Ein Emporstreben nach Dingsda

Ein Kompendium über den Sinn des Lebens

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist wohl so alt wie das Leben selbst. Und so förderten Generationen, ja ganze Heerscharen von Philosophen mal mehr, mal weniger originelle Erkenntnisse über den Zweck unseres Daseins auf Erden zutage. Dass diese elaborierten Versuche jedoch vielfach scheiterten, viele gar zum Schreien komisch waren aufgrund der Annahme, man könne einen Sinn durch logische und mathematische Formeln "berechnen", illuminiert die Erfolgsaussichten dieser Sinnsucher.

Christoph Fehige, Georg Meggle und Ulla Wessels, allesamt Philosophen an der Universität Leipzig, haben es sich zur Aufgabe gemacht, etwas Licht in das abstruse und verwirrende Dunkel von Erklärungsansätzen, Sinntheorien und Rechtfertigungslehren zu bringen und einen Sammelband mit dem schlichten Titel "Der Sinn des Lebens" herausgegeben. Ihr Ziel bei diesem Vorhaben ist klar definiert: ein Buch für alle soll es sein, vom Laien bis hin zum Berufsphilosophen. Ihr "Experiment", soll ein "radikaldemokratisches" sein: "nicht das Buch soll die Leser in Klassen teilen, sondern die Leser das Buch: in die Texte, mit denen sie etwas anfangen können, und die, mit denen nicht" getreu der Forderung, dass "uns beim Philosophieren über das Leben das Leben nicht aus den Augen gerate."

Somit erklärt sich, warum sich neben profunden wissenschaftlichen Aufsätzen von namhaften Denkern wie Camus oder Luhmann auch - sozusagen als Auflockerung des sonst allzu leicht dröge wirkenden Stoffes - populärwissenschaftliche Beiträge, Nonsenstexte oder vielfältige Zeichnungen zum Thema finden. So ist etwa ein wegweisender Abschnitt aus Douglas Adams Kult-Trilogie "Per Anhalter durch die Galaxis" aufgenommen worden, in dem der zweitleistungsfähigste Computer des Universums (nach der Erde!) auf die Frage nach dem Sinn des Lebens die Antwort "zweiundvierzig" ausspuckt und dezent darauf hinweist, dass man erst die Fragestellung optimieren sollte, um die Antwort verstehen zu können. Andere Beiträge sind von ernsterem Charakter, so zum Beispiel Fritz Mauthners Text "Sinn des Lebens", in dem er die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Sinn damit zu begründen sucht, dass schon die Frage, die älteste der Menschheit, dumm gestellt, sinnlos und damit unbeantwortbar sei. Mauthner führt aus, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei eine unbestimmte Wortfolge, eine vage "Sehnsucht nach etwas, das höher steht als das Leben. Ein Emporstreben nach Dingsda." Er erläutert, die Ausflucht eines Zweckes erkläre noch längst nicht die Frage, wer den Zweck bestimmt habe. "Die ewige Warum-Frage der Kinder und Weisen wird ihrer Lösung durch die Antwort 'Sinn' nicht um Haaresbreite nähergebracht." Mauthner eröffnet mit seinem Beitrag einen Teil des Bandes, der Autoren gewidmet ist, die die althergebrachte Frage als sinnentleert zu entlarven und konsequent als nicht beantwortbar darzustellen suchen.

Psychiater Viktor E. Frankl berichtet von Patienten aus seiner eigenen Praxis, denen er helfen konnte, einen verlorengeglaubten Lebenssinn wieder zu entdecken. So erzählt er von einer unheilbar krebskranken Frau, die er davon überzeugen konnte, dass ihr Leiden eine Prüfung Gottes und ihr Leben nicht verpfuscht oder sinnlos sei. Dadurch, dass Frankl die Frau vom Nutzen ihres Daseins, dem des Denkmals, des Vorbildes aufgrund ihres tapferen Verhaltens noch in der Krankheit, überzeugen konnte, hat er ihr das Sterben erleichtert. Die von den Autoren vorgenommene, sinnvolle Gliederung des umfangreichen Werkes in verschiedene Kategorien wie "absurd", "psychosozial" oder "analytisch" erleichtert die Lesbarkeit und erlaubt auch ein "nicht-lineares" Prozedere. Gleichzeitig erreicht die Beschäftigung mit dem Thema ein wohltuend breites Spektrum von philosophischen über populärwissenschaftlichen bis hin zu literarischen Texten. Die Bandbreite des Sinns, den die jeweiligen Autoren dem Leben zuordnen bzw. für das Leben diskutieren, ist dabei so breit gefächert und so vielseitig wie die Autoren selbst: von der Selbsterkenntnis und der Einsicht, den Menschen nicht an die Seite Gottes stellen zu dürfen (Alexander Pope) über die möglichst genaue Befolgung des Regelwerkes des "Alltags der Christen" (katholische Bischöfe Deutschlands) bis hin zu Monty Pythons ironischer Belehrung, der Sinn des Lebens bestehe darin, ein möglichst nettes Leben in Eintracht mit seinen Mitmenschen zu führen, nicht fett zu essen und ab und zu ein gutes Buch zu lesen. Erkennbar wird durch die Verschiedenartigkeit der angestrebten Lebensinhalte die Individualität des Sinngedankens.

