Eros und Politik

Mit der "Kartause von Parma" ist ein weiterer Roman von Stendhal in neuer Übersetzung zu entdecken

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von zwei Dingen war Henri-Marie Bayle sein Leben lang begeistert: von Napoleon und von Italien. Während der erste ihm und vielen anderen seiner Generation den Anbeginn einer neuen Ordnung verkörperte, in der weniger die Herkunft als vielmehr die persönliche Eignung für den gesellschaftlichen Aufstieg gelten sollte, war das zweite das Land seiner Sehnsucht, das Land, in dem er Sinnlichkeit, Leidenschaft und die Vollendung des Glücks am deutlichsten spürte. Beiden, Napoleon und Italien, hat Bayle, der einzigartige "Glücksritter und Abenteurer" (Daniel Kehlmann) der abendländischen Literatur, unter seinem künstlerischen Alter Ego Stendhal literarische Denkmäler gesetzt. In "Rot und Schwarz" zeichnete er den Weg Julien Sorels nach, der das große Versprechen Napoleons ernst nehmen und skrupellos seinen gesellschaftlichen Aufstieg erzwingen will. In der "Kartause von Parma" ist diese Zeit allerdings schon Geschichte und so kommt es, dass der französische Konsul und spätere Kaiser nur einmal von ferne durch die Schlachtszene reitet. Dies spielt jedoch nur eine untergeordnete Rolle, ist es doch Italien, Stendhals große Liebe, das in der "Kartause" im Zentrum steht. Es ist für ihn, wie Elisabeth Edl in ihrem Nachwort schreibt, "das Land der Kunst, der Oper und der Malerei, das Land der Liebe und der Leidenschaft, der Schönheit in allen Bereichen des Lebens."

Die bezaubernde Landschaft Italiens ist Schauplatz des Geschehens, nein, ist gerade erst die Bedingung für das Geschehen selbst. Nur hier kann sich die Erzählung ereignen. Dabei spannt sich der Handlungsbogen des Romans zwischen den Polen Napoleon und der titelgebenden Kartause überaus weit. Es ist durchaus sinnfällig, dass das Kloster in der Nähe von Parma überhaupt erst zum Ende auftaucht. Es ist im eigentlichen Wortsinne der Schlusspunkt der Lebensgeschichte von Fabrizio del Dongo. Dieser Adelssprössling, Kirchenfürst und Lebemann des frühen 19. Jahrhunderts, ist der Held des Romans. Seiner Lebensgeschichte folgt der Leser mit großem Interesse. In die Kartause zieht sich del Dongo zurück, als alles gescheitert ist. Denn obwohl sein Weg Fabrizio bis in die höchsten geistlichen Würden im Erzherzogtum Parma führen sollte, bleiben seine Wünsche und Träume unerfüllt. Gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses muss seine Liebe zur Bürgerlichen Clelia Conti auf die verschwiegene Dunkelheit der Nacht beschränkt bleiben. Kurze Zeit darauf wird die Geliebte am Tod des gemeinsamen Sohnes zerbrechen und dieses Ereignis als Strafe Gottes deuten. Am Ende seines Aufstiegs vom ungebildeten Naturkind zum mächtigen Erzbischof hat Fabrizio gerade durch das, was sein Emporkommen begünstigte - die Intrigen, die geheimen Absprachen, die diskreten Einflussnahmen - sein Liebstes verloren. Ohne Clelia bleibt auch Fabrizio nur noch ein Jahr zu leben.

