"Es ist mir ein Rätsel"

Ein Gespräch mit Edgar Hilsenrath über Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten"

Von Volker DittrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Dittrich

Edgar, wir sprechen über Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Du hast die 1.400 Seiten gelesen. Worum geht es in diesem Roman?

Das Buch ist eigentlich gar kein Roman, sondern eine Reportage, eine Dokumentation. Eine Art Sachbuch. Littell schildert den Vernichtungszug im Osten, vor allem die Vernichtung der Juden. Es ist schon beeindruckend, wie gut informiert der Mann ist. Es ist alles sehr genau beschrieben und auch die Dienstgrade der SS und der ganzen Naziorganisation, sehr genau recherchiert. Das ist schon bewundernswert.

Wie geht er dramaturgisch vor? Es ist ja ein Roman!

Es ist eigentlich eine Art Reisebericht. Er geht von Station zu Station in Russland, beschreibt haargenau, wie die Massenerschießungen stattfinden. Besonders beeindruckt hat mich Kiew und Babi Jar, wo er die Vernichtung von 35.000 Juden beschreibt. Es ist eine schreckliche Lektüre, aber es ist trotzdem streckenweise sehr spannend.

Warum schreibt Deiner Meinung nach ein junger Jude der dritten Generation darüber, warum nimmt er sich solch einem Thema an, warum recherchiert er so genau und versucht es, in einem Roman zu verarbeiten?

Das weiß ich auch nicht. Es ist mir ein Rätsel. Ich nehme an, dass er ein verhinderter Schriftsteller war und dass ihn das Thema interessiert hat. Er hat sich deshalb da hineingekniet und alles genau recherchiert.

Immer wieder werden Parallelen zwischen der Romanfigur Max Aue und dem Leben von Jonathan Littel gezogen. Hat Littell versucht, ein alter ego zu finden, um zu simulieren, ob er selbst auch Max Aue hätte sein können?

Also, es ist schon sehr erstaunlich. Der SS-Mann aus "Die Wohlgesinnten" ist homosexuell und Littell beschreibt auch homosexuelle Szenen, der SS-Mann spielt immer den weiblichen Part zwischen den zwei Männern und lässt sich in den Arsch ficken. Er beschreibt das sehr genau. Es ist interessant, aber auch Ekel erregend.

Was ist neu an dem Buch von Jonathan Littell, dass die deutsche Öffentlichkeit, und zuvor noch mehr die französische, eine solche Debatte in einem solchen Ausmaß über das Buch führt?

Das Buch ist unglaublich lanciert worden. Und es wird ja immer wieder behauptet, dass es der erste Bericht aus der Perspektive eines Henkers ist. Das stimmt so nicht. Mein Roman "Der Nazi & der Friseur" ist ja schon 1971 in Amerika veröffentlicht worden und dann in den siebziger Jahren in England, Frankreich, Italien und 1977 auch in Deutschland. In "Der Nazi & der Friseur" habe ich die Massenvernichtungen aus der Sicht eines Täters beschrieben.

Wo liegen die Ähnlichkeiten zwischen den Protagonisten, Max Aue und Max Schulz?

Es gibt überhaupt keine. Max Aue ist eine ganz realistische Gestalt. Man hat immer das Gefühl, es sei eine Autobiografie. Während Max Schulz eine fiktive Person ist. Ich habe eine Groteske geschrieben und Littell hat einen ganz realistischen Roman geschrieben.

Max Aue ist ein Intellektueller und Max Schulz aus Deinem Roman "Der Nazi & der Friseur" kommt aus der Unterschicht. Max Aue ist reflektiert. Max Schulz reflektiert auch, aber nicht als Intellektueller.

Max Schulz ist ein verhinderter Intellektueller. Er ist ja Friseur von Beruf, beschäftigt sich aber trotzdem mit philosophischen Gedanken, reflektiert auch philosophisch. Max Aue ist ein kalter Intellektueller, er analysiert nicht die Verbrechen, sondern er berichtet einfach über den Massenmord.

Wie beurteilst Du den Roman aus rein literarischer Sicht?

Also, aus rein literarischer Sicht ist er eigentlich minderwertig, weil es ein Bericht ist und kein Roman.

Kürzlich erzähltest Du mir, am Ende habe der Roman sehr beeindruckende literarische Passagen?

Ja, das kommt überraschend. Am Ende des Buches beschreibt er erotische Fantasien und die sind sehr literarisch. Die finde ich sehr gut.

Wir beide sind der Ansicht, dass die Auseinandersetzung über den Mord an den europäischen Juden weiterhin wichtig und nötig ist. Ist Littells Buch in diesem Sinne ein wichtiges Buch in der heutigen Zeit?