Kurt Baier bezeichnet in seinem Beitrag "Zweck und Sinn" die Auffassung vieler Menschen, die mit dem Vormarsch des wissenschaftlichen Weltbildes in Kontrast zum christlichen eine "Sinnentleerung" des Daseins verbinden, als falsch. Baier führt aus, dass dieser vorherrschende Pessimismus auf der Tatsache beruhe, dass diese Menschen immer mindestens drei Forderungen an das Leben stellten und diese erfüllt sehen wollten: die Verständlich- bzw. Verstehbarkeit des Universums, einen "Zweck" des Daseins und die Erfüllbarkeit aller Wünsche und Hoffnungen. Baier konstatiert, dass das mittelalterliche - und teilweise noch das heutige - Christentum gerade deshalb den Anspruch vertrete, einen Sinn zu verkörpern, weil es seinem Wesen nach in der Lage sei, alle drei Bedingungen zu erfüllen. Aus diesem Grunde sei bei vielen Christen durch die abnehmende Bedeutung des allumfassenden, omnipotenten Schöpferbildes der Religion und die durch zunehmende Bedeutung des wissenschaftlichen, nicht religiös geprägten Weltbildes eine Sinnentleerung zu beobachten. Baier jedoch hält dieser Auffassung entgegen, dass ein Lebenssinn auch ohne Gültigkeit der drei genannten Bedingungen bestehen könne und dabei jeweils nur individuell gelte. Baier betrachtet die christliche Bewertung des Lebens bzw. die hier angelegten Maßstäbe für verfehlt, weil sie zu überirdisch, zu exaltiert, zu weltfremd seien. Vielmehr sei es sinnvoll, irdische, personalisierte Maßstäbe anzulegen; das wissenschaftliche Weltbild erlaube dies, indem es die Frage nach der Individualität, der Bedeutung und den Lebensumständen der jeweiligen Person selbst überlasse.

Baiers Beitrag erscheint deshalb so erwähnenswert, weil er den anthropologischen, religiösen und überindividuellen Aspekt mit dem wissenschaftlichen, individuellen Aspekt der Frage nach dem Sinn des Lebens kombiniert. Damit gibt er eine Art "Passpartout" für die inhaltliche Varianz des Bandes, die sich aus eben diesen Aspekten speist: aus Beiträgen, die einen Sinn in religiöser, weltanschaulicher und umfassender Weise suchen, sowie Texten, die ihn in der individuellen Lebenserfahrung, im Leben nach individuellen Sinnmaßstäben zu finden hoffen.

In den Band aufgenommen wurden auch höchst skurrile Beiträge wie Richard Sylvans und Nicholas Griffins Text "Dem Sinn des Lebens auf der Spur?", in dem die Autoren im Zuge einer mathematischen Vorgehensweise einen "Lebensgraphen von x auf dem Diaitaskop" definieren, der den Sinn eines Lebens erkenntlich machen soll. In Beiträgen wie diesem zeigt sich die Verbindung von Mathematik und Philosophie, die den Sinn des Lebens "berechnen" will. Neben den philosophischen und literarischen Texten erhöht die Aufnahme auch solch hochtheoretischer und mathematischer, oftmals gar hermetisch wirkender Beiträge in den Band das Spektrum und verdeutlicht dabei eindrucksvoll, wie breitgefächert und interdisziplinär sich die Menschen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befassen.

Es ist somit gerade die große thematische Bandbreite der versammelten Texte aus den verschiedensten Gattungen, Professionen und Perspektiven, die einen weit gefächerten Überblick über die uralte Beschäftigung des Menschen mit dem Sinn seines Daseins ermöglichen und den Band so abwechslungsreich gestalten. Hilfreich sind hierbei besonders die umfangreichen Stichwort-, Autoren- und Personenregister, die eine punktuelle Leseweise erlauben und schnellen Zugriff auf Informationen ermöglichen. Etwas verwirrend ist in diesem Zusammenhang nur, dass die im Sachregister angeführten Stichworte auf wirklich jede Stelle des Buches verweisen, an der das jeweilige Wort auftaucht, was zeitweilig ein zielgerechtes und schnelles Auffinden wichtiger Textpassagen eher behindert.

Zu loben ist die ausführliche Bibliographie, die dem Wunsche einer nach weiteren Beschäftigung mit dem Thema wohl nichts schuldig bleiben dürfte.

Besonders zugute zu halten ist den Autoren, dass es ihnen gelungen ist, das Thema und für eine größere Leserschaft aufzubereiten. Klar wird bei der Lektüre des Werkes vor allem eines: In unserer modernen, individualisierten, die Religion als anthropologisches, sinnspendendes Merkmal immer weiter zurückdrängenden Gesellschaft greift zunehmend auch eine Individualisierung der Lebens- und Daseinszwecke um sich. In dem Maße, in dem große und umfassende theologische wie politische Sinnvorgaben verschwinden und mit dem Vormarsch des wissenschaftlichen Weltbildes in individuelle Vorstellungen aufgefächert werden, wird sich wohl auch die vielleicht größte Frage der Menschheit, die nach ihrer Existenz und ihrem Zweck, von der metaphysischen auf eine private, zunehmend praktischer werdende Ebene verlagern.

Titelbild

Christoph Fehige / Georg Meggle: Der Sinn des Lebens. Philosophische und andere Texte.
dtv Verlag, München 2000.
576 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3423307447

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