Die "Kartause von Parma" ist neben "Rot und Schwarz" Stendhals bekanntester Roman. Er erschien 1839 und ist das beste Zeugnis seiner langjährigen Italienbegeisterung. Als Journalist und Schriftsteller lebte er viele Jahre mehr schlecht als recht unter anderem in Mailand, wurde zwischenzeitlich aufgrund seiner finanziellen Lage aber immer wieder dazu genötigt, nach Paris zurückzukehren. Schließlich wurde Stendhal 1830 Konsul im Dienste Frankreichs, doch verbrachte er die folgenden Jahre seiner kurzen Beamtenlaufbahn an der italienischen Peripherie, in Triest und Civitavecchia. So ist es gewiss nur ironisch zu nehmen, wenn er im Vorwort der Kartause eine falsche Spur legt und behauptet, er überschütte die italienischen Figuren des Romans "mit dem allermoralischsten Tadel". Nichts wäre falscher, als Stendhal an dieser Stelle ernst zu nehmen, verfolgt er doch die Lebensgeschichten seiner italienischen Helden mit der allergrößten Sympathie. Ihr Streben nach dem höchst möglichen Glück, das er schon im Reisebuch "Rom, Neapel und Florenz" (1817) als italienischen Charakterzug gelobt hat, bildet den roten Faden der Handlung und dient als Fluchtpunkt, dem alle Intrigen, Abenteuer und Risiken zu dienen haben. Rücksichtslos auf alle gesellschaftlichen und moralischen Normen versuchen Fabrizio und die Seinen, sich einen privaten Ort des Glücks zu schaffen.

Unterstützung für seinen gesellschaftlichen Aufstieg findet Fabrizio in seiner Tante Gina. Sie überzeugt ihn davon, nach dem Bruch mit seiner Familie den Weg eines Geistlichen einzuschlagen. Nicht an Fabrizios spirituellem Wohl ist ihr gelegen, sondern im Amt des Erzbischofs von Parma sieht sie die Chance, ihrem Neffen zu Macht und Ansehen zu verhelfen. Als Witwe des ehemals in Frankreichs Diensten stehenden Generals Pietranera ist ihr bewusst, dass eine militärische Karriere jenseits der Napoleonischen Armeen unmöglich ist. Doch der Weg an die Spitze der kirchlichen Hierarchie ist nicht leicht. Deshalb bedient sich Gina, die unter einem fadenscheinigen Vorwand die Herzogin Sanseverina wurde und nun über gesellschaftliche Reputation verfügt, bei vielerlei Möglichkeiten ihres Geliebten, des Grafen Mosca, dem zweitmächtigsten Mann im absolutistischen Fürstentum Parma. Doch Fabrizios Reüssieren ist alles andere als unaufhaltsam und so landet der junge Mann, der sich so bereitwillig in das höfische Spiel von Intrigen und Liebeshändel verwickeln lässt, sogar zwischenzeitlich im Verlies.

Die Verbindung von Erotik und Politik grundiert daher den Roman, der in seinen Obertönen zugleich auch ein Liebesroman über die Unmöglichkeit der Liebe ist. In einer geradezu klassisch anmutenden tragischen Konstellation zwischen Fabrizio, Clelia und der Sanseverina werden die Verschränkungen von hitzigen Leidenschaften und kühlem Machtwillen offengelegt, die das gesellschaftliche Handeln der Figuren steuern. Den Wendepunkt bedeutet die Episode im Farnese-Turm. In diesem berühmt-berüchtigten Gefängnis hoch über Parma wird Fabrizio kurzzeitigt eingekerkert, als er das Opfer von Intrigen am fürstlichen Hofe durch die gegnerischen Partei um den aufstrebenden Bürger Rassi wird. Doch hier macht er die Bekanntschaft mit der Tochter des Kerkermeisters, Clelia Conti, in die er sich ungestüm verliebt. Mit der Hilfe der Sanseverina gelingt schließlich eine abenteuerliche Flucht, die das spätere Unglück allerdings schon vorbereitet. Clelia, die Fabrizio verdächtigt, ihren Vater vergiftet zu haben, schwört, ihren Geliebten nie wiedersehen zu wollen. Und als Fabrizio ein zweites Mal verhaftet wird, ist eine Amnestie nur dadurch möglich, dass seine Tante sich dem Willen des Herrschers unterworfen hat.

