Qu'est-ce que la littérature?

In seinem Debütroman "Tauchertage" mäandert Christoph Steier zwischen existentieller Verzweiflung und pubertärer Banalität

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, die Betrachtung eines Debütromans bedarf durchaus einiger Rücksichtnahme, zumal, wenn besagter Roman von einem vergleichsweise jungen Autor verfasst wurde. In diesem Sinne sei über die stilistische Gestaltung der ersten beiden Kapitel von Christoph Steiers unlängst erschienenen Roman "Tauchertage" der Mantel des Schweigens gehüllt. Stattdessen lieber ein kurzer Blick auf den Inhalt des Buches: Die Handlung setzt am 20. Geburtstag des Protagonisten Kilian Lohmann ein, eines anscheinend ganz normalen jungen Mannes, der momentan etwas lustlos seinen Zivildienst in einem Kinderheim absolviert, sich für Philosophie und Literatur interessiert und auch schriftstellerisch tätig zu sein scheint.

Doch er hat ein - zunächst noch unspezifisches - "Geheimnis": Er leidet, wie sich bald herausstellt, an Bulimie. Um dem Drang nach exzessiver Nahrungsaufnahme mit anschließender vomitiver Erleichterung folgen zu können, versetzt er seine Freundin Sina, die den Abend mit ihm verbringen wollte, und begibt sich in ein Schnellrestaurant. Nachdem er dort von Sina zunächst gesehen und anschließend zur Rede gestellt wurde, kann sich Kilian - eigentlich ist seit dem Verzehr der gewichtigen Burger schon zu viel verdauungsintensive Zeit vergangen - in der Ruhe seiner Wohnung mehrerer von ihm so genannter "Tauchgänge" hingeben ("Der Taucher ist aber nur eine dumme Metapher. Ich weiß bis heute nicht, ob ich damit den Hunger meine oder das Kotzen.").

Während er sich übergibt, verliert Kilian das Bewusstsein und wird, dank eines Zivildienstkollegen, ins Krankenhaus eingeliefert. Dort wird sein Problem schnell diagnostiziert und er muss sich einer Therapie unterziehen, bei der er vor allem durch besonderen Zynismus glänzt. Unterdessen hat auch Kilians ehemalige Schulfreundin Charlotte von seiner Lage erfahren: Sie unterbricht ihr Studium, fährt zu Kilian und nimmt ihn mit in das Ferienhaus ihrer Familie an die Ostsee. Kilian beginnt tatsächlich, sich zu erholen, nicht zuletzt, da sich die alte Beziehung zu Charlotte wieder intensiviert. Als sie im örtlichen Nobelrestaurant auf Charlottes Studienfreund Sören und dessen Vater und Bruder treffen, wird Kilian mit jener Welt des Luxus und der gesellschaftlichen Privilegien konfrontiert, die er gleichzeitig verabscheut und bewundert: Sörens Vater möchte seine kostspielige Jacht nach Hamburg überführen und lädt Kilian und Charlotte zuvor noch zu einem Törn ein. Die Fahrt wird für den Protagonisten schließlich zum kathartischen Erlebnis und er beginnt, seine Situation, aber auch sich selbst anzunehmen: "aus dem, was bisher Kilians größter Horror gewesen war, [wurde] eine tröstende Gewissheit: Er hatte nichts. Nichts von dem, mit dem er so lange und erfolglos herumhantiert hatte, würde bleiben. Und das musste kein Nachteil sein."

"Tauchertage", so verkündet der Klappentext - mindestens eine Spur zu pathetisch - sei "Ein genau erzählter Roman über unsere Gesellschaft der feinen Unterschiede und jenen großen Hunger, der längst auch für Männer zum Alltag gehört." Doch bei aller Rücksichtnahme: "genau erzählt" ist der Roman nicht - im Gegenteil, Steier kommuniziert Stimmungen und Eindrücke seiner Figuren stets nur mittels (mal mehr, mal weniger gelungener) Vergleiche: "manchmal reichte es, wenn es um ihn herum aussah wie nach einem Kindergeburtstag halbverhungerter Waldorfschüler, die einmal im Jahr Süßigkeiten satt futtern durften", "über dem Wasser stand der Mond wie eine verkalkte Hostie", "[d]as Meer lag träge wie ein ausgetretener Teppich", "ein Polizeiwagen, von innen beschlagen wie der Bums-Oldtimer in Titanic"; den absoluten Tiefpunkt erreicht er allerdings mit "er fühlte sich befangen wie eine Friseuse in der Oper", dessen pseudo-elitärer Bildungsdünkel auch dem Protagonisten zu eigen ist, dem seine in einem Sonnenstudio arbeitende Freundin zwar ausgesprochen sexy ("fast lächerlich hübsch"), intellektuell aber doch etwas zu einfach gestrickt erscheint: "Kilian [hatte] keine Erfahrung mit Gerade-so-Mittlere-Reife-Mädchen".