Es ist insofern wichtig, als dass das Buch über die einzelnen Hinrichtungen und Massenerschießungen informiert. Aber Littells Protagonist reflektiert nicht über das Verbrechen, weil er ja hinter den Verbrechen steht. Er hält die Vernichtung der Juden für eine notwendige Angelegenheit der nationalsozialistischen Idee.

Also, Littells Max Aue reflektiert nicht, und er ist auch nicht wie Max Schulz jemand mit dem man sich identifizieren kann? Oder gelingt es Littell genauso, wie es Dir mit "Der Nazi & der Friseur" gelungen ist, dass man sich als Leser zwar nicht identifizieren will, sich aber dabei ertappt, es trotzdem zu tun?

Man identifiziert sich im negativen Sinne. Max Aue ist ja die Hauptperson. Es bietet sich an, dass man sich mit ihm identifiziert, aber man ist sich natürlich bewusst, dass es sich um einen Mörder handelt und lehnt ihn gleichzeitig ab.

Jan Süselbeck schreibt zu der Debatte um das Buch von Jonathan Littell in einem Artikel in der KONKRET, dass "Die Wohlgesinnten" als literarisches Phänomen mehr über das Geschichtsbild unserer Zeit aussagt, als über den Nationalsozialismus selbst. Siehst Du das auch so?

Also, Littell analysiert ja nicht den Nationalsozialismus, sondern nur die Judenvernichtung, die Teil des Nationalsozialismus ist und auch Teil unseres Geschichtsbildes. Zumindest ich habe alles gewusst, was ich in dem Buch gelesen habe. Für mich war das absolut nichts Neues. Nur in dieser detailgetreuen Schilderung ist es neu.

Als Du das Buch gelesen hast, hattest Du da den Eindruck, dass Du es wirklich mit den Augen eines SS-Mannes liest. Hat Dich das Buch deshalb gefesselt, so dass Du wirklich die ganzen 1.400 Seiten gelesen hast?

Die Lektüre war sehr schwierig, das Buch ist viel zu lang. Man hätte es um 60 Prozent kürzen können. Vieles ist ermüdend. Es war schon wegen der Länge kein Vergnügen, es zu lesen.

Warum hast Du es zu Ende gelesen? Weil alle darüber sprechen oder weil Du von einigen Medien dazu aufgefordert worden bist, auf das Buch zu reagieren?

Das war eigentlich der Hauptgrund. Ich hätte es mir sonst nicht angetan, diese 1.400 Seiten zu lesen. Ich habe es gelesen, weil ich dazu aufgefordert worden bin, das Buch "Die Wohlgesinnten" und meinem Roman "Der Nazi & der Friseur" zu vergleichen und dazu Stellung zu nehmen.

Und? Zu welchem Ergebnis kommst Du?

Mein Buch ist eine literarische Groteske, die sich mit Menschen beschäftigt, mit einzelnen Personen und auch die humoristische Seite der ganzen Sache sieht. Ich beschreibe ja auch nicht den Holocaust, bei mir kommt der Holocaust nur im Dialog vor. Max Schulz erzählt, zum Beispiel in der Szene mit Frau Holle, dass er die Leute erschossen hat. Aber man sieht es nicht. Bei Littell ist es die direkte Schilderung der Massenvernichtung.

Für mich ist die Figur Max Schulz aus "Der Nazi & der Friseur" deshalb besonders beeindruckend, weil man als Leser immer der Gefahr unterliegt, sich mit diesem SS-Mann und Massenmörder, der plötzlich die Identität seines Jugendfreundes Itzig Finkelstein annimmt, zu identifizieren, auch wenn man sich dagegen wehrt. Auf diese Weise machst Du dem Leser sehr deutlich, dass man auch auf der anderen Seite hätte stehen können.

Natürlich, das stimmt. Weil ich ins Persönliche reingehe. Max Schulz ist ja eine Person mit der man mitfühlt und mitdenkt, während es bei Max Aue eine reine Reportage ist. Man hat kaum eine Beziehung zu seiner Person, nur zur Geschichte.

Ich habe den Eindruck, dass bei Jonathan Littell etwas Masochistisches mitspielt, allein die Tatsache, dass er einen solchen Roman als junger Jude schreibt.

Ja, wenn man so will, ist es ein masochistisches Buch.

Könntest Du Dir vorstellen, dass Littells Buch auch ein Überlebender des Holocaust hätte schreiben können? Hättest Du das Buch schreiben können?

Also, ich schon, weil ich dem Thema sehr distanziert gegenüber stehe. Ich kann dazu aus jedem Blickwinkel schreiben. Also, man kann es schon!