Ungebändigt in seiner Fabulierlust und seiner Freude an komplizierten Verwicklungen, Intrigen und Gegenintrigen, Liebesbanden und Liebeshändeln quillt der Roman auf den ersten Blick über von sich überschlagenden Handlungssträngen, auftretenden Figuren und erzählerischen Reflexionen. Hochgradig verdichtete Passagen stehen neben scheinbar lässig dahin geworfenen Absätzen und machen das Werk in sich gebrochen und unausgewogen. Schon Honoré de Balzac wies in einer ausführlichen Rezension auf vielfältige stilistische Mängel hin, die er auf eine mögliche Nachlässigkeit Stendhals zurückführte. Denn die literarische Wirklichkeit, wie sie Stendhal in der "Kartause" einführt, ist ein Konglomerat unterschiedlichster Anleihen aus mehreren Epochen, die auch die uneinheitliche Stilistik bedingen. Den Rahmen gibt der kurze Text "Ursprung der Größe der Familie Farnese" ab, die Übertragung einer Chronik aus der Renaissance, in der sich die Grundkonstellation und viele Charakterzüge der Figuren aus der "Kartause" schon vorgebildet finden. Denn der Autor hat durchaus im Sinne, die Wucht und Leidenschaft der Renaissance mit der Zeit des Resorgimento, der italienischen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert, zu verschmelzen. Dazu kommen eine Vielzahl von literarischen Anspielungen und Motivaufnahmen. So greift Stendhal in der Beziehung von Fabrizio und Clelia das antike Märchen von Amor und Psyche auf, so dass sich bereits 35 Jahre von Friedrich Nietzsches Reflexionen der Wettstreit von dionysischem und apollinischem Prinzip im Roman in Szene gesetzt findet.

Gerade das Spiel mit Partikeln aus der Zeitgeschichte und der Kunst macht Stendhal auch für heutige Leser noch interessant. Seinem Desinteresse an einem Abbildungsrealismus ist es auch zu verdanken, dass sich die "Kartause" so wenig als Schlüsselroman über die Verhältnisse des italienischen Fürstentums Modena lesen lässt. Dort herrschte seit 1814 Francesco IV. mit Gewalt und Willkür, und seine Lebensgeschichte weist deutliche Parallelen zu der Biografie Ernestos IV. auf, wie sie im Roman geschildert wird. Balzac hatte dies in einem Brief an Stendhal kritisiert: "Sie haben einen ungeheuren Fehler begangen, indem Sie Parma hinschrieben; Sie hätten weder den Staat noch die Stadt nennen dürfen."

Doch die zeitgeschichtliche Einbettung ist nur eine Ebene unter vielen, deren ständige Reibungen die literarische Produktivität erzeugen. Das beste Beispiel für die Überlagerung mehrerer Bedeutungen ist die legendäre Waterloo-Szene. Zunächst zeigt diese den auf dem Schlachtfeld herumirrenden und recht unsoldatischen Fabrizio, aus dessen Perspektive der Krieg "von unten" erlebt und dargestellt wird. Zugleich beschreibt die Episode aber auch die Initiation des mythischen Helden, der schlagartig die Unwissenheit der Jugend hinter sich lässt und ohne Erziehung zum gebildeten jungen Mann wird. "Waterloo" wird zum Wendepunkt für Fabrizio. Inmitten des Geschehens kann er sich noch kein Bild vom Ganzen machen und der Untergang seines Idols Napoleon erscheint ihm so unwirklich wie das ganze Schlachtgeschehen. Ihm persönlich werden aber nun Möglichkeiten in die Hand gegeben, eine unübersichtlich gewordene Welt neu zu ordnen. Während der Blick auf das Ende verrät, dass Fabrizio dies nicht gelingen wird, war zumindest Stendhal in seinem Spiel mit literarischen Formen von Homer bis Johann Wolfgang von Goethe, vom Aufgreifen antiker Mythen bis zur Italienisierung des "Wilhelm Meisters", davon überzeugt, dass die Dialektik von Vervielfältigung und Vereinheitlichung der Welt in der Literatur noch gelingen kann.

