Super-Jack rettet die Welt

Lee Childs Krimi vom Reißbrett

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Anfang an ist alles klar. Ein Mann legt an einem schönen Nachmittag von einem Parkhaus aus wahllos auf Passanten an und tötet fünf von ihnen. Ein "Sniper" offensichtlich, der um des Thrills willen tötet und dem es nicht um irgendetwas geht, außer um seine eigene Sensationsgier. Er will diesen feinen roten Dunst aus Blut und Gehirnpartikeln sehen, der sich über einem Kopf ausbreitet, der eben von einer Kugel durchlöchert worden ist. Ein Scharfschütze, der seit Jahren für diesen einen Moment geübt hat - und weil die Armee, die ihn ausgebildet hat, keine Verwendung mehr für ihn hatte, muss er eben seine Opfer unter Zivilisten suchen. Und er findet sie.

Die Spuren, die er hinterlassen hat, eine Münze mit seinem Fingerabdruck drauf, Fasern von seinem Mantel, eine Geschosshülse, Abdrücke seiner Schuhen, die Hundehaare, die sich finden, Abschabungen auf seinem Gewehr, das spezifische Geschoss, das er verwendet hat, die Art zu schießen - sie alle führen zu einem Mann namens James Barr.

Binnen 24 Stunden findet die Polizei den Täter, umstellt sein Haus, dringt ein und nimmt den Schlafenden fest. Schlaftabletten hat er genommen, er wacht erst im Gefängnis auf. Die Beweise sind erdrückend und klar. Es gibt nur einen Verdächtigen und er ist offensichtlich der Täter. Im Verhör schweigt er - auch gegenüber dem Anwalt, den seine Schwester ihm besorgt, ist er still, spätestens nachdem er merkt, dass dieser ihn gleichfalls für schuldig hält. Allerdings sagt er ihm noch, bevor er endgültig in Schweigen fällt, sie hätten den Falschen und er verlangt nach einem Jack Reacher.

Danach wird Barr ins Untersuchungsgefängnis verfrachtet, wo er in einen Streit gerät und niedergestochen wird. Er fällt ins Koma und es deutet viel darauf hin, dass er nicht überleben wird.

Jack Reacher kommt tatsächlich. Im fernen Miami sieht er im Fernsehen einen Bericht über das Massaker und den Täter und macht sich auf den Weg quer durchs Land, aber nicht, um Barr zu retten, sondern um ihn endgültig ans Messer zu liefern. Denn Barr war während seiner Militärzeit im Irak schon einmal in ein solches Massaker verwickelt. Vier Soldaten hat er damals niedergeschossen. Der Ermittler damals: Jack Reacher. Barr wurde nur deshalb nicht belangt, weil sich herausstellte, dass die vier Getöteten Plünderer waren. Um den Ruf der Armee nicht zu schädigen, wurde Barr ehrenhaft und hoch dekoriert entlassen, mit dem Versprechen an Reacher, nie wieder auch nur an eine solche Sache zu denken. Anderenfalls werde er ihn dahin befördern, wohin er als vierfacher Mörder gehört. Jetzt scheint es soweit zu sein. James Barr hat wieder getötet, dieses Mal keine marodierenden Soldaten, sondern harmlose Zivilisten.

Nun wäre ein solcher Krimi einigermaßen überflüssig, wenn es dabei bliebe. Reacher kommt nach Indiana, Barr bekommt seine Todesspritze, wir verfolgen die Verhandlung und die Hinrichtung. Moral und Recht sind Genüge getan. Aber natürlich ist an der Sache etwas faul. Barr ist nicht der Täter (auch wenn man anfänglich noch für denkbar halten wird, dass Barr mit einer Volte am Ende und nach seiner Entlastung doch als Täter entlarvt wird). Und Reacher, der anfangs alles tut, um Barr ans Messer zu liefern, wechselt nach und nach die Seiten. Anfangs sind es nur Merkwürdigkeiten, die Zahl und Qualität der Spuren, der Tatort und der Standort, von dem aus Barr geschossen hat und der für einen ausgebildeten Scharfschützen ungewöhnlich ist. Darauf folgen die Einschüchterungsversuche, mit denen Reacher von dem Fall abgebracht werden soll. Spätestens aber die Entdeckung, dass der Superschütze Barr an Parkinson leidet, macht klar, dass er tatsächlich nicht der Heckenschütze gewesen sein kann. Und nicht einmal die Opfer, die es gegeben hat, werden zufällig ausgewählt.

Child entwickelt seine Handlung schematisch wie auf einem Reißbrett. Er baut seinen Täter systematisch auf, um ebenso systematisch seine Demontage zu betreiben und neue Verdächtige ins Feld zu bringen. Mitten drin der Ermittler Jack Reacher, der - und ab hier wird es unangenehm - natürlich der beste Schütze, der beste Schläger, der beste Verfolger, der unauffindbare Verfolgte und der beste Ermittler ist. Ein Superheld eben, nur im Krimiformat und nicht in der Superheldenliga. Er ist es selbstverständlich, der den unglaublichen Komplott aufdeckt, mit dem Barr geopfert werden soll, um einen Mord aus Habgier zu vertuschen. Und selbst beim großen Showdown am Ende, in dem natürlich sehr viel und scharf geschossen wird, ist Reacher unerhört effektiv, kompetent und unverwundbar.

Das ist auf die Dauer allerdings nicht besonders amüsant und zudem zu einfach konstruiert. Eine solche Superfigur ist unwahrscheinlich, sogar für die Romanwelt, und letztlich auch für unsere Welt nicht brauchbar. Sie kann alles, kriegt alles hin und geht am Ende unberührt von allem wieder zurück in die weite Welt? Der Loner ist eine bekannte Figur seit den goldenen Zeiten des Wildwestfilms. Aber die Helden dieser Zeit waren verletzlich und verletzt und trugen ihre Narben nicht wie Trophäen. Die Welt war kompliziert, und sie haben nicht dabei mitgeholfen, sie einfacher zu machen. Anders als Reacher, dem eigentlich gar nichts abzunehmen ist, nicht einmal, dass er zu einem guten Krimi gehört.


Titelbild

Lee Child: Sniper. Ein Jack-Reacher-Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet Verlag, München 2008.
476 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783764502379

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