Während Kilian sich für einen Zwanzigjährigen als überraschend belesen erweist und insbesondere in den Gesprächen mit seiner Therapeutin den Bildungsbürger zum Besten gibt, kehrt auch der Autor gerne den Germanisten heraus: Schon der Anfang seines Romans suggeriert sich als Kafka-Pastiche: "Als Kilian Lohmann am Morgen seines zwanzigsten Geburtstags erwachte, wäre er gerne ein Käfer gewesen", und sein Protagonist belehrt - ganz en passant - seine offenbar dem Alkohol auf ungesunde Weise zugetane Freundin Charlotte: "Gottfried Keller hatte in der Kneipe immer einen Koffer dabei. Damit die Nachbarn am Morgen denken, er komme von einer Reise."

Dass Steier dabei in puncto ,intertextuelle Verweise' noch Entwicklungspotential aufweist, zeigt die Tatsache, dass ihm der Postmodernen liebstes Spiel leider meist zum eher peinlichen namedropping gerät: Arthur Millers Handlungsreisender taucht da auf, aber auch Bertolt Brecht, der "passionierte Verwurster" Albert Ostermaier, Friedrich Nietzsche und Karl Philip Moritz. Letzterer dient Steier zu einer (nicht unbedingt fundamentalen) Reflexion über "Anton Reiser" und das Verhältnis des Autors zu seiner Romanfigur: "Na ja, ist ganz lustig. Vor allem, dass Moritz, obwohl es einigermaßen autobiographisch ist, für seinen Helden nicht viel Sympathie aufbringt. Es schimmert ständig durch, das er ziemlich wurstig ist, obwohl die anderen natürlich auch ihren Teil beitragen." Ungeachtet der Frage, wie autobiografisch "Tauchertage" eigentlich ist, erscheint Kilian Lohmann über weite Strecken als Paradebeispiel der ,Wurstigkeit'. Die Mischung aus echter existentieller Verzweiflung (eigentlich ein sicherer Garant für Lesersympathien) und intellektueller Borniertheit lässt ihn nicht gerade zur idealen Identifikationsfigur werden. Dass sich ausgerechnet sein Wunsch, doch auch Teil der jeunesse dorée sein zu können, der er in inniger Hassliebe zugetan ist, als Hauptgrund für seine Bulimie entpuppt, lässt ihn zum müden Abklatsch der angry young men der 1950er-Jahre werden: "Ich will nach oben, aber das führt nur dazu, dass ich in der Luft hänge. Und zurück in meine Kleinbürgerklasse kann ich schon gar nicht." "Grow up, man", möchte man ihm da, mit den Worten einer anderen Romanfigur, zurufen.

Doch auch der Autor selbst, so steht zu vermuten, gönnt sich - freilich durch das Sprachrohr seines Protagonisten - den einen oder anderen Seitenhieb auf den gesellschaftlichen und künstlerischen status quo: "Die Menschen glichen mehr und mehr der Mode von Esprit: bieder, halbteuer und mit einem trotzig-verspielten Hang zum Herzeigen der eigenen Durchschnittlichkeit. [...] Kein Wunder, dass die Pullis verkauften wie Bastian Sick Bücher." Gut gebrüllt, Löwe! Doch stellt sich hier - angesichts dieser offensichtlichen Deklassierung eines Autors durch einen anderen - die Frage nach den literarischen Meriten des Debüts von letzterem: "Tauchertage" weist insbesondere in den Passagen, die Kilians Obsession mit Essen und Erbrechen zum Inhalt haben, eine ungewöhnliche Intensität und Direktheit auf. Bestünde der Roman nur daraus, so wäre er, wenn nicht der ganz große, so doch zumindest ein beachtlicher literarischer Wurf geworden. Da Steier diese Episoden jedoch in eine Geschichte eingebettet hat, deren sprachlich-stilistische Gestaltung den Leser an einigen Stellen inbrünstig wünschen lässt, dass die deutsche Sprache doch niemals Adjektive besessen hätte, und die zwischen jugend- und literatursprachlichen Klischees hin und her pendelt, mag man sich fragen, ob es sich bei diesem Roman denn - anders als bei den von Steier belächelten Büchern Bastian Sicks - tatsächlich um ,E-' oder doch auch um ,U-Literatur' handelt.

Daran knüpft auch die Frage nach der potentiellen Leserschaft an: Was sich über weite Strecken wie ein Jugendroman liest, dürfte spätestens in den philosophisch-literarischen Reflexionen Kilians für das Gros der Teenager viel von seiner Attraktivität verlieren. Die ideale Leserschaft bestünde demnach wahrscheinlich aus Mittzwanzigern bis Mittdreißigern, die sich den Luxus einer prolongierten Adoleszenz leisten können und die für den spätpubertären Selbstfindungsprozess Kilians Verständnis haben. Ob sie allerdings auch für das symbolschwangere Ende Verständnis werden aufbringen können, scheint zumindest fraglich: "Er trat hinaus in den trüben Morgen, der vielleicht noch ein schöner Tag werden würde, schulterte seine Tasche und lief los. Die Landschaft war noch immer ohne Reiz und dampfte ohne großes Versprechen vor sich hin. Mehr war für den Moment nicht zu sagen. Die Worte würden kommen, doch dann wäre es vorbei."

Insgesamt ist "Tauchertage" das Werk eines jungen Autors, der bei der Wahl seines Themas ein durchaus glückliches Händchen bewiesen hat, der aber die überzeugende literarische Umsetzung seiner Stoffe noch optimieren sollte.


Titelbild

Christoph Steier: Tauchertage. Roman.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783898125406

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