Der stilistischen Unausgewogenheit, wie sie bereits von Balzac angesprochen wurde, war sich Stendhal durchaus bewusst. Bereits kurz nach Erscheinen des Romans begann er mit Umarbeitungen und nahm die späteren Anmerkungen des Kollegen sehr ernst. Doch so schnell der Roman entstand - Stendhal hat für das Diktieren, fern seiner Wahlheimat in Paris, kaum mehr als 53 Tage gebraucht - so zäh und mühsam nahmen sich die Korrekturen aus. Dass es Stendhal nicht nur auf eine spannende Handlung und eine glaubwürdige Figurenzeichnung ankam, verrät ein Briefentwurf an Balzac aus dem Jahr 1840, den er als Antwort auf dessen begeisterte Rezension konzipierte: "Sie werden mich für ein Ungeheuer an Hochmut halten, Monsieur, wenn ich Ihnen etwas von Stil erzähle. Da ist ein wenig bekannter Schriftsteller, den ich in den Himmel hebe und der auch noch für seinen Stil gelobt werden will!" In den folgenden Jahren erlahmte aber zunehmend Stendhals Eifer, so dass er immer weniger bereit war, einmal Geschriebenes zu ändern. Mit seinem Tod 1842 blieb eine "verbesserte" Ausgabe der "Kartause" schließlich unvollendet.

Es ist der Übersetzerin Elisabeth Edl hoch anzurechnen, dass sie die verschiedenen stilistischen Ebenen Stendhals beibehält und nicht, - wie frühere Ausgaben dies recht häufig taten - versucht hat, den Ton zu glätten oder anzupassen. Die unterschiedlichen Akzentsetzungen der Vorlage finden sich auch in der deutschen Neuausgabe nebeneinander. Der Nüchternheit, mit der von den Schrecknissen des Krieges berichtet wird, folgt der elegische Ton in der Beschreibung der Beziehung Fabrizios zu Clelia. Eine wichtige Änderung hat Edl allerdings vorgenommen, über die sie in einer Nachbemerkung Rechenschaft ablegt. Da es sich bei den meisten Figuren des Romans um Italiener handelt, wurden ihre Namen, die bei Stendhal noch französisch waren, konsequent italienisiert. Aus Fabrice wurde so Fabrizio. Man mag darüber steiten, ob dies eine authentische Übersetzung darf oder ob für einen besseren Lesegenuss des deutschsprachigen Publikums eine derartige "Rückübersetzung" der Vorliebe Stendhals notwendig ist, dem Roman hat es jedenfalls nicht geschadet. Die Figuren wirken in der neuen Übersetzung farbenfroher und kraftstahlender denn je und vermögen auch den Leser des 21. Jahrhunderts davon zu überzeugen, in die untergegangene Lebens- und Liebeswelt halbaufgeklärter Adeliger an der Schwelle zur Moderne einzutauchen, mit ihnen zu leiden und ihre Triumphe zu genießen.

Ergänzt wird diese Ausgabe der "Kartause" - wie die Neuübersetzung von "Rot und Schwarz", die ebenfalls Elisabeth Edl verantwortet hat -, mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat. Hier finden sich Erklärungen zu allen wichtigen Zeitgenossen, Orten und Ereignissen, die direkt oder versteckt im Roman erwähnt werden. Gelegentlich werden Darstellungen im Roman mit Passagen aus Briefen oder Tagebüchern Stendhals ergänzt oder konfrontiert, so dass zugleich ein Einblick in die Textgenese möglich ist. Dokumente aus dem Nachlass, wie die "Italienischen Manuskripte", in denen sich die Renaissance-Chroniken fanden, erlauben einen Blick auf die Vorstufen, die der Stoff genommen hat. Auch die umfangreiche Rezension Balzacs und der Briefwechsel mit Stendhal findet sich dokumentiert.


Titelbild

Stendhal: Die Kartause von Parma.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
993 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446209350

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