783784431260

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