Zurück aus der Nacht
Materialien für die Jean-Améry-Renaissance: 30 Jahre nach seinem Freitod im Jahr 1978 ist die Werkausgabe des großen Publizisten mit dem neunten und letzten Band abgeschlossen
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Grass ist in meinen Augen ein großer Schriftsteller, wahrscheinlich, neben Uwe Johnson, den ich auch sehr hoch schätze, der größte, den Deutschland hat." Diese überraschende Einschätzung äußerte der große deutsche Nachkriegspublizist Jean Améry in einem Interview Ingo Herrmanns vom 20. Juli 1978. Nachzulesen ist sie im abschließenden Materialienband der im Klett-Cotta Verlag erscheinenden Werkausgabe. Das von der Brüsseler Literaturwissenschaftlerin Irene Heidelberger-Leonard herausgegebene Buch enthält als würdiger Abschluss dieser Sammlung, die bereits eine veritable Améry-Renaissance in Deutschland angeregt hat, neben einer (nicht ganz vollständigen) Bibliografie von Gudrun Bernhardt eine Art Best-of-Potpourri zeitgenössischer Rezensionen zu Améry. Dazu kommen berühmt gewordene Gespräche sowie Porträts, Nachrufe und Aufsätze illustrer Autoren wie Imre Kertész, Primo Levi, W.G. Sebald, Helmut Heißenbüttel und Jan Philipp Reemtsma.
Dass Grass als junger Mann in der SS gekämpft hatte, wusste der jüdische Schriftsteller Améry, der unter anderem die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebte, damals nicht. Doch nicht nur das macht das zitierte Gespräch zu einem Dokument von tiefer Abgründigkeit. In jeder Zeile spürt man Amérys Misstrauen gegenüber den intellektuellen und politischen Vorgängen in Deutschland, wo der 1943 in Belgien von der SS Gefolterte nie wieder leben wollte, weil er dort auch in den 1970er-Jahren immer noch überdeutliche "Relikte des Nationalsozialismus" ausmachte.
Man merkt beim Lesen des Interviews, wie sehr sich Améry jede einzelne wohlwollende oder auch nur hoffnungsvolle Bemerkung über diese Republik abringen muss. Er verwirft und kritisiert sogar die Revolte von 1968. Bereits zehn Jahre nach den Unruhen distanziert sich Améry ausdrücklich von der Studentenbewegung - unter anderem aufgrund der Erinnerung, dass er bei einem damaligen Vortrag vor pöbelnden Studierenden feststellen musste, dass sie ihm empört "Positivismus" vorwarfen, ohne zu wissen, was darunter zu verstehen sei: "Da kam raus, sie hatten keine Ahnung, was das überhaupt ist, philosophiegeschichtlich. Sie wußten gar nichts vom Positivismus, nichts vom älteren, nichts vom neuen. Sie hatten keine Ahnung. Positivismus war irgendetwas Böses."
Auf welchen tönernen Füßen auch sein Bekenntnis zu Grass stand - einem der wenigen Zeitgenossen, die Améry in diesem Gespräch überhaupt gelten lassen möchte - wird wenig später klar, wenn man seine Bemerkung über Martin Heidegger liest, der sich in seiner so genannten Freiburger Rektoratsrede von 1933 den Nationalsozialisten offen andiente: "Vielleicht wäre ich Heideggerianer gewesen, wenn dieser elende Heidegger nicht die Rektoratsrede gehalten hätte, die es mir unmöglich gemacht hat, mich näher mit ihm einzulassen."
Nicht zuletzt ist das zu Beginn des Bands abgedruckte Interview bemerkenswert, weil es den Charakter eines Schlussworts, eines endgültigen Abschieds hat. Wenige Monate später vergiftete sich Améry mit einer Überdosis Schlaftabletten. In einem seiner letzten Briefe schrieb er am 5.10.1978 über seine "offensichtliche Überflüssigkeit" und zitiert einen Vers von Hans Magnus Enzensberger: "Was habe ich verloren in diesem Lande?"
