Schluckebier und andere

Zum ersten Band der Georg-K.-Glaser-Werkausgabe

Von Walter FähndersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Fähnders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Er hat acht Kinder in die Welt gesetzt und alles getan, um sie wieder abflatschern zu sehen", beginnt Glasers autobiografischer Bericht "Geheimnis und Gewalt", den man ob seines Radikalismus mit Franz Jungs Autobiografie "Der Torpedokäfer" ("Der Weg nach unten") verglichen hat: Lebensbericht eines Deklassierten, der mit scharfem Blick das zweite Viertel des 20. Jahrhunderts seziert.

Die Anti-Karriere des 1910 in Guntersblum bei Worms geborenen Glaser beginnt als Fürsorgezögling, nachdem er die Familie und den prügelnden Vater verlassen und Erfahrungen als Arbeiter, auf der Walz und im Gefängnis gemacht hat. Früh versucht er sich als Autodidakt mit ersten literarischen Arbeiten. Als 22-jähriger landet er mit dem autobiografisch grundierten Roman "Schluckebier" (1932) einen beachtlichen Erfolg, der allerdings nicht von Dauer ist. Wenige Monate nach Erscheinen des Romans muss Glaser emigrieren (seine "Sämtlichen Schriften" stehen auf dem Verbots-Index der Nazis von 1938), er geht an die Saar, dann nach Frankreich, wo er untertauchen kann und wo er später französischer Staatsbürger wird. Als Soldat gerät er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Da seine Identität nicht aufgedeckt wird, kommt er davon - und geht 1945 zurück nach Paris, wo er, weiterhin literarisch tätig und als "Dinandier" (Silberschmied) arbeitend, 1996 stirbt.

Seine literarischen Anfänge kreisen um das während der Weimarer Republik heftig diskutierte und auch in der Literatur vielfach aufgenommene Skandalthema der Heimerziehung, der Fürsorgezöglinge - ein Thema, das auch Autoren wie Peter Martin Lampel ("Revolte im Erziehungshaus", 1928), Albert Lamm: ("Betrogene Jugend", 1930), Justus Ehrhardt ("Straßen ohne Ende", 1931) und andere bearbeitet haben und dem sich später Ulrike Meinhof mit ihrem Fernsehfilm "Bambule" (1970) widmen wird. Glaser hat den Vorteil - wenn es denn einer ist -, aus der Innenperspektive der Betroffenen schreiben zu können, ohne dass dabei eine krude Autobiografie entstünde. Im Gegenteil, der eher kurze Roman ist virtuos erzählt. Den ersten Teil, "Ein Junge springt ab", präsentiert ein anonymer Erzähler, wobei der junge Schluckebier im Mittelpunkt steht, im zweiten Teil, "Der liebe Gott vom Billigheim", ändert sich die Erzählhaltung, Hauptfigur ist nun das Kollektiv des "Wir", der Meute der Zöglinge mit so sprechenden Namen wie Otter, Karpfen oder Henker, die im Billigheim - Chiffre für geschlossene Anstalten und Zwangsfürsorge der Weimarer Republik - interniert sind. Um ihr Leben geht es, ihr Überleben und schließlich um eine elementare Revolte, in deren Verlauf Schluckebier von Schupos erschossen wird.

Keine rosige Perspektive also in einem Roman aus dem Umfeld der proletarisch-revolutionären Literatur, der man eher Dogmatismus, Linientreue und grenzenlosen Optimismus des positiven Helden unterstellt und die im germanistischen Betrieb seit der ,Wende' auch in der Germanistik mehr oder weniger tabuisiert wird. Keine agitatorisch unmittelbar nutzbare Perspektive also in diesem Roman, damals erschienen im kommunistischen Verlag "Agis", nachdem das Werk zuvor unter dem Titel "Paul Schluckebier macht Schluss" in 32 Fortsetzungen in der "Welt am Abend", einer ebenfalls kommunistischen Tageszeitung, abgedruckt worden war. Dass die KPD ein derartiges Werk massiv gefördert und verlegt hat, sollte zu denken geben und könnte Anlass sein, sich der proletarisch-revolutionären Literatur und Literaturpolitik dieser Zeit in ihren Konzepten und Widersprüchen, aber auch ihren Leistungen erneut anzunehmen. Es war ja nicht alles ganz schlecht, damals.

