Der diskrete Charme der Upper-class
Über Adam Thorpes Gegenwartsroman "Taktverschiebung"
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach einer Umfrage, die jüngst in englischen Blättern publiziert und auch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" besprochen wurde, halten die Briten - allen voran die Londoner - das Klassenbewusstsein nach wie vor für ein zentrales Merkmal ihrer Gesellschaft und sehen in ihm einen wichtigen Faktor ihres Selbstverständnisses. Überraschend sind diese Umfrageergebnisse nicht.
Merkwürdig und zugleich bezeichnend ist allerdings, dass dieselben Befragten sich schwer tun mit der Bezeichnung verschiedener sozialer Schichten und noch mehr Probleme damit haben, (eindeutige) klassenspezifische Erkennungsmerkmale zu benennen. Freilich gibt es da die Hocharistokratie, die auch Multimillionären wie etwa Mohamed Al Fayed den Zutritt zu ihren Kreisen - zugegeben: auch aus anderen als rein genealogischen Gründen - verwehrt. Doch scheint die aus der Umfrage sprechende Unsicherheit der Befragten nicht zuletzt den Zustand jenes schon in einem Auflösungsprozess befindlichen Klassenbewusstseins widerzuspiegeln. Zumindest wird daraus deutlich, dass heute offenbar andere Maßstäbe und Kriterien für viele Briten bei der Einschätzung und Einteilung von Klassen eine Rolle spielen als das jahrhundertelang der Fall gewesen ist.
Wenn auf Dinner- und Cocktailpartys, auf Ausstellungseröffnungen und auf Pferderennen kaum 25-jährige, bleichgesichtige Hedge-Fonds-Manager, mehr oder weniger peinliche Celebrities, Hoch-, Klein- und Kleinstadel sich mit Champagnerschalen gegenseitig zuprosten, offenbart das den tatsächlichen Zustand einer Gesellschaft, deren Klassenbewusstsein für das soziale Leben weniger Relevanz besitzt als dessen legendärer Ruf es vermuten lassen würde - da sind (und waren!) manche Kantone in der Schweiz - was die 'Durchlässigkeit' sozialer Schichten anbelangt - aristokratischer.
Diese gesellschaftliche Situation bildet den zeitgeschichtlichen Hintergrund für Adam Thorpes neuen Roman, dessen Geschichte hauptsächlich in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts in London und Estland angesiedelt ist. Nach seinem letzten, viel beachteten Buch "Die Regeln der Perspektive" (2004) mit den dort auf einen einzigen Tag, den 3. April 1945, gelegten Ereignissen - ein amerikanischer Soldat entdeckt nach dem Bombardement einer deutschen Kleinstadt in einem zerstörten Museum ein geheimnisvolles Gemälde, von dem aus die (zeitlich) verschiedenen Handlungsstränge ihren Ausgang nehmen - hat der in Paris geborene und in England aufgewachsene Thorpe nun einen Gegenwartsroman vorgelegt, der als Gattung in den Feuilletons der letzten Zeit auch von der deutschen Literatur gefordert und intensiv diskutiert wurde.
Als literarhistorische Folie liegt dem Text aber auch der klassische Ehebruchroman zugrunde: Der junge, ehedem vielversprechende, bisweilen aber auch lethargische und von (Selbst-)Zweifeln geplagte Komponist Jack Middleton lernt bei einem Aufenthalt in Estland kurz vor der Jahrtausendwende in einem Cafè die junge - und wie sich später herausstellt auch für die moderne Musik begeisterte - Kaja kennen und geht mit ihr eine kurze Liebesaffäre ein, bevor er zu seiner Frau Milly nach London zurückkehrt. Fast sechs Jahre später, und nachdem Milly bei einem Autounfall ihr Kind verloren hat, treffen sich Jack und Kaja in London wieder. Ohne zu wissen, dass aus seiner Affäre mit Kaja ein Kind hervorgegangen ist, unterrichtet Jack einen estnischen Jungen, den ihm sein Freund Howard Davenport als musikalisches Wunderkind angekündigt hat und über den er dann wiederum mit Kaja in Verbindung tritt. So wie er das eine Kind mit Milly durch einen Unfall verloren hat, gewinnt er das andere mit Kaja auf dieselbe Weise: durch einen "absoluten Unfall", wie Jack schließlich in seinem Geständnis gegenüber seiner Frau die Beziehung mit Kaja und die ungewollte Schwangerschaft bezeichnet, was allerdings nichts daran ändert, dass die Ehe mit Milly damit beendet ist.