Dass Amérys späte literarische Gehversuche gnadenlos verrissen worden waren und sein Traum, doch noch als Schriftsteller anerkannt zu werden, nicht erfüllt wurde, wird besonders seit Heidelberger-Leonards Améry-Biografie (2004) als lange vernachlässigter Auslöser für seinen Freitod angeführt. Es gab aber auch noch einen anderen Grund, der Amérys Leben nach 1945 unweigerlich bestimmt hat und der in seinem letzten Interview audrücklich benannt wird. Es ist das, was ihm unter der Folter und in den deutschen Konzentrationslagern angetan wurde: "Ich wußte nicht, wohin, wo hätte ich denn hingehen sollen? Am liebsten wäre ich nirgends mehr hingegangen", berichtet Améry über seine Situation nach der Befreiung aus Bergen-Belsen. "Man fühlte sich völlig überflüssig. Nein, das ist keine Koketterie. Man hatte einfach das Gefühl, es sei ein Schicksalsirrtum, daß man noch am Leben sei. Das muß man sich konkret vorstellen: Ich bin über Berge von Leichen, Berge von Kadavern gestiegen und dachte, wozu bist du eigentlich noch am Leben?"
Amérys Enttäuschung, im Land seiner Verfolger auch nach dem Krieg nicht als Schriftsteller wahrgenommen worden zu sein, ist von dieser Geschichte nicht zu trennen. Bei aller literarischen Kritik an epigonalen Anleihen bei kanonisierten Autoren à la Thomas Mann, wie sie in den 1970er-Jahren an Amérys letzten Romanen "Lefeu oder Der Abbruch" (1974) und "Charles Bovary, Landarzt" (1978) im Feuilleton geäußert wurde, sollte man diese Konstante nicht vergessen: Dass Amérys Schreiben wohl der über Jahrzehnte durchgehaltene (und sein ständiges Scheitern stets mit reflektierender) Versuch war, dem überwältigenden Gefühl vollkommener Sinnlosigkeit nach Auschwitz irgend etwas Bleibendes entgegenzusetzen - auch wenn der Autor genau diese Intention im zitierten Interview weit von sich weist.
Viel stärker, als die zeitgenössische Kritik es wahrgenommen hat, muss man Amérys Gesamtwerk als Literatur eines Überlebenden lesen. So sticht Wolfram Schüttes Verteidigung des "Lefeu"-Romans, die 1974 in der "Frankfurter Rundschau" erschien und im Band abgedruckt ist, mit der Wahl eines Zitats aus dem besprochenen Werk heraus, das genau in diese Richtung weist - auf das Dilemma des 'Übriggebliebenen', der den KZs 'unvorhergesehenerweise' entrann: "Es gab seither keine Jasage mehr: das Reich des Todes hatte sich aufgetan in der Welt. Man überlebt nicht. Nur Lemuren waren aus dieser Nacht aufgestiegen."
Dagegen ist man frappiert von der schrillen Unangemessenheit so mancher Formulierung anderer früher Rezensionen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die im Buch ebenfalls dokumentiert sind. Bei ihrer Lektüre wird dem heutigen Leser klar, in welcher ignoranten Zeit Améry Texte wie seinen autobiografischen Leidensbericht "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966), in dem er seine Folterung durch die SS vergegenwärtigt, veröffentlichte. Die deutsche Auseinandersetzung mit der Shoah hatte erst mit dem Auschwitz-Prozess von 1963 zaghaft eingesetzt und war deshalb noch lange nicht bei allen Literaturkritikern angekommen.
So bemüht Horst Krüger 1966 in der "Zeit" die geschichtsklitternde Formel von der "Erniedrigung des Hitlerfaschismus", durch die Améry gegangen sei - als sei der Nationalsozialismus allein durch Hitler zur Wirkung gekommen und mit dem italienischen Faschismus vergleichbar, der den "eliminatorischen Antisemitismus" (Daniel Jonah Goldhagen) der Deutschen gar nicht kannte. Améry weist einen solchen unhistorischen Vergleich bereits in seinem Interview mit Ingo Herrmann ausdrücklich zurück.
Karl Korn erwähnt 1968 in der "F.A.Z." beiläufig, Améry sei "ein Mann mit einem schweren Lebensschicksal - er ist in Belgien 1944/45 durch Zufall der Liquidation entgangen". Nicht nur, dass die Datierung falsch war: Die Folterung und die darauf folgende, jahrelange Odyssee durch deutsche KZs und Vernichtungslager schrumpft in der unscheinbaren Bemerkung zu einem dubiosen Ereignis, das uninformierte Leser auch als Folge einer Verurteilung für ein hier verschwiegenes Vergehen auffassen konnten.