Glaser hat aus dem Themenbereich der Fürsorgeproblematik noch mehrere Erzählungen und Skizzen veröffentlicht, die als Vor- oder Begleittexte zu "Schluckebier" fungieren und die in der vorliegenden Ausgabe ebenso aufgenommen sind wie vier Erzählungen aus dem Exil. Darunter ist die 1934 in den "Neuen Deutschen Blättern" in Prag erschienene "Nummer Eins der Rotfabrik", die sehr eigenwillige Erzählung über das Scheitern kommunistischer organisierter Betriebsopposition anhand einer illegalen Betriebszeitung (eben der Nummer Eins der Rotfabrik) und über den individuellen Widerstand Einzelner.

Ein Topos in Glasers Werk ist damit angesprochen: der individuelle Widerstand, die individuelle Revolte des oder der Einzelnen, jenseits der großen Kollektive. Dass Glaser ein (noch unveröffentlichtes) Stück über den vermeintlichen oder tatsächlichen Reichstags-Brandstifter Marinus van der Lubbe geschrieben hat, liegt auf dieser Ebene wie auch die Botschaft seiner erwähnten Autobiografie. Von den "Rissen in der glatten Welt der Überzeugungen" sprach Glaser einmal in einem Interview mit dem Filmemacher Harun Farocki. Glasers Texte kreisen um das Aufbrechen der festen Formationen und Blöcke und Systeme - aber sie vergessen nie jene Parteilichkeit, die 'oben' und 'unten' sehr genau zu erkennen weiß. Im "Schluckebier" geht es immer wieder um "zweierlei Denken" - "Hier vom Hunger aus gedacht; dort vom Aufstieg aus gedacht." Darin und in einer elementaren Sprachkraft, die sich auch der Verrohung depravierter Zöglinge stellt, liegt die Stärke des Autors und die literarhistorische Bedeutung der hier gesammelten frühen Texte, von denen die meisten hier erstmals wieder nachgedruckt werden. (Von "Schluckebier" erschien 1979 im Verlag Klaus Guhl ein Reprint, zu dem Glaser seinerzeit ein neues Vorwort beigesteuert hatte.)

Der erste Band der Glaser-Ausgabe enthält insgesamt 17 Texte aus den Jahren 1931-1936, es sind wohl alle bisher bekannten Arbeiten des Autors aus dieser Zeit. Alle Texte sind reichhaltig und kundig kommentiert, im ausführlichen Nachwort skizziert der Herausgeber Lebens- und Werkgeschichte. Zum "Schluckebier"-Roman wird eingehend auch die Wirkungsgeschichte dokumentiert, so Siegfried Kracauers lange Rezension aus der "Frankfurter Zeitung", in der er überraschend à la Lukàcs argumentiert: Glaser hätte besser getan, beim Dokumentarischen zu bleiben, statt sich als Erzähler zu versuchen und beide Ebenen zu vermischen. Wir finden im Nachwort auch den glaubwürdigen Hinweis, dass Walter Benjamin 1933 von Ibiza aus in einem Brief an den Autor "Schluckebier" gelobt habe - wäre dieser Brief doch nur erhalten geblieben.

Der erste Band der auf 6 Bände berechneten "Werke" von Georg K. Glaser ist von den Texten her, die er bietet, eine Fundgrube, und die Art der Präsentation ist rundum erfreulich. Dem Herausgeber Michael Rohrwasser, den Glaser noch selbst zu seinem Nachlassverwalter eingesetzt hatte, und auch dem Verlag Stroemfeld, der seinen Roten Stern zwar aus dem Impressum, nicht aber vom Buchrücken dieses Buches entfernt hat, ist für einen hochwillkommenen Auftaktband der Glaser-Werkausgabe zu danken.


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Georg K Glaser: Werke. Band 1. Schluckebier und andere Arbeiten aus den Jahren 1931-1936.
Herausgegeben von Michael Rohrwasser.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. und Basel 2007.
374 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783878773931

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