Andere Motive des Romans sind indessen kaum, bisweilen auch intellektuell ausgesprochen wenig anregend in den Handlungsverlauf integriert oder verlieren sich im Laufe des Textes vollständig. Wenn auch zu Beginn der Affäre von Jack und Kaja immer wieder deren gemeinsame Leidenschaft für die Musik - bei Jack besonders auch für den 1935 estnischen Komponisten Arvo Pärt - betont wird, so bleiben die Dialoge erstaunlich flach, die Sätze oftmals wie isoliert voneinander gesprochen und ohne Bezug zur Musik, so dass die aufkommenden Gefühle der beiden füreinander dem Leser nicht recht nachvollziehbar erscheinen. Allzu plump ist auch der Umgang mit intertextuell gemeinten, in der Ausführung aber völlig missratenen Anspielungen, wenn etwa Jack bei der ersten Begegnung mit Kaja im Cafè ausgerechnet in einer zerfledderten Ausgabe von Leo Tolstois "Anna Karenina" liest.
Und doch liest man den Roman mit einigem Interesse. Wenn man die Liebesgeschichte mit Kaja und die Ehe mit Milly als Geschichte auch zeitgenössischer sozialer Lebensentwürfe und -bedingungen liest, zeigt sich Thorpes Talent, die verhaltensspezifischen und mentalen Folgen unterschiedlicher sozialer Herkunft und nationaler Zugehörigkeit zu beleuchten. Insofern hat Thorpe auch weniger einen Ehebruch-, als vielmehr einen modernen sozialen Roman geschrieben, in dem Jack und Kaja nicht nur als Liebespaar, sondern auch als Typen zweier Gesellschaftsmodelle fungieren, die sich mit den Lebensräumen der beiden verknüpfen. Auf der einen Seite das zwar als Schmelztiegel multiethnischer Lebensformen, gleichzeitig aber auch als Umschlag- und Schauplatz des modernen Kapitelmarktes geltende London. Auf der anderen Seite das postsowjetische Estland, das trotz seines EU-Beitrittes 2004 diese Vergangenheit - zumindest mental - noch lange nicht überwunden zu haben scheint.
Besonders überzeugend und mit den bitterbösen Seitenhieben auf die Londoner Upper-class auch überaus unterhaltsam ist das Familientableau, das Thorpe von Jacks Frau entwirft, mit dem gleichzeitig auch Londons soziale Topografie erschlossen wird. Denn mit einem Elektriker als Vater und einer Fabrikarbeiterin als Mutter stammt Jack aus einfachen Verhältnissen und wächst im Londoner Stadtteil Hayes auf, in dem sich als Siedlung der so genannten zweiten industriellen Revolution die Identität von Arbeiter und Fabrik auch architektonisch manifestiert. Als begabter Künstler schafft es Jack, in eine Familie einzuheiraten, die nicht nur in der vornehmsten Gegend Londons, nämlich erst in Richmond und dann in Hampstead, ihre Häuser besitzt, sondern auch schon mal mit dem Bentley zum Picknick fährt und sich von Neureichen schon gar nicht beeindrucken lässt, da man schließlich schon einen Vorfahren, Henri du Crane, im Gefolge des 1100 gestorbenen Königs William II. Rufus nachweisen kann. Da stört es auch nicht, wenn die Schwiegermutter dem Schwiegersohn erst ihre Aufmerksamkeit widmet, "wenn sie genug getrunken hat". Überhaupt avanciert der sagenhafte Alkoholkonsum von Millys Familie geradezu zu einer Beschäftigung, der man im Gegensatz zu den langweiligen Luxusgütern noch lange nicht überdrüssig ist, sondern die im Gegenteil und zur Not auch bis zum bitteren Ende gepflegt wird, wie es einer der Gäste auf Jack und Millys Hochzeit tut: "Zu meiner Überraschung starb nur einer der fünfhundert [Gäste] an jenem Tag. Und zwar ein zwanzig Jahre alter Verwandter, der an die Hochzeit eine nächtliche Kneipentour in London dranhängte und bei Tagesanbruch auf halben Weg den Primrose Hill hinauf an seinem eigenen Erbrochenen erstickte."
Neben Adam Thorpe und seinem neuen Roman gibt es in der englischen Literatur nur noch den kürzlich auch in Deutschland entdeckten Edward St Aubyn, dessen Romane eine ähnlich bittere Abrechnung mit einer bestenfalls noch als Abschreckung dienenden Oberschicht darstellen, die bei aller Übertreibung und auch teilweise tragischer Zustände einer gewissen Komik nicht entbehren.