Selbst wohlwollende Essays wie der Alfred Anderschs aus dem Jahr 1977 sagen hier oft mehr über ihre Verfasser aus als über Améry. Andersch, der 1946 in seiner Zeitschrift "Der Ruf" im soldatischen Jargon der Kriegszeit verharrte und auf der zweiten Tagung der Gruppe 47 Ernst Jüngers "Mamorklippen" als "Anlass zur Selbstbesinnung für goße Teile der militärischen Jugend Deutschlands" pries, kann auch in seiner späteren Würdigung Amérys offenbar nicht anders, als den Gelobten als personifizierte Waffe zu imaginieren - auch wenn er dort in einem Nebensatz die Ahnung äußert, wie unpassend der Adressat das finden könnte: "Glatt durchschlägt das Geschoß den Panzer der Systeme. Améry, der sich kaum im Bilde eines Panzerschützen wird erkennen wollen, hat dennoch etwas von David mit der Schleuder."
Die Obsession, selbst zum Projektil zu werden, stammt von Jünger. Amérys Befremden über eine solche öffentliche Ehrung dürfte groß gewesen sein. Man lese dazu nur seinen Brief an Andersch, den er bereits 1973 schrieb und der im vorletzten Band der Améry-Werkausgabe, den Gerhard Scheit herausgegeben hat, zu finden ist. Hier versucht Améry dem Schriftstellerkollegen über Seiten hinweg geradezu händeringend zu erklären, warum es ihn "verzagt und ratlos" gemacht habe, dass Andersch in der "Frankfurter Rundschau" soeben eine Rede über Jünger publiziert hatte, in der der Laudator dem Verfasser der "Stahlgewitter" allen Ernstes "Mut" zubilligte: "Ich habe keinerlei Verständnis, lieber Freund", protestiert Améry in Anspielung auf Jüngers Einsatz im Zweiten Weltkrieg, "für Leute, die durch Paris flanierten, während man uns andere, echte Widerständler und Juden [...] in Viehwaggons ersticken ließ, was vergleichsweise noch gnädig war." Falls Améry den Brief jemals abgeschickt hat - was laut Scheits Kommentar nicht mehr zu ermitteln ist - war der jüdische Autor mit diesem Hinweis bei Andersch wohl auf taube Ohren gestoßen.
Ganz andere Qualität hat da in der vorliegenden Materialien-Auswahl Henryk M. Broders Artikel über Amérys Kritik des linken Antizionismus, der 1993 in der "taz" erschien. Man sollte diesen Text jedem jungen Menschen, den man heute noch mit einem "Palituch" um den Hals antrifft, freundlich in die Hand drücken. Broder fasst hier auf seine unvergleichliche, pointierte Art die wesentlichen Essays Amérys über den Antisemitismus in der deutschen Linken zusammen. Zentral ist dabei ein - heute mehr denn je gültiger - Satz Amérys von 1973, den Broder zitiert, weil seine "Deutlichkeit nicht zu übertreffen war": "Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, daß er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewußt auf dieses Über-Auschwitz hin."
Jetzt, da das iranische Regime Mahmud Ahmadinedschads Israel offen mit dem möglichen Bau einer Atombombe bedroht, ist es besonders dieser politische Werkkomplex Amérys, der 30 Jahre nach dem Freitod des Autors wieder dringende Beachtung verdient: "Die schreckliche Wiederauferstehung der 'Judenfrage' überall in der Welt. Man versetzt dem sterbenden Esel Tritte", stellt Améry im April 1975 in einem Schreiben an den "Merkur"-Herausgeber Hans Paeschke fest. "Aus dem Anti-Zionismus erwächst die Giftblüte des Antisemitismus. Die pro-arabische Stimmungsmache hat den Konsensus: von der äussersten Linken über die bürgerliche Mitte bis zu den alten Nazis."
Wie essentiell die Sicherheit Israels für das Leben und Schreiben Amérys war, unterstreichen solche Notizen im Briefband, deren Lektüre für das kritische Verständnis vieler Dokumente auch im Materialienband unerlässlich ist. Was er in Mitteilungen an Freunde, Redakteure und Kollegen "nicht müde wird hervorzuheben: die für ihn als Juden existentielle Bedeutung der Existenz des Staates Israel, könnte gar nicht eindrucksvoller bestätigt werden als durch diese privaten Briefe", betont Scheit in seinem Nachwort. "An ihrer Aktualität hat sich 40 Jahre später nichts geändert."
Man möchte der nunmehr vollendeten Werkausgabe wünschen, dass ihre Leser diese erschreckende Wahrheit zur Kenntnis nähmen. Damit wäre der Grundstein zu einer differenzierteren Rezeption eines der streibarsten Publizisten des 20. Jahrhunderts gelegt.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien bereits in gekürzter Form in der "taz" vom 26. 4. 2008.
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