"Der Mensch ist nur eine Hälfte des Menschen"

Bertin Nyemb über Interkulturalität im Werk Thomas Manns

Von Tobias KurwinkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Kurwinkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Grunde genommen seien alle Themen, die im Werk Thomas Manns zu finden seien, bereits behandelt, erklärte Helmut Koopmann im Jahr 2003. Wer es trotzdem wagte, "ein Thema erneut anzugehen", so der bekannte Thomas-Mann-Forscher weiter, "dem muß schon etwas Neues dazu eingefallen sein", "dem muß sich [...] schon etwas ganz Besonderes aufs Papier ergießen."

Bertin Nyemb gehört zum Kreis derer, die versuchen, dieses Neue und Besondere im umfangreichem Œuvre des Nobelpreisträgers zu beschreiben, zu untersuchen. In seiner Dissertationsschrift geht es um "Interkulturalität im Werk Thomas Manns" um die Frage, ob der Lübecker Schriftsteller "sich für oder gegen Kulturmischungen bzw. -begegnungen" ausgesprochen hat. Anhand von Textanalysen will der Bremer Germanist nachweisen, dass "der Dichter für ein Neben- und Miteinander von Menschen verschiedener ethnischer Herkunft und Kulturen eintritt [...]." Zwei Erzählungen und zwei Romane - "Der Wille zum Glück" und "Tonio Kröger", "Buddenbrooks" und "Königliche Hoheit" - hat Nyemb für die Analysen ausgewählt, die "dem Leser eine Reihe von interkulturellen Konstellationen" vorführen sollen.

Der erste Teil der Arbeit widmet sich der "Dialektik von Eigenem und Anderem", nimmt Begriffsklärungen und -einordnungen zu kulturtheoretischen Kategorien vor, um über diese ein Programm der Interkulturalität zu entwickeln. Bertin Nyemb, der in seiner Heimat Kamerun König des kleinen Dorfes Making-Ville ist und sich an der Universität Bremen für ausländische Studierende engagiert, stellt diesem Programm ein Sprichwort seiner Heimat voran, nach dem der "Mensch nur eine Hälfte des Menschen ist": Zu einer vollständigen Entfaltung des Selbst bedarf es demnach einer wirklichen Interaktion mit dem Anderen. Interkulturalität meint in diesem Kontext das "Bemühen um einen Dialog auf gleicher Augenhöhe mit dem primären Ziel, den eigenen Horizont zu erweitern." In Thomas Manns Werk sieht er sowohl die "unausweichlich auftretenden Spannungen und Probleme" interkulturellen Handelns als auch die "gegenseitige[..] Bereicherung der beteiligten Akteure".

Mit der Textanalyse von Thomas Manns frühen Erzählung "Der Wille zum Glück", die von einem schwer herzkranken jungen Künstler handelt, der sich in eine schöne und reiche Jüdin verliebt, diese schließlich heiratet - und in der Hochzeitsnacht stirbt, beginnt der zweite Teil der Arbeit. Die Ursache für die Krankheit Paolo Hofmanns, so der Name des Protagonisten, sieht Nyemb in der "Zerrissenheit" der Figur zwischen Norden und Süden, zwischen bürgerlich-protestantischem Leistungsethos und schönheitstrunkener Unproduktivität: Die kulturelle Divergenz lässt das Finden einer integeren Identität nicht zu - und führt letztlich in den Tod.

Das "blaßblaue Geäder" und das "schmale Gesichtchen" des Protagonisten "mit gelblicher Gesichtsfarbe" sprechen jedoch eine andere Sprache, verweisen auf die Motivik der Décadence, deren "Chronist und Erläuterer" Thomas Mann als "Liebhaber des Pathologischen und des Todes" nach Selbstauskunft in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" war. Hofmann ist krank, weil er Künstler ist und ist Künstler, weil er krank ist. Diese Genialisierung der Krankheit ist wie die "Sympathie mit dem Tode" ein prominenter Topos im Fin de Siècle und sorgt mit Motiven wie Künstlichkeit und Naturfeindschaft, Lebensferne oder Welthass dafür, dass der Décadent nicht jenem "Ennui" Charles Baudelaires verfällt, der im "Gähnen die Welt verschlingt". Hofmann stirbt - und Nyemb schreibt der interkulturellen Verbindung, die er in der Hochzeit des "magere[n] Bürschchen[s]" und der schönen Jüdin erkennt, Triumph zu. "Ambivalent" nennt er schließlich das Verhältnis Manns zur Interkulturalität in dieser Erzählung - und verkennt das für das Verständnis des Frühwerks so wichtige literarhistorische Wissen um Décadence und Fin de Siècle.

Was Nyemb an Ambivalenz in "Der Wille zum Glück" erkennt, konstatiert er auch für die anderen Werke: So exemplifiziere Thomas Mann den "Problemkreis des Interkulturellen" anhand der zum Scheitern verurteilten Ehen Tonys mit dem Juden Benedix Grünlich oder dem Bayern Alois Permaneder in den "Buddenbrooks", um an der "Neigungsehe" zwischen dem Bayern Niederpaur und der Hamburgerin Eva Ewers zu demonstrieren, dass "sich Norddeutsche auch in Bayern geborgen und heimisch fühlen können."

Tonio Kröger ist, so Nyemb, gar ein "gemischte[r] Charakter", der "überall zu Hause" ist, wenngleich er auch zuvor einen "langwierigen Selbstfindungsprozeß" durchleben musste. Einen derartigen Prozess erlebt der existentielle Außenseiter mit Sicherheit, doch Art und Weise sowie Ausgang dessen erscheint - gerade auch mit Blick auf die Biografie Thomas Manns, die Nyemb immer wieder mit einbezieht - fragwürdig.

Wenngleich das Deutungsmuster des Interkulturellen aufgrund der einseitigen Fokussierung, aufgrund des Über- und Nachschreibens von etablierten Topoi wie der Nord-Süd-Antinomie hier nicht überzeugen kann, lässt es sich doch auf die märchenhafte Liebesgeschichte von Imma Spoelmann und Prinz Klaus Heinrich in "Königliche Hoheit" anwenden. "Niemand kann in Abrede stellen", schreibt Nyemb Thomas Mann zitierend, "dass der Roman 'Menschlichkeit predigt'". Diese Menschlichkeit wird vor allem von Imma getragen, die sich nicht nur um "notleidende Mitmenschen" bemüht, sondern zudem als der Dialektik von Heimat und Fremde entronnene "Mittlerfigur" signalisiert, was eine Pluralität von Kulturen in einer Gesellschaft bewirken kann. In diesem Kapitel brilliert Bertin Nyemb - und zeigt, was die Thomas-Mann-Forschung in Zukunft mit dem Topos "Interkulturalität" an Neuem und Besonderem zu bearbeiten haben könnte.


Titelbild

Bertin Nyemb: Interkulturalität im Werk Thomas Manns. Zum Spannungsverhältnis zwischen Deutschem und Fremdem.
ibidem-Verlag, Stuttgart 2007.
233 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783898217811

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